Teresa Pinheiro

Die Fremde als Kompass.
Südamerika in der europäischen Literatur und Wissenschaft




  • Michaela Holdenried: Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas. (Philologische Studien und Quellen 183) Berlin: Erich Schmidt 2004. 352 S. 2 Abb. Kartoniert. EUR 39,80.
    ISBN: 3-503-06199-1.


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Michaela Holdenried untersucht in dieser Studie, die auf ihre Habilitationsschrift zurückgeht, Formen der Darstellung Südamerikas in europäischen Schriften vom 16. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert. Die materialreiche und textnahe Analyse geht chronologisch vor: Ausgehend von Christoph Kolumbus’ Schriften über anthropologische Projekte der Aufklärung (Christoph Martin Wieland, Jean-Jacques Rousseau) und die spätaufklärerische Entstehung der Anthropologie (Denis Diderot, Georg Forster, Alexander von Humboldt) bis hin zu modernen und zeitgenössischen literarischen Texten (Robert Müller und Edmond Jabès) untersucht sie deren Behandlung des Gegenstands Südamerika, insbesondere seiner indianischen Bewohner.

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Theoretischer Ausgangspunkt der Studie ist die in der Alteritätsforschung der letzten Jahrzehnte geteilte Einsicht, dass die Darstellungen fremder Kulturen keine getreue Mimesis solcher Kulturen sind, sondern eher als Projektionen der Vorurteile, Ängste und Sehnsüchte der Darstellenden gesehen werden müssen. Diesem Konstruktcharakter der Fremddarstellungen wird bei Michaela Holdenried durch den Begriff der ›Repräsentationen‹ Rechnung getragen. Wie wird die Fremdartigkeit der Indianer Südamerikas im Laufe der Jahrhunderte behandelt, welche Funktionen erfüllt sie in den unterschiedlichen Identitätsentwürfen der europäischen Literatur – dies sind die leitenden Fragen, die sich durch die fünf analytischen Kapitel der Untersuchung durchziehen.

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Der cultural turn

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Alterität, Repräsentation und Südamerika haben in der geisteswissenschaftlichen Forschung Konjunktur. Seit der Etablierung der cultural studies und der postcolonial studies in den 1960er und 1970er Jahren hat sich die Tendenz zu einer thematischen und methodischen Verschiebung des Erkenntnisinteresses literatur- und geschichtswissenschaftlicher sowie ethnologischer Forschung abgezeichnet und mit der interpretativen Kulturanthropologie von Clifford Geertz und der Writing Culture-Debatte in den 80er Jahren schließlich verfestigt. Thematisch zeigte sich diese Tendenz im zunehmenden Interesse für den westlichen Umgang mit der außereuropäischen Welt, insbesondere während des Kolonialzeitalters aber auch in heutigen multikulturellen Gesellschaften. Methodisch bewirkte sie eine Verschiebung des Textbegriffs.

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Die Arbeiten von Geertz 1 und James Clifford 2 für die Ethnologie und Hayden White 3 für die Geschichtswissenschaft trugen zur Erschütterung des Selbstverständnisses beider Fächer bei, indem sie die Standortgebundenheit der Darstellungen fremder Kulturen bzw. vergangener Epochen deutlich machten (ethnographische und historische Darstellungen werden in diesem Sinne als inventions, fictions oder partial truths gesehen). Diese ›literarische Wende‹ in Ethnologie und Geschichtswissenschaft beeinflusste indirekt auch die Literaturwissenschaft, die es zunehmend als ihre Aufgabe ansah, nicht nur literarische Texte auf ihren ästhetischen Gehalt hin zu untersuchen, sondern auch potenziell alle Sorten von Texten als Zeugnisse bestimmter kultureller Praktiken heranzuziehen – der Textbegriff erweiterte sich für die kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft folgerichtig um alle kulturell relevanten (textuellen wie nicht-textuellen) Manifestationsformen.

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Holdenrieds Buch schreibt sich in diesen Kontext eines cultural turn der Geisteswissenschaften ein. Methodisch ist die Analyse überwiegend literaturwissenschaftlich geprägt, denn sie zeichnet sich durch eine filigrane philologische Arbeit an der textlichen Gestaltung der behandelten Schriften aus. Sowohl die Auswahl des Korpus als auch die Fragestellungen, die die Arbeit leiten, zeigen jedoch die kulturwissenschaftliche Orientierung der Studie:

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• Das Korpus beschränkt sich nicht auf als literarisch geltende Texte, sondern wird um wissenschaftliche Abhandlungen, Reiseberichte, Essays usw. erweitert. Insofern sind die »literarischen Repräsentationen«, wie sie im Untertitel genannt werden, im Sinne eines erweiterten Textbegriffs der Literaturwissenschaft, als schriftliche Repräsentationen zu verstehen.

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• Die Fragestellungen gehen über die literarische Ausformung der Texte hinaus, um aus dem Korpus Aspekte herauszudestillieren, die den Menschen nicht als genialen Autor, sondern als kulturelles Wesen erkennen lassen. Zu diesen Fragestellungen gehört die nach den Repräsentationen von Alterität. Indem die Darstellungen Südamerikas und seiner Bewohner in den behandelten Texten untersucht werden, macht die Studie Formen des Umgangs mit kultureller Andersartigkeit sichtbar, die als Konstante der europäischen Kultur gesehen werden können. Die Fremde gilt so als Orientierungspunkt – als ›künstlicher Horizont‹ – für die eigenen Identitätsentwürfe.

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Holdenried reflektiert selbst die theoretische und methodische Ausrichtung der Studie und verortet sie im Kontext der kulturwissenschaftlichen Wende der Literaturwissenschaft. Im ersten Kapitel –»Positionen einer kulturwissenschaftlichen Wende in der Literaturwissenschaft« – fasst die Autorin die wissenschaftstheoretische Entwicklung der Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte zusammen. Sie beschreibt den Paradigmenwechsel zu einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung, indem sie die Rehabilitierung des Kulturbegriffs nachzeichnet und darlegt, welche Impulse von der Ethnologie für eine Erneuerung der Literaturwissenschaft ausgegangen sind. Sie vermag dabei, das komplexe Forschungsfeld mit seinen divergierenden Tendenzen auf das Wesentliche zu reduzieren und so die Verortung der Studie innerhalb dieser Entwicklungen nachvollziehbar zu machen.

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Die Entdeckung des Fremden
in den ersten Amerikaberichten

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Im zweiten Kapitel –»Erste Ansichten. Retrospektiven, Topik, Perspektiven der Repräsentation des Anderen« – werden einige der frühen Repräsentationen Südamerikas behandelt. Das erste Unterkapitel widmet Holdenried der Analyse von Christoph Kolumbus’ Bordbuch von 1492 und seinem Brief an Santángel von 1493 als ersten Zeugnissen der Begegnung mit der ›Neuen Welt‹. Die herausgearbeiteten Aspekte der Darstellung der ersten Begegnung zwischen Europäern und amerikanischen Indianern (die Praktik der Benennung, die Ankunftsszenerie, die Nacktheit und der Kannibalismus der vorgefundenen Menschen, u.a.) lassen für Kolumbus’ Schriften eine asymmetrische Repräsentationsform von Eroberten und Eroberer ausmachen, die sich zwischen Reduktion und Assimilation des Fremden bewegte und den Grundstein für die späteren kolonialen Schriften und für die anschließende koloniale Eroberung legte.

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Damit bestätigt die Analyse die Ergebnisse der Forschung zu Kolumbus’ Wahrnehmung Amerikas. Sie lässt aber auch erkennen, wie komplex und widersprüchlich die ersten Repräsentationen Amerikas sind: Bei aller Emanzipation der theoretischen Neugierde, die der erste Kontakt zu Amerika förderte, bleiben die Repräsentationsformen Brasiliens an traditionellen Mustern der Fremddarstellung haften. Diese Komplexität findet sich in den drei weiteren Unterkapiteln u.a. beim Thema des Kannibalismus in späteren Augenzeugenberichten – Hans Stadens Wahrhaftige Historia (1557), Jean de Lérys Voyage fait en la terre du Brésil (1578) – und Nicht-Augenzeugenberichten – Montaignes Essays (1580) – des 16. Jahrhunderts wieder.

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Südamerika in der Anthropologie
der Aufklärung und Spätaufklärung

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Die Aufklärung entdeckte – nach einem 17. Jahrhundert, das sich für Amerika wenig interessierte, wie die Bevorzugung Asiens als exotischer Ort im barocken Roman indiziert (S. 137) – die »Neue Welt« neu. Die Autorin erklärt das Wiederaufleben Amerikas in der teleologischen Philosophie dieser Epoche damit, dass Emanzipation und Aufklärung die Kontrastfolie des Anderen in der Gestalt der ›Wilden‹ als Repräsentanten eines vorgeschichtlichen Stadiums der Menschheit benötigen (S. 140). Der besonderen Zuwendung der Aufklärung zu Südamerika trägt Holdenried Rechnung, indem sie dieser Epoche zwei Kapitel ihrer Studie widmet.

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Das dritte Kapitel –»Geheime Geschichten des Fremden. Wielands Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit als Antwort auf Rousseaus Discours sur l’inégalité« – setzt sich mit den Fremdheitskonstruktionen in Wielands Schriften auseinander. Wielands Beyträge kannten zwei Fassungen – eine von 1770 (mit der Überschrift Beyträge zur geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens) und eine von 1795 –, die in die Gründungszeit der wissenschaftlichen Anthropologie fallen. Holdenried liest die in der zweiten Fassung vorgenommenen Änderungen als einen »Kommentar dazu mit einer eigenständigen Akzentsetzung« (S. 145). Die Eigenständigkeit Wielands gegenüber der wissenschaftlichen Anthropologie sieht die Autorin in seiner ›rhetorischen Anthropologie‹: Durch den Einsatz unterschiedlicher rhetorischer Formen (vor allem der des fiktiven Dialogs) sucht Wieland die Antwort auf die in Rousseaus Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes (1755) aufgeworfenen Fragen. Wielands Beitrag zur Anthropologie sei der einer ›rhetorischen Psychoanalyse‹, einer Erkundung der menschlichen Natur, in der die Fremde als eine Analogie zur Psyche, »zum inneren Kontinent der Seele« (S. 193), fungiert.

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Von Wielands literarischer Anthropologie, in der die Fremde ausschließlich eine rhetorische Funktion erfüllt, setzen sich die anthropologischen Projekte der Spätaufklärung durch die tatsächliche Erfahrung fremder Kulturen im Rahmen von Forschungsreisen ab. Um solche Projekte geht es im vierten Kapitel –»›Trümmer der Entwürfe‹? Spätaufklärerische Erfahrungswissenschaft als Paradigmenwechsel« –, das sich u.a. mit Denis Diderots Supplément au voyage de Bouganville (1796), seiner mit Guillaume Raynal publizierten Histoire Philosophique Et Politique Des Établissemens Et Du Commerce des Européens Dans Les Deux Indes (10 Bde., 1780), Georg Forsters Reise um die Welt (1777) und Alexander von Humboldts Reisewerk auseinandersetzt.

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Würde man erwarten, dass eine Anthropologie, die auf der Grundlage der Empirie und der Wissenschaftlichkeit beruhte, sich kulturrelativistisch für das Fremde öffnen würde, so wird eine solche Erwartung für die Anthropologie der Spätaufklärung – so die These Holdenrieds – enttäuscht. Sie ist zu sehr den zeitgenössischen Entwicklungstheorien verpflichtet und sieht die ›Wilden‹ als Kinder, ihre Gesellschaften als frühere Stadien der Menschheitsentwicklung. Damit bereitet die entstehende Anthropologie zum einen den Rassentheorien des 19. Jahrhunderts den Weg, zum anderen gestattet sie die Idealisierung des ›Wilden‹ als Projektion einer Zivilisationskritik, die in Lévi-Strauss’ Tristes Tropiques einen Höhepunkt erreichte.

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Fremdheit in der modernen
und postmodernen Literatur

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Die Studie schließt mit der Analyse zweier Werke aus dem 20. Jahrhundert. Im fünften Kapitel –»Der technisierte Barbar: Magie und Mimesis im Zeichen moderner Medialität: Robert Müllers Tropen (1915)« – vergleicht die Autorin das Werk des österreichischen Autors mit Victor Segalens Verfahren des ›Universellen Exotismus‹. Sie interpretiert Müllers Exotismus als ein anti-exotistisches Manifest, eine paradoxe Inversion des Exotismus, in der durch die Projektion des Fremden auf das Eigene die Grenzen zwischen beiden Kategorien annulliert werden und ihre grundsätzliche Identität postuliert wird. Das Fremde existiert nicht mehr: Gleichgültig, wo man hinreist, man stolpert stets über sich selbst.

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Im abschließenden sechsten Kapitel –»Vom Verschwinden des Fremden« – widmet sich Holdenried Edmond Jabès’ Un Ètranger avec, sous le bras, un livre de petit format von 1989. Für sie ist Jabès, der als ägyptischer Jude im französischen Exil lebt, ein Repräsentant eines sich im ausgehenden 20. Jahrhundert etablierenden Perspektivenwechsels im Umgang mit Identität und Fremdheit. Im Zuge der postkolonialen Kritik und der Globalisierung ist die ehemalige Peripherie ins Zentrum gerückt, die Stimmen der bisher nur beobachteten Fremde werden hörbar. Damit gibt die Monoperspektive – das Eigene reist in die Fremde, beobachtet die Fremde und schreibt über die Fremde – einem Multiperspektivismus Platz, in dem das Fremde sich im Eigenen befindet und seine eigene Identität zwischen den Kulturen reflektiert. Das Fremde verschwindet nicht, doch seine Grenzen zum Eigenen verschwimmen, es wird als eine relationale Kategorie entdeckt: »Qu’est-ce que c’est qu’un étranger?« – zitiert Holdenried Jabès –»celui qui te fait croire que tu es chez toi.« (S. 302).

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Von der Entdeckung der radikalen Fremdheit Amerikas in Kolumbus’ Schriften bis zum ›Verschwinden des Fremden‹ und zur Identitätssuche des Fremden im Eigenen in der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts – zwischen fünf Jahrhunderten bewegt sich die Untersuchung auf der Suche nach dem europäischen Umgang mit Fremdheit. Freilich kann sie nicht den Anspruch der Vollständigkeit oder gar der Repräsentativität erheben und als eine Geschichte der europäischen Fremdheitskonstruktionen gelesen werden. Die exemplarischen Ausführungen öffnen dennoch Perspektiven zur Erforschung der Rolle des Fremden in der Konstruktion von Identität im westlichen Denken. Dafür kombiniert Holdenried theoretisch fundierte Fragestellungen mit einer materialreichen Arbeit an konkreten Beispielen und vereint eine detaillierte philologische Textanalyse mit kontextbezogenen Erklärungsmodellen. Die Studie löst damit das Versprechen ein, »Proben auf das Exempel einer zu erarbeitenden Kulturhermeneutik [zu] liefern« (S. 15).

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Der / Die Leser/in vermisst lediglich ein abschließendes Kapitel, das die Ebene der Textanalyse verlassen und die Ergebnisse der Untersuchung vor dem Hintergrund jener Fragestellungen zusammengefasst hätte, die in der Einleitung formuliert wurden. Diese theoretische Reflexion wäre insbesondere angesichts des von der Autorin vertretenen methodologischen Pluralismus der Studie wünschenswert, der der Heterogenität sowohl des Korpus als auch der erörterten Themen verpflichtet ist. Nicht zuletzt würde eine die einzelnen Textanalysen übergreifende Diskussion den Erkenntnisgewinn des ausgewählten Korpus für die skizzierten Fragestellungen sichtbar machen.


Dr. Teresa Pinheiro
TU Chemnitz
Reichenhainer Str. 39
DE - 09126 Chemnitz

Ins Netz gestellt am 29.07.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Prof. Dr. Gabriele Dürbeck. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Teresa Pinheiro: Die Fremde als Kompass. Südamerika in der europäischen Literatur und Wissenschaft. (Rezension über: Michaela Holdenried: Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas. Berlin: Erich Schmidt 2004.)
In: IASLonline [29.07.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1006>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures. Selected Essays. New York: Basic Books 1990 [1973]; ders.: Works and Lives. The Anthropologist as Author. Stanford: Stanford University Press 1988.   zurück
James Clifford: The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art. Cambridge, Massachusetts, London: Harvard University Press 1999 [1988]; James Clifford / George E. Marcus (Hgg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1986.   zurück
Hayden White: Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore, London: The Johns Hopkins University Press 1986 [1978].   zurück