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Die römische Schrift in karolingischer Zeit

Eine paläographische Fallstudie

  • Anne Schmid: Roms karolingische Minuskel im neunten Jahrhundert. (Studien zur Geschichtsforschung des Mittelalters 15) Hamburg: Kovac 2002. 200 S. 8 Abb. Gebunden. EUR 79,00.
    ISBN: 3-8300-0563-6.
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Anne Schmid legt in ihrer 1997 an der Universität Tübingen angenommenen Dissertation eine detaillierte paläographische Analyse der karolingischen Minuskel in Rom vor. Sie untersucht neun Handschriften, die die Forschung nach Rom lokalisiert. 1 In diesen unterscheidet sie 29 Hände und vergleicht sie mit vier oberitalienischen Handschriften 2 , die im 9. Jahrhundert in Bobbio und Verona entstanden sind.

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Gibt es römische Schriftmerkmale?

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Nach einer kurzen Vorstellung der römischen Handschriften und der Argumente für die Lokalisierung nach Rom entwickelt Schmid ein Raster für die Beschreibung, das 16 Kategorien umfaßt. Die Buchstabenformen bilden dabei nur eine: daneben berücksichtigt Schmid unter anderem die Schriftrichtung (d.h. den Neigungswinkel), Proportionen von Schaft zu Bauch, Oberlängenverstärkungen, Buchstabenberührungen auf der Zeile und »in Mittelposition« (S. 16). Die Konsequenz, mit der sie das Untersuchungsraster auf die Handschriften anwendet, kann als methodischer Fortschritt für die Paläographie gelten, die sich gewöhnlich mit den allgemeinen Eindrücken der routinierten Handschriftenbearbeiter begnügt. Und daß es Schmid gerade darum geht, zeigt ihre gründliche Auseinandersetzung mit Paola Supino Martini, 3 die römische Skriptorien nachzuweisen versucht hatte, die spätestens in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts einen typischen gemeinsamen Schrifttyp, eine ›carolina romana‹, ausgebildet hätten.

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Es gelingt Schmid, bei den oberitalienischen Vergleichshandschriften gemeinsame Schriftmerkmale zu ermitteln. In den römischen Handschriften findet sie dagegen keine Gemeinsamkeiten, die sie von den oberitalienischen Schriften abgrenzen. Die karolingische Minuskel im 9. Jahrhundert in Rom ist für Schmid also nicht Produkt eines engeren Austauschs zwischen den römischen Schreibern, sondern eher Ergebnis zufälliger individueller Vorlieben für die neue Schriftart. Mit Ausnahme der Handschrift Vat. lat. 4965, die auf Grund ihres Inhalts in Kombination mit dem Kolophon wahrscheinlich in Rom entstanden ist, bietet die Schrift der übrigen acht Handschriften keinen Hinweis auf ihre römische Entstehung.

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Zur Systematisierung von Schriftmerkmalen

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Der Gewinn der Arbeit liegt also weniger in der detaillierten Auflistung all der Merkmalsausprägungen des Rasters, die nur zu einem negativen Ergebnis führen und uns kein genaueres Bild der Schreibtätigkeit in Rom im 9. Jahrhundert zu geben vermögen, sondern vielmehr in der Etablierung der Merkmale selbst. Schmids sehr schematisches Vorgehen (ihr Text wirkt manchmal mehr wie das Produkt eines Computerprogramms denn wie eine Dissertation) wirft die Frage auf, ob in der Arbeit nicht Kategorien vorliegen, mit denen man systematische paläographische Beschreibungen datenbankartig sammeln und dabei formale Ähnlichkeiten bestandsübergreifend ermitteln lassen könnte.

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Entscheidend dafür ist erstens, ob die Merkmale einigermaßen eindeutig bestimmbare Ausprägungen annehmen, d.h. quantifizierbar, oder systematisch natürlichsprachlich beschreibbar sind. Zweitens müßten die Merkmale möglichst unabhängig von unkodiertem Wissen über das beschriebene Objekt sein, d.h. anstelle von Wendungen wie ›typisches a‹ müßte eine Charakterisierung als ›unziales a des 9. Jahrhundert‹ möglich sein.

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Zur Beschreibungssprache

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Zunächst einmal beschreibt Schmid die meisten Merkmalsausprägungen natürlichsprachlich: links- oder rechtsgeneigt, lotrechte Schriftrichtung, keulenförmige Oberlängenverstärkung, stumpfe oder auf der Zeile umgebogene Schaftenden, stumpfe Schaftansätze am oberen Ende von Buchstaben im Mittelband, Ansätze mit Anschrift oder verdickte Ansätze. Eine zweite Kategorie von Merkmalen ist ›vorhanden‹ oder ›nicht vorhanden‹, wie z.B. bestimmte Ligaturen, Abkürzungen, Buchstabenberührungen, Interpunktionszeichen. Die Höhe des Mittelbandes, der Ober- und Unterlängen und die Proportionen von Schaft zu Bauch bei b d p q drückt sie in Zahlen aus.

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Ihre Liste enthält jedoch Merkmale, die sich als Abweichungen von der Grundform der behandelten Handschriften ausprägen. Einzelne Buchstabenformen sind mit ›variablen‹ Merkmalen (reicht der Schaft des f unter die Zeile oder nicht) beschrieben. Zu anderen gibt sie nur Varianten an, die sie als »überwiegende Form«, »Variante«, »seltene Variante«, »Ausnahme« kennzeichnet (S. 17). Diese Merkmale, die nur im Vergleich mit den ›Normformen‹ aussagekräftig sind, sind für eine bestandsübergreifende Kodierung nicht nutzbar. Schmids Kriterien bedürften also noch genauerer Analyse, um sie weiterreichend zu verwenden. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob eine solche detaillierte Aufnahme der Formen für mehr als 29 Hände überhaupt machbar ist.

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Die Handschriftenbeschreibungen

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Daß die Arbeit von einer akribischen Materialsammlung geprägt ist, zeigt auch das Drittel des Textes (S. 111–157), das ausführliche Handschriftenbeschreibungen der römischen Codices nach den Richtlinien der DFG enthält. Zu jeder Handschrift ist eine Abbildung mittelmäßiger Qualität und eine Skizze der Seitengestaltung angefügt. Leider war nicht einmal jede der 29 Hände ein eigenes Bild wert. Schade ist es dann um so mehr, wenn die Abbildung des Ms 20 aus der Schøyen Collection einem bereits im Internet verfügbaren Bild der Handschrift entspricht, 4 d.h. der Forschung kein neues Bildmaterial zur Verfügung gestellt wird.

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Fazit

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Schmid liefert also einen um eine systematische paläographische Beschreibung erweiterten Handschriftenkatalog, der eine paläographische Forschungsmeinung in Frage stellt. Zwar kann sie uns wenig Neues über das Eindringen der karolingischen Minuskel in die von der Unziale und halbkursiven Schriften geprägte Schriftkultur Roms im 9. Jahrhundert mitteilen, liefert dafür jedoch Anregungen zur Systematisierung paläographischer Beschreibung.



Anmerkungen

Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 4965, Santa Maria Maggiore, Ms. 43, und Santa Maria in Via Lata, Ms. I 45; Tours, Bibliothèque Municipale, Ms. 1027, Cambrai, Médiathèque Municipale, Ms. A.803 (711), Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. E 1, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14008, Oslo und London, The Schøyen Collection, Ms. 20 vol. 1, und Rom, Biblioteca Vallicelliana, Ms. A 5.   zurück
Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 5749, 5754, 5764 und 5775.   zurück
Paola Supino Martini: Carolina romana e minuscola romanesca. Appunti per una storia della scrittura latina in Roma tra IX e XII secol. In: Studi medievali, ser. 3, 15 (1974), S. 769–793; Armando Petrucci / Paola Supino Martini: Materiali ed ipotesi per una storia della cultura scritta nella Roma del IX secolo. In: Scrittura e Civiltà 2 (1978), S. 45–101.   zurück
http://www.nb.no/baser/schoyen/4/4.1/414.html#020.   zurück