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‘Frauenmystik’, Marienspiritualität und wirtschaftliches Streben

Neues zu den spätmittelalterlichen Texten
aus Kloster Engelthal

  • Johanna Thali: Beten, Schreiben, Lesen. Literarisches Leben und Marienspiritualität im Kloster Engelthal. (Bibliotheca Germanica 42) Tübingen: Francke 2003. 385 S. 7 s/w, 2 farb. Abb. Leinen. EUR (D) 72,00.
    ISBN: 3-7720-2033-X.
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Viten, Offenbarungsliteratur
und Marienspiritualität

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Das Thema dieser Arbeit (Diss. Freiburg / Schweiz 1998) sind die spätmittelalterlichen deutschsprachigen Viten und Offenbarungstexte aus dem Dominikanerinnenkloster Engelthal bei Nürnberg. Im Zentrum steht die Frage nach der Marienspiritualität, die sich in den untersuchten Schriften artikuliert. Ein Ziel der Studie ist es, durch die Analyse eines bestimmten Bereichs der geistlichen Literatur weiterführende Erkenntnisse zu speziellen Formen spätmittelalterlicher Frömmigkeit – nicht nur geistlich lebender Frauen – zu gewinnen. Ein anderes Ziel besteht darin, die Überlieferung und Rezeption der bis heute nicht vollständig edierten Viten- und Offenbarungsliteratur aus Engelthal zu sichten und neu zu kontextualisieren.

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Die Einleitung (S. 1–17) bietet zunächst einen Überblick über die wichtigsten Entwicklungen der Marienfrömmigkeit seit dem 12. Jahrhundert (u. a. in Hoheliedkommentaren) und leitet dann zum Marienbild in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters über. Die bisherige Forschung zeichnet sich laut Thali durch ein »weitgehende[s] Desinteresse« (S. 12) an der Marienthematik aus, obwohl diese in allen Gattungen volkssprachiger Literatur eine bedeutende Rolle spielt. Durch die Fokussierung auf die mariologischen Aspekte der Viten- und Offenbarungsliteratur sollen Inhalte und funktionale Perspektiven der Engelthaler Texte genauer als bisher bestimmt werden. Im einzelnen untersucht werden die Gnadenviten und das Engelthaler Schwesternbuch (s. u.), während das Christine Ebner-Corpus aus verschiedenen Gründen (vgl. S. 15) nicht näher einbezogen wird; es dient jedoch des öfteren als Referenz- und Vergleichsmaterial. Thalis Interesse besteht vor allem darin, »die Texte in ihrem (klösterlichen) Interessen- und Gebrauchszusammenhang [...] zu beschreiben« (ebd.), ihre Entstehungsbedingungen zu beleuchten und die an Literaturproduktion und -rezeption beteiligten Personen sowie das monastisch-literarische Beziehungsnetz darzustellen, das sich aus den Texten und ihrer Überlieferung rekonstruieren läßt.

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Engelthal

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Kapitel 2 (S. 18–45) enthält einen Überblick über die Geschichte des 1243 / 44 gegründeten Klosters sowie über das literarische Leben in Engelthal im 14. Jahrhundert. Ausdrücklich betont werden die gleichberechtigte Beteiligung von Schwestern und Seelsorgern sowie der »offizielle Charakter« (S. 29) der im Kloster entstandenen Schriften. Ein wichtiger Unterabschnitt enthält – in Abgrenzung zu einem Trend der aktuellen Forschung – »Kritisches zum Zusammenhang von Literaturproduktion und Ordensdisziplin« (S. 31–37). Hintergrund ist die Tatsache, daß Engelthal sich erfolgreich einer Reformierung widersetzt hat, man aber gleichwohl nicht von einem Verfall der Disziplin oder des klösterlichen Lebens sprechen kann. Im allgemeinen wird in der Forschung davon ausgegangen, daß die meisten literarisch aktiven Frauenklöster nach einer Phase des Verfalls erfolgreich reformiert wurden und daß auf die Reform geradezu zwangsläufig ein enormer Aufschwung literarischer und spiritueller Aktivitäten folgte. Das mag in der Tat ein häufiges Verlaufsmodell sein, jedoch stellt Engelthal ein auffälliges Gegenbeispiel dar.

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Allerdings neigt die Autorin dazu, die Kritik an der ›reformorientierten‹ Forschung ein wenig zu übertreiben, denn es geht dieser nicht darum, nichtreformierten Klöstern das literarische Interesse abzusprechen und eine Beschäftigung mit spirituellem Schriftgut allein für observante Konvente zu reklamieren. Vielmehr haben sich die heutigen Forschungsschwerpunkte gerade aus der nicht zu leugnenden Fülle von literarischer Überlieferung aus reformierten Frauenklöstern ergeben. Anders gelagerte Phänomene wie Engelthal sind zweifellos bedeutsam, bleiben aber nach jetziger Kenntnis und bis zu einem auch quantitativ überzeugenden Gegenbeweis Einzelfälle, aus denen sich kaum ableiten läßt, daß das bisherige Erkenntnisinteresse falsch ausgerichtet war.

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Unbeschadet solcher Abgrenzungsversuche kann Thali aufzeigen, daß das Schema ›Gründung – erste Blütezeit – Verfall – Reform – zweite Blütezeit‹ nicht die einzige Entwicklungsmöglichkeit für einen spätmittelalterlichen Frauenkonvent darstellt. Vielmehr artikuliert sich gerade in den literarischen Werken, die in Engelthal zum Teil lange vor den dominikanischen Reformen entstanden sind und / oder rezipiert wurden, ein reiches spirituelles Leben. Im Falle Engelthals scheint ein wichtiger Hintergrund der monialen Literaturproduktion und -rezeption in den personellen Verflechtungen der Konventualinnen mit dem Bürgertum der bedeutenden Reichsstadt Nürnberg gelegen zu haben. In diesen Zusammenhang gehört auch der interessante Schlußabschnitt dieses Kapitels, der sich den Beziehungen Engelthals zu Personen außerhalb des Klosters widmet. Diese Beziehungen verdanken sich unter anderem der besonderen Reputation der Schwester Christine Ebner, die Kaiser Karl IV. als Besucher empfangen konnte und in enger Verbindung zu Johannes Tauler stand.

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Literatur und Mystik,
Forschung und Kritik

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Es folgt ein ausführlicher Überblick über »Die Engelthaler Literatur und die Frauenmystik – Geschichte der Forschung und Kritik« (S. 46–95). Eine solch tiefgehende Besprechung ist für Thali mehr als reine Pflichtübung, denn die Geschichte der Erforschung der ›Frauenmystik‹ (zur Fragwürdigkeit des Begriffs vgl. etwa S. 91) spiegelt, weit mehr als dies bei anderen Gattungen der Fall ist, das sich wandelnde Interesse an den hier untersuchten Schriften. Dieses Interesse reicht, um nur einige Randpositionen zu nennen, von ihrer Ausbeutung als lebenspraktisch-erbauliche Florilegien in katholischen, besonders dominikanischen Arbeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts über gelegentlichen deutschnationalen Mißbrauch bis hin zu neueren feministischen Arbeiten, als deren Hauptcharakteristikum »der sorglose Umgang mit den Quellen« (S. 67) hervorgehoben wird. Auch die im deutschen Sprachraum wenig rezipierten Beiträge der nordamerikanischen Forschung werden von Thali thematisiert.

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Besprochen werden dann zahlreiche altgermanistische Arbeiten der letzten 50 Jahre, wobei deren Mängel gelegentlich deutlich, jedoch stets in sachlichem Ton markiert werden. Insgesamt gibt Thali die facettenreiche Forschungsdiskussion objektiv und verständlich wieder, stellenweise hätte man sich sogar ein deutlicheres Urteil der Autorin gewünscht. Jedenfalls können sich hier auch die in diesem Bereich weniger eingelesenen Interessenten ein Bild von den wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen und von der daraus resultierenden Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit machen. Ihre Methode erläutert Thali nochmals S. 95: Es geht um die integrale und kontextualisierte Interpretation der Texte mit besonderem Blick auf die Marienthematik, wobei bereits hier das wichtige Ergebnis angedeutet wird, daß jeder der untersuchten Texte »einer durchdachten Konzeption verpflichtet ist« (was zum Teil von der älteren Forschung bestritten wurde). Aus diesen Analysen heraus werden die Funktionen der Texte näher und teilweise neu bestimmt.

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Leben im Kloster

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Vor der Analyse der Quellen erfolgt zunächst deren Kontextualisierung in Kapitel 4 »Der klösterliche Lebenszusammenhang« (S. 96–115). Darin geht es um Bausubstanz und Ausstattung der Engelthaler Kirche, um die wirtschaftlichen Grundlagen des Konvents, den klösterlichen Alltag von Chorgebet, privater Andacht und Arbeit sowie um die ›institutionalisierte Marienverehrung‹ vor allem in Liturgie und Gebet. Dieser Abschnitt steuert weit mehr zum Ganzen bei als nur pflichtgemäß zu registrierende Rahmendaten. Im weiteren Verlauf der Studie zeigt sich nämlich, daß die Kenntnis der äußeren Bedingungen des literarischen Lebens ein wichtiger Baustein zum Verständnis der Engelthaler Schriften insgesamt ist.

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Gnadenviten und
Schwesternbücher

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Die Hauptteile der Arbeit sind die Kapitel 5–8 (S. 116–242) mit eingehenden Untersuchungen zum Textcorpus, das aus der Gnadenvita des Klosterkaplans Friedrich Sunder (gestorben 1328), der fragmentarisch erhaltenen und daher nur knapp behandelten Vita der Schwester Gertrud von Engelthal, der Gnadenvita der Nonne Adelheid Langmann (um 1375; eine wichtige Handschrift wird im Anhang S. 313–318 kodikologisch beschrieben) und aus dem sehr früh, nämlich bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstandenen Engelthaler Schwesternbuch besteht. In systematischem Vorgehen werden die Quellen jeweils auf ihre Entstehungs-, Überlieferungs- und Rezeptionsbedingungen hin untersucht, ihre Strukturen, Intentionen und Themenschwerpunkte dargestellt und die mariologischen Implikationen der Texte besonders herausgearbeitet. Am Ende der Kapitel erfolgen jeweils Überlegungen zu den denkbaren Funktionen und zum ›Sitz im Leben‹ der einzelnen Schriften.

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Dabei zeigen sich einerseits deutliche Unterschiede in den Lehrinhalten: Bei Sunder stehen Fragen der Messe im Vordergrund, die Langmann-Vita weist brautmystische Züge auf, das Schwesternbuch kann geradezu als eine Anleitung zum begnadeten Sterben gelesen werden. Andererseits ist auch die Marienverehrung in den behandelten Texten unterschiedlich ausgeprägt. Große Bedeutung kommt ihr interessanterweise bei Sunder zu, während sie bei der christologisch fokussierten Langmann eher zurückgedrängt wird; von daher bemerkt Thali in der Zusammenfassung zu Recht, »daß Marienfrömmigkeit und -verehrung keineswegs ›Frauensache‹ ist« (S. 294). Im Schwesternbuch überwiegen wiederum die lebenspraktischen Funktionen von Maria als Fürbitterin, Interzessorin und Identifikationsfigur.

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Diese vier zentralen Kapitel enthalten viele wichtige Beobachtungen und Ergebnisse, die teilweise über das engere literarhistorische Erkenntnisinteresse der Arbeit deutlich hinausweisen. Die wichtigsten Aspekte sind in Kapitel 10 »Zusammenfassung und Ausblick« (S. 286–312) präzise gebündelt. Wollte man zwei besonders anregende und weiterführende Punkte herausheben, so wäre einerseits auf Thalis Erkenntnis zu verweisen, daß die Textinhalte keine Rückschlüsse auf vermeintliche biographische Gegebenheiten erlauben, daß man also nicht »von der Darstellung Mariens und ihrer Funktionen [...] auf die tatsächliche persönliche Marienverehrung der Protagonisten schließen« darf (S. 296).

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Frappierend und in ihrer Neuartigkeit weitere Diskussionen herausfordernd sind andererseits die Ausführungen in Abschnitt 10.6 »Klösterliche Wirtschaftsführung und literarische Selbstdarstellung« (S. 308–312). Darin versucht Thali, anhand der Textinhalte und der Überlieferungsbefunde den Nachweis zu führen, daß alle Schriften aus Engelthal gewissermaßen (auch) eine ökonomische Funktion hatten. Aufgrund der exemplarischen Lebensführung der Protagonisten zeige sich der Konvent demnach historisch legitimiert als überaus effizientes geistliches Zentrum, als ideales Ziel der ›Spendierfreudigkeit‹ potentieller Mäzene, als Hochburg der Spiritualität, zu deren Freundes- und Begünstigtenkreis zu gehören für jedermann ein erstrebenswertes Ziel zu sein hatte. Die Schriften aus Engelthal können somit geradezu als Werbetexte gelesen werden. In ihnen wird dargelegt, wie und warum die Nonnen geeignet sind, anderer Leute Seelenheil in besonderer Weise zu befördern. Einige Gelegenheitseinträge aus Engelthaler Handschriften zeigen, daß dieser Aspekt im Nachwirken der Texte in der Tat eine Rolle spielte (vgl. S. 309–311).

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So eröffnet sich für die hier behandelten Schriften eine neue und meines Wissens noch nie in dieser Schärfe gesehene Deutungsperspektive. Die Engelthaler Texte wären, fernab jeder ›Mystik‹, in einem ziemlich pragmatischen (um nicht zu sagen: profanen) Gebrauchsraum zu verorten: in einer Alltagswelt, die ebenso von merkantilen Strukturen und Denkweisen geprägt war wie von geradezu heiligmäßig-frommen Lebensvollzügen, und diese beiden Pole zeigen sich in den behandelten Texten aufs engste miteinander verknüpft. Diese provokative Deutung muß der konventionellen Sicht auf ›frauenmystische‹ Texte nachgerade als anstößig erscheinen und wird Diskussionen hervorrufen. Ein solcher Gebrauchsraum wäre indes für einen bedeutenden Frauenkonvent im Umkreis der wirtschaftlich wie geistig bedeutendsten spätmittelalterlichen deutschen Stadt nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern ganz und gar einleuchtend. Thalis Theorie hat für mich daher weitaus größere Überzeugungskraft als viele der neueren, von den Überlieferungsbefunden oftmals stark abstrahierenden Interpretationsversuche.

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Die Bibliothek

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Das letzte Untersuchungskapitel gilt einem Engelthaler Bücherverzeichnis aus dem Jahr 1447 (Kap. 9, S. 243–285; Abdruck in Kap. 12, S. 319–331, wo auch ein Archivregister von 1443 ediert wird; mit zehn Abbildungen, unter anderem vom Bücherverzeichnis). Der Konvent besaß demnach 54 Bände mit deutschen Texten, eventuell vorhandene lateinische Codices und Liturgica wurden in das Verzeichnis nicht aufgenommen. Erhalten ist nur wenig (vgl. S. 246), daher muß sich die Analyse auf die knappen Titelangaben stützen, was ein gewisses Interpretationsrisiko darstellt. Denn man erfährt kaum, wie die Bücher in den Konvent kamen, ob sie dort geschrieben, geschenkt, erworben, von Schwestern mitgebracht oder sonstwie akquiriert wurden. Oft bleiben die Angaben des Bücherverzeichnisses vage und die Überlegungen dazu hypothetisch: Warum sollte der Eintrag ein tewcze bybelen »vielleicht eine[.] Historienbibel« (S. 250) bezeichnen und nicht eine Vollbibel? Der Titel Von dem sterbenten menschen kann so ziemlich jede Ars moriendi meinen, es muß sich dahinter aber nicht unbedingt ein Auszug aus Seuses Büchlein der ewigen Weisheit verbergen (vgl. S. 261 f.).

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Auch manches Interessante kommt zum Vorschein, etwa ein möglicher Beleg für ein verlorenes Frühwerk Hugos von Trimberg (vgl. S. 263). Insgesamt scheint mir die Liste aber zu knapp, um daraus weitreichende Schlüsse auf die literarische Interessenbildung der Schwestern im 15. Jahrhundert zu ziehen. Einen »eindeutigen Sammelschwerpunkt« (S. 271) im Bereich der mystischen Literatur sehe ich nicht so klar wie die Autorin. Insofern haben die abschließenden Überlegungen dieses Kapitels zu den Unterschieden zwischen den Bibliotheken reformierter und nichtreformierter Frauenklöster und zur Verbreitung religiöser Literatur in Nürnberg im 15. Jahrhundert in dem erhaltenen Material aus Engelthal nur eine schmale und kaum strapazierfähige Ausgangsbasis.

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Fazit

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Die wenigen genannten Kritikpunkte fallen angesichts der zum Teil richtungweisenden neuen Deutungen zu einem Quellencorpus, das seit langem kontrovers diskutiert wird, nicht wirklich ins Gewicht. Die Arbeit ist ertragreich, umsichtig in ihren Argumentationen, gut geschrieben und erfrischend undogmatisch. Letzteres muß hervorgehoben werden, da Texte aus mittelalterlichen Frauenklöstern bekanntlich (auch von wissenschaftlicher Seite) gern für sachfremde Diskurse instrumentalisiert wurden und werden. Wir verdanken Johanna Thalis sorgfältigen philologischen und inhaltlichen Interpretationen einen großen Erkenntnisgewinn. Weit über das Thema Engelthal hinaus werden zukünftige Diskussionen um Literatur und Leben in spätmittelalterlichen Frauenklöstern wie auch um den Begriff der ›Frauenmystik‹ an ihrem Buch nicht vorübergehen können.