Gert Hübner

Literaturgeschichte als Genesis der Neuzeit




  • Werner Röcke / Marina Münkler (Hg.): Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1) München: Carl Hanser 2004. 776 S. Gebunden. EUR 68,00.
    ISBN: 3-446-12775-5.


Inhalt

1. Das historiographische Konzept

2. Der Aufbau

3. Die Beiträge

»A. Voraussetzungen und Grundlagen«

»B. Das Alte im Neuen: Bewahrung der Tradition und Versuche des Neuanfangs«

»C. Frömmigkeit, Reformation und Konfessionalisierung«

»D. Adeliges Selbstverständnis und höfische Literatur«

»E. Städtische Kultur und Literaturproduktion«

»F. Entdeckung des Selbst und neuer Welten«

4. Unterm Strich





[1] 

Die Topik der schwierigen Darstellbarkeit des Zeitraums braucht hier nicht erneut abgearbeitet zu werden. Werner Röcke und Marina Münkler haben ein Unternehmen auf sich genommen, für das es weniger Vorbilder gibt als bei anderen literarhistorischen Epochen; und sie haben, um das meines Erachtens Wichtigste gleich an den Beginn zu stellen, einen entschiedener auswählenden Zugriff umgesetzt als ihre Vorgänger.

[2] 

Das gilt vor allem im Vergleich zu Hans Rupprichs Bänden aus den Jahren 1970 und 1973, die (auf wesentlich mehr Seiten und bekanntlich nicht immer zuverlässig) »in erster Linie das Material zu sichten und darzulegen« anstrebten, um »ein Handbuch des nötigen Realwissens zu schaffen«. 1 Ein solches Handbuch ist nicht das Ziel von Röcke und Münkler, schon weil, wie gleich der zweite Vorwortsatz kundgibt, Literaturgeschichte nicht zeige »wie es denn eigentlich gewesen ist« (S. 9). Die Namen- und Werklisten, mit denen Thomas Cramer in seiner 1990 erstmals erschienen Überblicksdarstellung ein Gegengewicht zur Konzentration auf (vergleichsweise viele) Schwerpunkte setzte, 2 haben die meisten Beiträger des Bandes ihren Lesern erspart. Das finde ich richtig; es hat aber seinen Preis: Bei Cramer erfährt man auf erheblich weniger Seiten, dass es erheblich mehr gab als das eingehender Behandelte.

[3] 

Dass die Herausgeber, entgegen dem Reihentitel (»vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart«), das 15. Jahrhundert einbezogen haben, folgt angesichts der literaturgeschichtlichen Traditionszusammenhänge einer schieren Notwendigkeit. Nicht ganz klar ist mir allerdings geworden, ob es sich beim Ergebnis um eine Geschichte der Literatur im 15. und 16. Jahrhundert handeln soll, oder ob das 15. Jahrhundert eher im Hinblick auf das 16. berücksichtigt ist.

[4] 

Was man den Herausgebern hoch anrechnen muss, ist das Bestreben, durch exemplarische Beschränkung der Materialfülle ein lesbares Buch zu schaffen. Vorwerfen ließe sich ihnen gleichwohl, dass sie auf diese Beschränkung und ihre Prinzipien nicht allzu nachdrücklich hingewiesen haben; und vorwerfen muss ich ihnen wenigstens eine schwer hinnehmbare Lücke: Dies ist die erste Literaturgeschichte beträchtlichen Umfangs, in der trotz reicher Überlieferung keine Liebeslyrik vorkommt. Das liegt daran, dass die gesamte Liederbuchtradition des 15. und 16. Jahrhunderts nicht in Erscheinung tritt. Lyrik scheint es überhaupt kaum gegeben zu haben: Neben dem Meistergesang finden nur die historischen Ereignislieder kurz Erwähnung. Weder in der Abteilung über Hof- noch in der über Stadtliteratur ist je die Rede von den Liedern, die (um bloß ein paar Namen zu nennen) Klara Hätzlerin für Jörg Roggenburg aufzeichnete, die im Königsteiner Liederbuch gesammelt sind, die Georg Forster auf die Druckerpresse brachte, die Jacob Regnart vertonte.

[5] 

Da auch in den immerhin drei Beiträgen zur lateinischen Humanistenliteratur so gut wie nichts über lateinische Gedichte deutscher Humanisten verlautet, drängt sich die Frage auf, ob Liedtext und Lesegedicht womöglich die nächstliegenden Opfer von erweitertem Literaturbegriff und kulturgeschichtlicher Wende sind. Literaturgeschichte entwerfe, weiß der zweite Vorwortsatz, »ein Bild von der Literatur einer Epoche, das vom Frage- und Interessenhorizont der Gegenwart, von den Problemstellungen und Erkenntnisinteressen der modernen Literaturwissenschaften geprägt ist« (S. 9). Falls das den Ausfall der Lyrik erklärte, wäre sie mangels gegenwärtigen Interesses an Dichtung ignoriert. In den ›Liederjahrhunderten‹ selbst herrschten offenbar andere Interessen. Vielleicht müsste man sie inzwischen qua Alterität dessen, was »denn eigentlich gewesen ist«, ins Spiel bringen.

[6] 

1. Das historiographische Konzept

[7] 

Ihr literarhistoriographisches Konzept entwickeln die Herausgeber im Vorwort. ›Sozialgeschichte der Literatur‹ soll keine Ableitung ›der Literatur‹ aus gesellschaftlichen Interessen liefern (ein Modell, das etwas zu differenzierungsunwillig mit dem Begriff ›literarische Interessenbildung‹ identifiziert wird, der einem anderen Unternehmen zugrunde liegt), 3 sondern vermittels einer »dritten Ebene« Wechselbeziehungen zwischen »literarischen Gattungen und Schreibweisen« einerseits, gesellschaftlichen Interessen, Institutionen und medialen Grundlagen andererseits erfassen (S. 12 f.).

[8] 

Die ›dritte Ebene‹ können sich die Herausgeber sowohl als Konstrukt im Sinn der Mentalitätsgeschichte oder der historischen Psychologie (kollektive Weltbilder, mentale Dispositionen) als auch im Sinn der historischen Anthropologie (konkrete Wahrnehmungs- und Deutungsverfahren) vorstellen. Zu erfassen sind hier jedenfalls Deutungsmuster »langer Dauer« (S. 13), die die Herausgeber historisch mit den bekannten Koordinaten des Neuzeit-Begriffs konkretisieren: als religiösen Wandel, adeliges Selbstverständnis im Kontext der modernen Staatsbildung in der Landesherrschaft, humanistische Gelehrtenkultur, stadtbürgerliches Selbstverständnis, Ich- und Weltentdeckung sowie als Konsequenzen der Druckkultur. 4

[9] 

Die interessen- und institutionengeschichtliche Ebene wäre dann als Funktionsgeschichte der Literatur zu konzipieren. Auch hier deuten die Herausgeber eine epochenkonstitutive Konkretisierung an: Im 15. und 16. Jahrhundert werde die soziale Einbindung der Texte durch den Buchdruck und durch die Aufweichung der performativen Situationsanbindung lockerer. »Die Literatur des Mittelalters« dagegen »findet ihren ›Sitz im Leben‹ in unterschiedlichen Gebrauchszusammenhängen, die sie prägen und ihr nur einen geringen Spielraum eigenständiger Sinnentwürfe eröffnen« (S. 16). In Erz gemeißelte Generalisierungen dieser Art kleiden die Sinnkonstruktion ›Mittelalter‹ zwar neu ein; Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide werden im Dichterhimmel gleichwohl lächeln.

[10] 

Auf der Ebene der ›literarischen Gattungen und Schreibweisen‹ soll die historische Leistung des Einzeltexts erfasst werden, die die Herausgeber an das Innovationspotential innerhalb der Textreihe knüpfen. Die Auflösung von Literaturgeschichte in Kulturgeschichte wird dergestalt durch den Rekurs auf ästhetische Qualität abgebogen. Die »Innovationskraft« avanciert folglich zur Leitkategorie; bloße Erfüllung der Gattungsvorgabe ist »leere Mechanik« (S. 17).

[11] 

Inwiefern das einen Anspruch auf historische Geltung erheben darf, diskutieren die Herausgeber allerdings nicht: Trotz des Interesses an den Phänomenen ›langer Dauer‹ bleibt die Literaturgeschichte Innovationsgeschichte, obschon damit eine prominente Differenz zwischen vormodernen und modernen Bedeutungsordnungen übersprungen ist. So wünschenswert der Rekurs auf eine ästhetische Leistung sein mag, so notwendig wäre es doch, den Begriff historisch zu konstituieren. In diesem Zusammenhang bedürfte auch der Literaturbegriff einer Thematisierung: Das Buch hat, versteht sich, einen ›weiten‹, doch ob sich auch die historische Leistung beispielsweise von Ehetraktaten nach dem Wert der Schemainnovation beurteilen lässt, bleibt offen – wie auch offen bleibt, ob und in welchem Sinn sich im 15. und 16. Jahrhundert ›Dichtung‹ im Feld ›der Literatur‹ identifizieren lässt.

[12] 

Die epochenkonstitutive Konkretisierung auf der Ebene der ›literarischen Gattungen und Schreibweisen‹ deuten die Herausgeber mit den Stichworten »Dialogisierung« und »Verwilderung« an (S. 18). Ob der Rekurs auf Bachtin allerdings tatsächlich epochenbezogen zu verstehen ist, blieb mir unklar, weil er eingangs schon, im Stil der erzenen Generalisierung und ohne Neigung zur Begriffshistorisierung, das Wesensmerkmal von Literarizität liefert (»Literatur ist dialogisch. Sie bietet nicht die Bestätigung des immer Gleichen, sondern die ›Konstruktion‹ von Sinn ›in der Differenz‹ zu überkommenen Überzeugungen und Orientierungen«, S. 11). Auch hier ist schwer zu erkennen, ob mit ›Literatur‹ alles gemeint sein soll oder nur Dichtung.

[13] 

2. Der Aufbau

[14] 

Die Anordnung der Beiträge folgt den Bestandteilen des Neuzeit-Begriffs: Unter »A. Voraussetzungen und Grundlagen« wird der Buchdruck behandelt, unter dem komplizierten Etikett »B. Das Alte im Neuen: Bewahrung der Tradition und Versuche des Neuanfangs« Humanismus und Naturphilosophie. Die weiteren Rubriken sprechen für sich: »C. Frömmigkeit, Reformation und Konfessionalisierung«, »D. Adeliges Selbstverständnis und höfische Literatur«, »E. Städtische Kultur und Literaturproduktion«, »F. Entdeckung des Selbst und neuer Welten«. In der Konsequenz ergibt sich der Eindruck, das Buch ziele auf eine literaturgeschichtliche Genesis der kopernikanischen Welt: Auswahl und Anordnung der Beiträge evozieren den Gedanken an die Meistererzählung dergestalt immerhin noch.

[15] 

Die alte Konkurrenz bildungsgeschichtlicher (Humanismus), religionsgeschichtlicher (Reformation) und sozialgeschichtlicher (Hof und Stadt) Kategorien bei der Gliederung des Epochenmaterials bleibt dabei, einschließlich der Konsequenzen, erhalten: Frömmigkeit, Humanismus und Reformation scheinen gleichsam aus den Lebensbereichen Hof und Stadt ausgegliedert; die Rücksicht auf Zusammenhänge zwischen Frömmigkeit und Humanismus oder zwischen Hof und Stadt wird nicht eben gefördert; der Prosaroman ist in eine höfische und eine städtische Schublade aufgeteilt.

[16] 

Verzichtet haben die Herausgeber auf ein Einleitungskapitel vom berüchtigten Typus ›Historischer Hintergrund‹. Das entspricht zwar dem historiographischen Konzept, das die einschlägigen Informationen in den kulturhistorischen Zusammenhang mit mentalen Dispositionen und literarischen Gattungen gestellt sehen will. Unbegründet bleibt indes, weshalb es dann doch eine Abteilung »A. Voraussetzungen und Grundlagen« gibt, in der allein der Buchdruck behandelt wird. Und, der Ehrlichkeit halber: Ich habe mich mit Wehmut an Beispiele wie Rolf Grimmingers Orientierungswissen vermittelnde Einleitung ins 18. Jahrhundert am Beginn jenes Bandes erinnert, mit dem Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1980 auf den Markt kam. 5 Ein wenig schade ist es deshalb doch, dass das Pendant zu jenem Kapitel, in dem Hans Rupprich weiland »Gegebenheiten, Geschehnisse und Zustände« des 15. und 16. Jahrhunderts umriss, »innerhalb derer die deutsche Literatur sich entfaltete«, 6 nur noch vom Buchdruck berichtet.

[17] 

3. Die Beiträge

[18] 

»A. Voraussetzungen
und Grundlagen«

[19] 

Die Abteilung besteht aus Jan-Dirk Müllers Beitrag »Formen literarischer Kommunikation im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit«, der historische Bedingungen, Entstehungsgeschichte und Konsequenzen des Buchdrucks prägnant überblickt. Die Darstellung der intensivierten Ausbreitung der Schriftlichkeit im Spätmittelalter samt ihrer Vorgeschichte seit dem 12. Jahrhundert konstituiert ein bei aller Knappheit differenziertes Bild des historischen Horizonts, vor dem die Innovationsmacht der neuen Technik in Gestalt von Pluralisierungs- und Standardisierungsprozessen ebenso eindringlich wie ausgewogen dargestellt wird. Nachdenklich könnte allerdings die Überschrift stimmen, die signalisiert, dass mit dem Buchdruck die »Formen literarischer Kommunikation« der Zeit erfasst wären.

[20] 

»B. Das Alte im Neuen:
Bewahrung der Tradition und
Versuche des Neuanfangs«

[21] 

Die Abteilung versammelt Beiträge zu Humanismus und Naturphilosophie. Eckhard Bernstein (»Vom lateinischen Frühhumanismus bis Conrad Celtis«) liefert ein konzises Bild der institutionellen Grundlagen – Vermittlung der studia humanitatis durch deutsche Studenten in Italien und italienische Gelehrte in Deutschland, Wanderhumanisten, Universitätsgelehrte, Humanisten am Hof und in der Stadt –, um dann das Profil humanistischer Aktivität am Beispiel von Conrad Celtis zu entfalten. Dessen Bildungsprogramm im nationalen Interesse steht dabei mit Recht im Vordergrund und wird, in pointierter Begriffsbildung, als Anlauf zu einer »kulturellen Revolution« (S. 76) eingeschätzt. Verständnis für die poetischen Werke zu vermitteln, scheint dagegen nicht angestrebt; die Amores etwa gelten bloß als »kuriose Mischung aus liebes- und landeskundlichen Lehrgedichten« (S. 66). Über Celtis führt der Weg zu den Sodalitäten und zur Förderung durch Maximilian, so dass sich die funktionsgeschichtliche Verbindung zwischen Bildungsidee und Institution mustergültig einstellt.

[22] 

Marina Münkler (»Volkssprachlicher Früh- und Hochhumanismus«) konzentriert den Humanismusbegriff – angesichts des Gegenstands überraschenderweise – einleitend ganz auf die Wiederbelebung des klassischen Lateins. Der ›böhmische Frühhumanismus‹ ist in der Abschnittsüberschrift mit einem Fragezeichen versehen, das nach dem Referat der bekannten Einwände in dem Maß in Vergessenheit gerät, in dem der »humanistische Interdiskurs« (S. 81) im Ackermann aufgefunden wird. Das betrifft zum einen die »rhetorische Geschliffenheit« (S. 80), für die der Humanismus als Horizont vorausgesetzt ist. Inwiefern dieser mit der ars dictandi des 14. Jahrhunderts (und ihrer mittelalterlichen Tradition) zu identifizieren ist, kommt nicht zur Sprache. Wenn sich der ›humanistische Interdiskurs‹ zum anderen im »persönlichen, innerweltlichen Glücksanspruch« äußert (S. 81), scheint mir ein anderer als der einleitend angesprochene Humanismusbegriff in Anspruch genommen. Zum selben Frühhumanismus wie der Ackermann gehört dann die ›Übersetzungsliteratur‹ (Wyle, Steinhöwel, Arigo, aber ohne Albrecht von Eyb).

[23] 

Der ›Hochhumanismus‹ besteht aus Brants Narrenschiff und Murner. Im ersten Fall findet ihn Münkler vor allem beim Autor, im Werk nur in Gestalt des »Appells an die menschliche Vernunft« (S. 93; nicht dagegen in den biblischen und antiken Exempla, die im Verein mit dem Weisheitslehrer Vergil als humanistisches Weltwissen dem Narrenschiff den Weg weisen). Wo Münkler den Hochhumanismus bei Murner sieht, ist mir nicht deutlich geworden. Am Rand notiert: Brant hätte sich gewiss darüber gewundert, seine »oft eintönigen und holprigen Verse« (S. 93) moniert statt seine (erfolgreiche) Bemühung um strenge Silbenzählung gewürdigt zu finden.

[24] 

Einen unbeabsichtigten Kommentar zu Münklers Darstellung liefert eine Bemerkung Eckhard Bernsteins im anschließenden Beitrag über »Humanistische Standeskultur« auf dem Fuß: »Mit Ausnahme von einigen am Beginn der humanistischen Bewegung stehenden Männern wie Niklas von Wyle, Albrecht von Eyb und Heinrich Steinhöwel [...] ist humanistische Literatur eine lateinische Literatur« (S. 100). Manche Leser wird die Diskrepanz verwirren.

[25] 

Der zweite Beitrag zum lateinischen Humanismus behandelt Organisationsformen des Selbst- und Gruppenbewusstseins, akzentuiert also die Verbindung zwischen mentalitäts- und gesellschaftsgeschichtlichem Aspekt. Bernstein tendiert dabei zu einer wohltuenden Demaskierung des humanistischen Gelehrtendünkels. Gegenüber gern kolportierten vornehmeren Interpretationen werden beispielsweise die Abgrenzungsfunktion des Lateinischen oder die selbstbezügliche Funktion von Briefwechseln, Freundschaften und Reisen hervorgehoben. Auch die Dichtung erscheint als »Ausweis der Zugehörigkeit zu der neuen Bildungselite« (S. 115). Der humanistische Dichtungsbegriff erhält in diesem Zusammenhang den gebührenden Raum; über die Produkte selbst erfährt man allerdings nicht sehr viel.

[26] 

Der die Abteilung abschließende Beitrag von Gerhild Scholz Williams über »Naturphilosophie« stellt das sicher befremdlichste Thema des Buchs in Gestalt einer sehr knappen ideengeschichtlichen Skizze vor. In schneller Folge werden Agrippa von Nettesheim, Paracelsus, Arkanwissen, weiße Magie, Systementwürfe des Analogiedenkens, Secreta-Literatur, Horoskope und Prognostiken abgehandelt sowie teilweise in europäische Bezüge gestellt (Pomponazzi, Bacon, Ficino, Pico). Das Thema hätte eine ausführlichere Behandlung verdient, bei der dann vielleicht auch seine Relevanz für die sonstige Literaturproduktion konkreter einsichtig zu machen gewesen wäre.

[27] 

»C. Frömmigkeit, Reformation und
Konfessionalisierung«

[28] 

Die umfangreiche Abteilung beginnt mit einem Beitrag von Werner Williams-Krapp über »Heilsverkündigung und Frömmigkeit der ›illiterati‹ im 15. Jahrhundert«. Katechetische Literatur, Lesepredigt, Legende, kontemplative Literatur (›Mystik‹) und geistliches Spiel werden hier – ebenso kundig wie überzeugend auch am konkreten Beispiel von Inhalt und Machart wichtiger Werke – in einem traditionellen sozialgeschichtlichen Sinn behandelt: Das literarische Interesse in Gestalt des Bedürfnisses nach Heilsgewissheit erklärt die Frömmigkeitsliteratur als Vermittlung richtigen Wissens und als Anleitung zu richtigem Handeln.

[29] 

Eckhard Bernsteins dritter Beitrag (»Humanistische Intelligenz und kirchliche Reform«) stellt die Humanisten mit ihrer Text- und Kirchenkritik als Wegbereiter der Reformation vor, der dann nur die jüngeren folgten. Dass die kirchenkritische »humanistische Einheitsfront« vor der Reformation auf eine »historische Realität« reagierte, »in der die Religionsausübung sich weitgehend in zu leeren Formeln erstarrten Zeremonien erschöpfte« (S. 168), kommt nach der unmittelbar zuvor beschriebenen Vielfalt der Laienfrömmigkeit etwas überraschend. Genauer behandelt werden Erasmus’ Lob der Torheit, die Dunkelmännerbriefe, die Gravamina und »Huttens Anti-Rom Kampagne« (S. 176). Mit Bernd Moeller sieht Bernstein im Streit um die Willensfreiheit nach der anfänglichen Unterstützung Luthers die Trennlinie zwischen humanistischem Menschenbild und reformatorischer Gnadenlehre; der Blick fällt in diesem Zusammenhang auf proreformatorische Humanistensatiren, Huttens Reformationspropaganda und auf Melanchthon.

[30] 

Albrecht Dröse (»Anfänge der Reformation«) präsentiert die wichtigsten Elemente des Reformdiskurses anhand der Flugschriften bis 1525 und untersucht dabei das »Wechselverhältnis literarischer, theologischer und gesellschaftlicher Prozesse« in der »Pluralität der frühreformatorischen Öffentlichkeit« (S. 198). Der diskursanalytische Zugriff ermöglicht eine zugleich textnahe und systematisierende Darstellung, die einen ebenso dichten wie instruktiven Überblick über die »Reformation als literarisch konstituiertes Phänomen« (S. 198) bietet. Wichtige Debatten werden anhand repräsentativer Texte vorgeführt, wobei der Blick auf literarische Strategien, Themen und Topoi das literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse in vorbildlicher Weise wahrt. Auf knappen Raum schreitet Dröse, ohne in einen Aufzählungsstil zu verfallen, ein breites Spektrum ab. Als Gerüst dient die Linie vom »mittelalterlichen Reformdiskurs« (S. 202, Reformatio Sigismundi) und der (bereits von Bernstein behandelten) humanistischen Kirchenkritik über Luthers Thesen und die Programmschriften von 1520 zu den Bauernkriegsflugschriften. Klug eingebaut ist die Erläuterung etlicher weiterer Traktate; eingehender vorgestellt wird etwa Murners Antwort auf Luthers Adelsschrift als Beispiel für »strukturelle Defizite der altgläubigen Polemik« (S. 215).

[31] 

Gerhard Hahn (»Literatur und Konfessionalisierung«) widmet sich der literarhistorischen Leistung Luthers, die nicht im Aufgreifen literarischer Gattungen oder in der Schöpfung eines Prosastils liege, sondern in der Vollendung der Entwicklung, »die mit der althochdeutschen Glossierung lateinischer Sätze begann« (S. 246) und Deutsch zur Sprache des Glaubens machte. Insofern sein sprachliches Wirken »psychische und soziale Wirklichkeit« schaffe, erscheine Luther als »literatursoziologischer Modellfall für das Vertrauen in die Wirkmächtigkeit der Sprache« (S. 246). Mit einer einleitend erzählten Schlüsselszene inszeniert Hahn seine Position höchst suggestiv: Luther kehrt 1522 ins chaotische Wittenberg zurück und gewinnt durch Predigen die Kontrolle zurück. Die Reformation ist das Wort, und der Literarhistoriker der Reformation behandelt demgemäß »Die wichtigsten Formen des Wortes« (S. 249): Bibelübersetzung, Predigt, Kirchenlied und Katechismen. Diese vier Bereiche sichtet im Anschluss daran auch ein kursorischer Anhang zur katholischen Reform.

[32] 

»Die radikalen Reformer« sind Gegenstand des zweiten Beitrags von Gerhild Scholz Williams, dessen Zugriff sich gegenüber dem diskursanalytischen Dröses eher ideengeschichtlich ausnimmt. Texte kommen jedenfalls nur am Rand vor, obschon die Beschäftigung auch der ›radikalen Reformer‹ nicht zuletzt in der Produktion von »Traktaten, Flugblättern, Einblattdrucken, Predigten, Briefen, Hymnen, Historien« (S. 269) bestand. Im Mittelpunkt steht zunächst die Unterscheidung der »Obrigkeitsreformation« vom Bestreben der »radikalen Reformer, die bestehende ständische Ordnung auf der Basis religiösen Denkens vollständig und nachhaltig umzugestalten« (S. 263). Eine Revue der wichtigsten Figuren in Gestalt biographischer Skizzen (Karlstadt, Müntzer, Hut, Denck, Hubmaier, Hoffmann, Rothmann, Schwenckfeldt, Franck, Servetus) ist danach vor allem daran interessiert, die ›radikalen Reformer‹ als Vorläufer moderner Ideen wie der Trennung von Kirche und Staat, der religiösen Toleranz und der Ablehnung religiöser Dogmatik zu identifizieren; die Situierung ihrer Programme im Horizont der vorangegangenen Ideengeschichte fällt etwas kursorisch aus.

[33] 

Der Beitrag »Konfessionalisierung der Reformation und Verkirchlichung des alltäglichen Lebens« von Walter Raitz, Werner Röcke und Dieter Seitz verfolgt die Literaturgeschichte des Protestantismus durch das weitere 16. Jahrhundert unter den an Elias orientierten Leitkonzepten ›Disziplinierung‹ und ›Reglementierung‹. Bei allem Verständnis für die Antipathie gegenüber der lutherischen Orthodoxie und ihrem Wirken scheinen mir die Autoren zu wenig Rücksicht auf Vorgängerzustände im 15. Jahrhundert zu nehmen und deshalb dem Eindruck zu weit nachzugeben, erst der Protestantismus habe das Leben in Städten und Territorien in Regeln gezwängt. Behandelt werden zunächst Kirchenordnungen, Hausväterliteratur, Eheordnungen und Erziehungsprogramme; in finstersten Farben erscheinen Luthers Vorstellungen von Erziehung und Schule. Da Melanchthons Bildungsprogramme nicht zur Sprache kommen, ergibt sich ein aparter Gegensatz zu Bernsteins Bericht vom historischen Sieg des Humanismus infolge der protestantischen Bildungsreformen (S. 193–197).

[34] 

Der Abschnitt »Disziplinierung im literarischen Diskurs – Grobianische Satire« (S. 308) behandelt dann Teufelstraktate und Tischzuchten; auch die grobianische Satire (Dedekinds Grobianus samt Scheidts deutscher Bearbeitung) zielt auf die Ausbildung jener »Standards der Selbstüberwachung und Selbstkontrolle [...], welche in der frühen Neuzeit und vor allem im frühmodernen Staat immer wichtiger werden« (S. 311). Erst Fischart löst sich von der alten Funktion der Satire und erkundet experimentell die Chancen einer »differenzierten Sinnlichkeit jenseits aller Zivilisationsschranken« (S. 315).

[35] 

»D. Adeliges Selbstverständnis
und höfische Literatur«

[36] 

Die Abteilung besteht aus lediglich zwei Beiträgen. Manuel Braun löst in seinem Überblick zum Prosaroman (»Historie und Historien«) den sozialgeschichtlichen Anspruch durch die Konzentration auf die Gesellschaftsentwürfe der Texte und ihre Rezeptionsgeschichte ein; Ziel ist eine funktionsgeschichtliche Perspektive. Die unkomplizierte gesellschaftliche Situierung der Texte ergibt sich aus der unterstellten Nähe städtischer Rezipientengruppen zum Hof- und Landadel.

[37] 

In poetologischer Hinsicht steht die Entwicklung eines Fiktionalitätsbewusstseins auf der Grundlage des ursprünglichen Wahrheitsanspruches im Mittelpunkt. Gefördert wird es durch die »Verwilderung« der Gattungen und durch Verfahrensweisen (Kausalität und Kontingenz), die sich als »moderne Modi historischer Darstellung« (S. 319) dem im Prinzip weiter herrschenden »mythischen Analogon« (Finalität und Funktionalität) entgegenstellen. Gerade unter dem zuletzt genannten Aspekt glänzt das neuzeitliche Innovationspotential dadurch, dass die Verhältnisse im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts nicht in Erinnerung gerufen werden.

[38] 

Gegliedert ist das Material nach Stoffen, gereiht nach zunehmender Modernität. Innerhalb der drei Unterabteilungen »Historien von der Antike« (Alexander, Troja), »Historien vom Mittelalter« (Chanson de geste, deutsche Heldenepik, höfische Romanstoffe) und »Historien von der Neuzeit« (Maximilian) sowie über ihre Abfolge hinweg zeichnet die Darstellung auch das entstehende Fiktionalitätsbewusstsein nach, dessen »Eingeständnis« (S. 358) im Fortunatus (zusammen mit der in Frage gestellten Ständegesellschaft, der Ablösung von Finalität durch Kausalität und der in Konstruiertheitssignale umschlagenden ›Verwilderung‹) am Ende steht. Der Ordnungsentwurf läßt die Textchronologie in den Hintergrund treten, was weniger vorinformierten Lesern ein hohes Maß an Orientierungswillen abverlangt. Für unglücklich halte ich die Gliederung der Stoffe nach dem Schema des modernen Geschichtsbilds, die die Differenz zwischen dem zeitgenössischen Bewusstsein verschiedener Stoffbereiche und der historisch unangemessenen modernen Epocheneinteilung überspielt.

[39] 

Der Beitrag »Höfisches Schrifttum im 15. und 16. Jahrhundert« von Helen Watanabe-O’Kelly folgt dem ›klassischen‹ sozialgeschichtlichen Darstellungsmuster »I. Gesellschaftliche Aspekte«, »II. Schriften«. Der erste Teil beschreibt den Wandel des Hofs vom Mittelpunkt des Personenverbands zum Verwaltungszentrum des institutionellen Flächenstaats auf knappem Raum im breiten Ausgriff (Hofgesellschaft, wichtige Höfe, Orientierung am italienischen Vorbild, Rolle der Frauen, Auswirkungen von Verschriftlichung und Buchdruck). Der zweite Teil behandelt Genealogien, Wappenbücher, Stammbäume, Landes- und Dynastiegeschichten, Fürstenspiegel, Turnier- und Festbücher sowie Fachprosa (mit zunehmender Tendenz zur Textaufzählung) als Legitimierungs-, Selbstbestimmungs- und Repräsentationsliteratur.

[40] 

»E. Städtische Kultur und
Literaturproduktion«

[41] 

Die Abteilung ist mit fünf Beiträgen wieder breiter besetzt. Die ersten beiden stammen von Hartmut Kugler, der unter den Überschriften »Literatur und spätmittelalterliche Stadt« und »Selbstdarstellung und Gemeinschaftsleben« zuerst das 15., danach das 16. Jahrhundert behandelt. Im Mittelpunkt stehen kulturgeschichtliche Aspekte, nämlich die (bei neuen literarischen Typen stärkere, bei älteren schwächere) Ausdifferenzierung städtischer Selbstwahrnehmung und Erfahrungshorizonte gegenüber der höfisch bestimmten volkssprachlichen Literaturtradition. Das Interesse für die »Transformationen und Interferenzen zwischen Hof- und Stadtkultur« (S. 395) lässt die Bedeutung der lateinischen Literatur für die Stadt zwar nicht aus dem Blick geraten, aber nicht im selben Maß wie die der höfischen volkssprachlichen als Bezugspunkt erscheinen – eine Folge auch der Auslagerung von Humanismus und religiöser Literatur aus der Gliederung nach Lebensräumen. Gegenstände des ersten Beitrags sind Stadtchroniken (Rothe, Zink), späte Spruchdichtung und früher Meistergesang, Städtelob, die Schedelsche Weltchronik und Ereignislieder. Der zweite Beitrag behandelt in ähnlicher Auswahl und Folge humanistische Stadt- und Landesbeschreibungen (Celtis, Münster), Städtelob (Sachs), Meistergesang, Fastnachtspiel, Meistersinger-Drama und erwähnt unter der Überschrift »Publizistik« Ereignislieder, Flugschriften und Spruchsprecherdichtung.

[42] 

Ebenfalls zwei Beiträge zur Abteilung ›Stadt‹ hat Werner Röcke verfasst. Der erste, »Literarische Gegenwelten. Fastnachtspiele und karnevaleske Festkultur«, ist erwartungsgemäß am Performativen interessiert und entsprechend kulturgeschichtlich perspektiviert. Röcke entfaltet seinen erfreulich ausgewogenen Zugriff in vorbildlich klar dargelegten Thesen mittels einer gelungenen Balance zwischen konkretem Textbezug und historischer Abstraktion: Die ›verkehrte Welt‹ der Fastnacht ist auf die Ordnung bezogen, indem sie beruhigende Wertmaßstäbe und beängstigende Bedrohungspotentiale gleichermaßen vor- und aufführt. Der Anschluss an Norbert Schindlers Standpunkt, demzufolge die Fastnacht Probleme und pragmatische Lösungsmöglichkeiten, Spannungen und ihren Ausgleich zugleich inszeniert, dabei aber rigide Grenzlinien des kommunalen Konsenses zieht, bietet Röcke die Möglichkeit, die Bachtinsche wie auch die Mosersche Vereinfachungsfalle zu meiden.

[43] 

Das Textmaterial wird sowohl in der Breite als auch in Gestalt exemplarischer Konkretisierung vorgestellt; am Ende der historischen Entwicklung stehen die Ablösung des Spiels von der institutionellen und zeitlichen Anbindung an die Fastnacht und die Einführung neuer literarischer Techniken bei Sachs und Ayrer.

[44] 

Der Zusammenhang hätte es nahegelegt, darauf gleich Röckes zweiten Beitrag »Fiktionale Literatur und literarischer Markt: Schwankliteratur und Prosaroman« folgen zu lassen. Hier steht mit den Auswirkungen des Buchdrucks der mediengeschichtliche Aspekt im Mittelpunkt. Literarische Bedarfsweckung und -lenkung im entstehenden Buchmarkt begründen als »Paradigmenwechsel der literarischen Produktion« (S. 465) einen scharf akzentuierten Gegensatz zum Manuskriptzeitalter: Die neue Verfügbarkeit des Wissens schafft einerseits ein Innovationspotential, das Röcke als »Dialogisierung« durch »Verschränkungen wissenschaftlicher und literarischer Diskurse« (S. 465) fasst; andererseits begünstigt der Markt die Stereotypisierung des ökonomisch Erfolgreichen. Manche Leser werden sich vielleicht noch erinnern, dass die ›Verwilderung‹, der eine gewisse theoretische Nähe zur ›Dialogisierung‹ innewohnt, in Brauns Beitrag als Charakteristikum des Prosaromans im 15. Jahrhundert vorgestellt wurde. Wer Diskursverschränkungen und Stereotypisierungen im Manuskriptzeitalter suchte, könnte sie als markante und einflussreiche Produktionsverfahren wohl auch dort schon finden. Röcke blickt hier aber, anders als beim Fastnachtspiel, nicht hinter das 16. Jahrhundert zurück – auch nicht beim Schwank. Die Märentradition des 15. Jahrhunderts kommt in diesem Beitrag (und damit im gesamten Buch) deshalb nicht zur Sprache.

[45] 

Zwischen Röckes Beiträgen überblickt Erika Kartschoke unter der Überschrift »Einübung in bürgerliche Alltagspraxis« den Ehediskurs in verschiedenen Gattungen (›autobiographische‹ Texte, Ehetraktate, weltliches Spiel, Roman) als Beispiel für die lehrhafte, Ordnungswissen vermittelnde Tendenz »der« Literatur im 15. und 16. Jahrhundert (S. 446). Die Darstellung konzentriert sich im wesentlichen auf den Inhalt der in den behandelten Texten vermittelten Lehre und verfährt damit eher traditionell ideengeschichtlich als diskursanalytisch. Im ersten Abschnitt –»Ehe in ›autobiographischen‹ Texten« – behandelt Kartschoke übrigens in einer trotz der Anführungszeichen merkwürdigen Zusammenstellung den Ackermann neben Burkhard Zinks Lebenserinnerungen in der Augsburger Chronik.

[46] 

»F. Entdeckung des Selbst
und neuer Welten«

[47] 

Gerhard Wolf (»Fremde Welten – bekannte Bilder: Die Reiseberichte des 15./16. Jahrhunderts«) nimmt zu Beginn der letzten Abteilung die Auseinandersetzung mit dem Anderen in Reiseberichten in den Blick. Er sucht sie im Verhältnis zwischen »Enzyklopädie« und »Empirie« zu verorten, und zwar unter der Prämisse, dass sich »literarisch-rhetorische Gestalt« und »individuelle und authentische Erfahrung« nicht gegeneinander ausspielen lassen, aber »für jeden Bericht separat« bestimmt werden sollten (S. 507).

[48] 

Ein erster Abschnitt zu den Pilgerberichten greift bis ins 14. Jahrhundert zurück, ein zweiter widmet sich den Entdeckungsberichten, ein dritter den Berichten von Bildungs- und Gesandtschaftsreisen. Durchweg akzentuiert Wolf die »Instrumentalisierung des Fremden im Hinblick auf rezeptionsästhetische Absichten« (S. 517) und setzt damit vorrangig auf die Erklärungsmacht des literarischen Interesses. Angesichts der deutschen Übersetzungen greift die Darstellung bei den Entdeckungsberichten berechtigtermaßen weit in die europäische Tradition aus. Passepartoutartig gerät das Erklärungsmodell, wenn Wolf auch Vespuccis einflussreiche Kannibalismus-Darstellung mit »literarischer Verwertbarkeit« erklärt und anfügt: Die »Frage, ob es rituelle Anthropophagie in Südamerika tatsächlich gab, muss dabei unbeantwortet bleiben« (S. 520). Unter solchen Umständen kann die ›Empirie‹ keine Chance gegen die ›Enzyklopädie‹ haben. Mit Recht betont Wolf indes das mangelnde Interesse am Unterschied zwischen eigen- und fremdkultureller Erfahrung.

[49] 

Da beim zeitgenössischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit durchaus Vergleichbares zu beobachten wäre, ist es ein wenig bedauerlich, dass an dieser Stelle kein Beitrag über Geschichtsschreibung folgt; er hätte entfalten können, weshalb es kein Pendant zum modernen Relativismus gab. Noch erkenntnisträchtiger wäre es womöglich gewesen, hätten die Herausgeber anstelle einer Abteilung, die auf den Renaissancebegriff Burckhardts anspielt (von dem sich dann gleich der erste Beitrag implizit absetzt), eine Abteilung über die zeitgenössische Wirklichkeits- und Weltdarstellung (vulgo ›historia‹) ins Auge gefasst.

[50] 

Ein Epochenbild, das dem von Wolf angedeuteten insofern entgegensteht, als es das Burckhardtsche entschlossen reanimiert, vermittelt der anschließende Beitrag Hans Rudolf Veltens über »Utopien im 16. Jahrhundert in Deutschland und Europa«. Velten erklärt die Entstehung der »Utopien« (ohne den Begriff historisch zu konstituieren) mit dem Umbruchcharakter »eines Zeitalters des radikalen gesellschaftlichen, religiösen und ökonomischen Wandels«, das durch die »Selbstbehauptung des Menschen und seinen Willen zur Weltgestaltung« (S. 529) gekennzeichnet sei. Dem radikal Neuen stehe die Beharrungskraft des – offenbar klar davon zu unterscheidenden – Alten entgegen, die die »Asynchronie« (S. 531) des Zeitalters begründe.

[51] 

Das Material wird in den drei Rubriken »humanistische Utopien«, »performative Utopien« und »Utopie-Fiktionen« vorgestellt. Allen Texten gemeinsam soll die Zentrierung auf alternative Ordnungsentwürfe sein (Freiheit, Arbeit, Besitz, Herrschaft, Erziehung, Frieden); alle haben »Bezüge zu mythischen Elementen wie dem Traum vom Goldenen Zeitalter, den Hoffnungen auf ein tausendjähriges Reich, oder Vorstellungen vom irdischen Paradies« (S. 534). Die ideengeschichtliche Situierung bleibt dergestalt vage und setzt dem Zugriff anhand moderner Kategorien kaum Grenzen.

[52] 

In die erste Rubrik fallen Morus (der unter Ausblendung der bedenklicheren Aspekte mit Sympathie behandelt wird) und seine Nachfolger (bei denen zum Teil eher die ordnungsfanatischen Versuchungen in den Vordergrund rücken, die alle auf Morus zurückgehen). Eine aparte Begriffsbildung konstituiert die zweite Rubrik, die Texte versammelt, die Wunschzeiten anstelle von Wunschräumen thematisieren und »in hohem Maße der mündlich-körperlichen Kultur verhaftet« sein sollen (S. 545). Behandelt werden hier der Pfeifer von Niklashausen, die Reformatio Sigismundi, der Oberrheinische Revolutionär, Thomas Müntzer, Eberlin von Günzburg, Michael Gaismair und Hans Hergot. Angesichts der heterogenen Reihe begreift man, weshalb eine historische Begriffsklärung von Anfang an verweigert wird (»Utopien sind demnach ein schwer zu definierender Begriff, der die Fachgrenzen der Wissenschaften überschreitet«, S. 530). Zur erheblich überzeugender ausgearbeiteten dritten Rubrik gehören anarchische Gegenbilder der Ordnung und Parodien utopischer Entwürfe (Schlaraffenland-Texte, Rabelais’ Abtei Thelema im Gargantua und das Lalebuch).

[53] 

Auch Horst Wenzel setzt in seinem Beitrag zur »Autobiographie« auf den Innovationscharakter der Epoche. Der erste Satz liefert ihr ein Mittelalter als Folie, das an geistesgeschichtlichen Generalisierungsmut erinnert: »Für die mittelalterliche Welt- und Lebensdeutung ist ›die Realität‹ der Lebensformen nur im Rahmen der universalen Ordnung zu begreifen, die in Gott begründet liegt« (S. 572). Dass die vorher demzufolge unmögliche »Aneignung des eigenen gesellschaftlichen Seins« in spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen selbstbiographischen Texten der »Wahrnehmung einer ichfremden ›Welt‹ mit ihren Menschen« in den Reisebeschreibungen entspreche (S. 573), kommt nach Wolfs Beitrag ein wenig überraschend. Wenzel behandelt dann mit dem vorrangigen Interesse für individuelle, subjektiv perspektivierte Rekonstruktion von Lebenserfahrung der Reihe nach Ulman Stromer, Burkhard Zink, Helene Kottannerin, Lucas Rem, Thomas und Felix Platter sowie Hans von Schweinichen.

[54] 

Nicht erschlossen hat sich mir, was Knut Kiesants Beitrag »Kalenderliteratur und Sprichwortsammlungen« mit der »Entdeckung des Selbst und neuer Welten« zu tun hat. Kiesant behandelt in einem ersten Teil Kalendertypen,
-inhalte und -funktionen im Überblick und beschreibt dergestalt vielgelesene Gebrauchsliteratur an der Schwelle zwischen Wissenschaft und Alltag. Der zweite Teil beschäftigt sich mit den humanistischen Sprichwortsammlungen und zielt darauf ab, das Sprichwort als Vehikel des humanistischen Interesses für die Volkssprache auszuweisen.

[55] 

4. Unterm Strich

[56] 

Dass nicht alle Beiträge mit gleicher Konsequenz dem Programm der Herausgeber folgen und die Wechselbeziehungen zwischen Deutungsmustern, Institutionen und Gattungen systematisch in den Mittelpunkt stellen, liegt in manchen Fällen am Material und ist dann eher ein Gewinn. Als Modellfälle für die (unterschiedlich akzentuierte) Programmumsetzung wird man vor allem Bernstein, Braun und Röcke nennen dürfen. Die eher traditionellen sozialgeschichtlichen Zugriffe bei Williams-Krapp und Watanabe-O’Kelly scheinen mir indes ihrem Gegenstand ebenso adäquat wie Dröses dezidiert diskursanalytische Aufarbeitung der Flugschriften der Reformationszeit.

[57] 

Dass die Beiträge nicht nur unterschiedliche, sondern gelegentlich durchaus widersprüchliche Bilder der Epoche zeichnen, entspricht dem wissenschaftlichen Stand der Dinge. Wenn die Herausgeber auf dieser grundsätzlichen Ebene keine Vereinheitlichung angestrebt haben, ist das ein Gewinn an Ehrlichkeit. Eine konkretere Präsentation dieses Zustands und seiner zentralen Aspekte im Vorwort wäre indes von Vorteil gewesen.

[58] 

Anders verhält es sich mit den auf einer weniger globalen Ebene angesiedelten, aber immer noch grundsätzlichen Differenzen zwischen einzelnen Beiträgen. Wenn dem Überblick über humanistische Literatur auf Deutsch die Bemerkung folgt, dass es außer den frühen Übersetzungen keine humanistische Literatur auf Deutsch gab; wenn unmittelbar nach der dargestellten Vielfalt der vorreformatorischen Frömmigkeit die protestantisch-humanistische Legende vom erstarrten Katholizismus rezitiert wird; wenn die protestantischen Schulordnungen einmal der humanistischen Kulturrevolution zum Sieg verhelfen und ein anderes Mal konzentrationslagerähnliche Zustände herbeiführen, dann fühlt man sich von den Herausgebern doch ein wenig alleingelassen mit den vorgesetzten Nachrichten.

[59] 

Abgesehen vom Ausfall der Lyrik halte ich zwei Entscheidungen der Herausgeber angesichts der Umsetzung in den entsprechenden Beiträgen für unglücklich:

[60] 

1. Wer einem prägnanten, auf die studia humanitatis gegründeten Humanismusbegriff folgt, muss meines Erachtens bereit sein, mit der Legende von humanistischer Literatur auf Deutsch vor dem 17. Jahrhundert (jenseits der Übersetzungen) aufzuräumen. Wer humanistische Literatur auf Deutsch im 15. und 16. Jahrhundert haben will, muss sich um einen entschieden weiteren Humanismusbegriff bemühen, diesen dann aber historisch hinreichend begründen. Beides findet in diesem Buch nicht statt, weshalb die Chance zu einer nötigen Revision ungenutzt bleibt.

[61] 

2. Auch wer der Auffassung ist, das Burckhardt einen bestimmten Aspekt der italienischen Renaissance vielleicht doch nicht ganz falsch getroffen hat, muss meines Erachtens Zweifel an der fortgesetzten Übertragung dieses Aspekts auf die deutsche Literatur- und Kulturgeschichte hegen. Die historische Angemessenheit der Kategorien, die die letzte Abteilung des Buchs konstituieren, steht seit längerer Zeit in Frage (und wird gleich vom ersten Beitrag der Abteilung erneut angezweifelt). Diese Schwachstelle im Neuzeit-Konzept hätte man konzeptionell auffangen sollen. Kurz gesagt: An die Stelle der ideengeschichtlichen Legende von der Entdeckung der Welt und des Menschen gehört die diskursgeschichtliche Darstellung der Prinzipien zeitgenössischer Wirklichkeitsbeschreibung gesetzt.

[62] 

Zum Schluss sei noch eine Bemerkung zu den konfessionellen Präferenzen des Buchs erlaubt: Vergleichsweise viel und stets mit (angesichts mancher manichäischer, um nicht zu sagen fundamentalistischer Tendenzen) erstaunlicher Sympathie ist von den ›radikalen‹ Reformatoren die Rede, angemessen viel und mit erwartungsgemäß unterschiedlicher Sympathie vom lutherischen Protestantismus. Der Katholizismus findet im wesentlichen im 15. Jahrhundert (Williams-Krapp), im 16. nur noch sehr am Rande statt, was eigentlich dann doch nicht ganz so gewesen ist.


HD Dr. Gert Hübner
Universität Leipzig
Institut für Germanistik
Beethovenstr. 15
DE - 04107 Leipzig

Ins Netz gestellt am 07.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Dietmar Till. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Gert Hübner: Literaturgeschichte als Genesis der Neuzeit. (Rezension über: Werner Röcke / Marina Münkler (Hg.): Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. München: Carl Hanser 2004.)
In: IASLonline [07.12.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1008>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.


Anmerkungen

Hans Rupprich: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. Erster Teil. Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance 1370–1520 (de Boor-Newald 4,1) München: Beck 1970. 2., neubearb. Aufl. von Hedwig Heger. München: Beck 1994, Zitate S. 8 f.; Hans Rupprich: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. Zweiter Teil: Das Zeitalter der Reformation 1520–1570. München: Beck 1973.   zurück
Thomas Cramer: Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter. München: dtv 1990. Gegenstand sind hier freilich das 14. und 15. Jahrhundert; das 16. wird nur dort einbezogen, wo sich Traditionen des 15. fortsetzen. Vgl. außerdem Ingrid Bennewitz / Ulrich Müller (Hg.): Von der Handschrift zum Buchdruck: Spätmittelalter, Reformation, Humanismus 1320–1572 (Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte 2) Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991.   zurück
Joachim Heinzle (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Königstein / Ts.: Athenäum 1984 ff., jetzt Tübingen: Niemeyer. Bisher 2 Bände mit je zwei Teilbänden; die beiden Teile von Band III (Vom späten Mittelalter zum Beginn der Neuzeit) sind noch nicht erschienen.   zurück
Vgl. zum Überblick etwa Friedrich Jaeger: Neuzeit als kulturelles Sinnkonzept. In: Friedrich Jaeger / Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart / Weimar: Metzler 2004, S. 506–531. Vgl. die Rezension von Silvia Serena Tschopp in IASLonline unter <http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Tschopp3476019608_809.html>.   zurück
Rolf Grimminger (Hg.): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 3) München / Wien: Carl Hanser 1980.   zurück
Wie Anm. 1, S. 10–39.   zurück