Anke Hertling

Emanzipation oder modisches Image?
Die Garçonne im Fokus ihrer zeitgenössischen Rezeption




  • Julia Drost: La Garçonne. Wandlungen einer literarischen Figur. (Ergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung an der FU Berlin. Neue Folge 2) Göttingen: Wallstein 2003. 312 S. 19 s/w, 8 farb. Abb. Kartoniert. EUR 26,00.
    ISBN: 3-89244-681-4.


[1] 

Die Garçonne wird in den zwanziger Jahren zum Sinnbild eines neuen weiblichen Selbstverständnisses, das in der Frauenmode und besonders im ›cheveux à la garçonne‹ – dem Bubikopf – populären Ausdruck fand. Während sich die feministische Forschung auf die medial inszenierte Garçonne konzentrierte, blieb ihr literarisches Vorbild weitestgehend unbeachtet. Julia Drost lenkt nun mit ihrer Dissertation den Blick auf Victor Marguerittes Bestseller La Garçonne (1922) und dessen Rezeption, um den Prozess der Mythologisierung der Figur zu rekonstruieren.

[2] 

Die Dissertation gliedert sich in drei Teile. Die im Roman angelegten weiblichen Aufbrüche und die Frage nach dem feministischen Verständnis des Autors sind Untersuchungsgegenstand des ersten Teils. Der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung folgt im zweiten Teil die Verortung des Romans im Kontext zeitgenössischer Geschlechterdiskurse. Dabei liest Drost Marguerittes Text in kulturwissenschaftlicher Perspektive als »Medium […], das einerseits selbst Bedeutung produziert, und andererseits kollektive Vorstellungen [...] verarbeitet« (S. 20). Ihrer Ausgangsthese folgend, dass sich die Romanfigur zum ›Mythos des Alltags‹ im Sinne von Roland Barthes entwickelte (S. 15), zeigt sie im dritten Teil anhand zeitgenössischer Romanverfilmungen und Buchillustrationen die medialen (Neu)Zuschreibungen an die Garçonne.

[3] 

Margueritte ein feministischer Autor?

[4] 

Die Tatsache, dass Margueritte sich selbst als feministischer Autor verstand, veranlasst Drost zur Überlegung, inwieweit ein männlicher Autor überhaupt als feministisch bezeichnet werden kann. Sie plädiert nach Darlegung der unterschiedlichen Positionen aus der feministischen Literaturwissenschaft (S. 16 ff.) schließlich für die historisch kontextuelle Bestimmung des Begriffs ›Feminismus‹ nach Margarete Zimmermann. 1 In Anlehnung an Zimmermann legt Drost Marguerittes Rekurs auf feministische Debatten zur ›femme nouvelle‹ sowie seine sozialkritischen Milieubeschreibungen dar und klassifiziert den Roman als ›roman à thése‹, den sie »als eine Spielart der littérature engagée« (S. 55) verstanden wissen will. Darüber hinaus analysiert Drost ausführlich die Folgeromane von La Garçonne, 2 um ihre These vom feministischen Engagement des Autors zu verifizieren.

[5] 

Bei dieser differenzierten Rekontextualisierung des Romans, die als Rehabilitierung des Beitrags Marguerittes zur Frauenbewegung zu würdigen ist, verliert Drost aber zuweilen den kritischen Blick auf den feministischen Anspruch des Romans selbst. Die Erfahrungen der Garçonne in der Pariser Bohème werden im Roman nur als kurzzeitige Ausschweifungen dargestellt, ehe sie sich geläutert in den Hafen der Ehe begibt. Das feministische Potential des Romans liegt also weniger in der literarischen Auflösung der bürgerlichen Geschlechterordnung; vielmehr jongliert Margueritte mit neuen Rollenbildern und gibt damit Zeugnis von den zeitgenössischen Erfahrungen der ›femme nouvelle‹, die zwischen emanzipierten Ausbruchsversuchen und bürgerlicher Assimilation changierten.

[6] 

Der Roman als Spiegel
zeitgenössischer Geschlechterdiskurse

[7] 

Marguerittes Roman löste einen gesellschaftlichen Skandal aus, als dessen Folge der Autor wegen Pornographie und Beschädigung des Rufs der französischen Frauen aus der Ehrenlegion ausgeschlossen und der Verkauf des Romans teilweise eingestellt wurde (S. 111 ff.). Kritiker des Romans, die aus den Reihen sowohl der katholischen Kirche, der bürgerlichen Mitte, aber auch der Feministinnen kamen, befürchteten, dass die selbstbestimmte und sexuell freizügige Garçonne jungen Frauen zum Vorbild werden könne. Indem Drost den Skandal kulturhistorisch in der ›crise de l’esprit’ verortet, erweitert sie den Blickwinkel auf die durch die kollektive Erfahrung des Werteverlusts in der Nachkriegsgeneration motivierte Auflösung traditioneller Geschlechterrollen. Ihren Ausführungen zur literarischen Verarbeitung kriegsversehrter Virilität, die sie in Analogie mit weiblichen Erfahrungen setzt (S. 135), wäre in diesem Zusammenhang hinzuzufügen, dass Margueritte mit der Figur des Georges Blanchet auch ein positives Gegenbild zum traumatisierten Kriegsveteranen schafft – einen ›homme nouveau‹. So konvertiert Blanchet zum Pazifismus und gesteht in seinem Buch Du mariage et de la polygamie Frauen eine selbstbestimmte Sexualität und freie Partnerwahl zu. Erst der von der Garçonne und Blanchet bewältigte Werteverlust sowie die individuelle Neubestimmung des Wertehorizonts wird im Roman zur Voraussetzung für eine gleichberechtigte Geschlechterbeziehung.

[8] 

Besonders überzeugt Drosts Analyse zur Repräsentation homosexueller Frauenliebe. Obwohl weibliche Homosexualität in den zwanziger Jahren eine neue Sichtbarkeit erfuhr, blieben lesbische Lebensentwürfe in der zeitgenössischen Literatur marginalisiert. So wird zwar das Verhältnis von Marguerittes Garçonne zu einer Frau im Roman als nichts Außergewöhnliches dargestellt, allerdings erschöpft sich die Beziehung in sexueller Leidenschaft. Die Option einer tragfähigen Partnerschaft zieht Margueritte nicht in Betracht: Als der sexuelle Rausch nachzulassen beginnt, artikuliert die Garçonne zunehmend den Wunsch nach einer heterosexuellen Verbindung und nimmt bei dessen Verwirklichung auch Abhängigkeitsverhältnisse in Kauf. Damit entlarvt Drost die patriarchalische Angst des Autors vor dem Untergang der Ordnung. Wie die Schriften von Charles Maurras oder die Bilder Picassos und Schieles zeugt auch Marguerittes La Garçonne »von einer unterschwellig stets präsenten Misogynie« (S. 180).

[9] 

Zeitgenössische Sinnstiftungen
im medialen Transfer

[10] 

1924 schrieb die deutsche Modejournalistin Ola Alsen im Moden-Spiegel: »An dem Roman von Victor Margueritte richtet sich die Pariser Mode auf.« 3 Die von Drost untersuchten Standbilder der Romanverfilmung des belgischen Regisseurs Armand Du Plessy (1923) zeigen, dass die Garçonne zunehmend auf ihre äußere Erscheinung festgelegt wurde. Die Garçonne erscheint in Du Plessys Film kokett mit Krawatte und Glockenhut. Zudem ist sie durch sexuelle Freizügigkeit charakterisiert, was schließlich ausschlaggebend für das Verbot des Films in Frankreich war. Mit dieser Inszenierung der Garçonne setzte eine »Pluralisierung der Sinnstiftungen« ein (S. 200), was Drost unter anderem am Motiv der autofahrenden Frau bei Kees van Dongens Buchillustrationen 4 deutlich macht. Die mit diesem Motiv assoziierten Attribute der Unabhängigkeit, Mobilität und Sportlichkeit kennzeichnen die neue Lebens- und Konsumwelt, in der die Garçonne ihren gesellschaftlichen Platz einnahm.

[11] 

Drost resümiert, dass durch die Visualisierung der literarischen Figur feministische Inhalte aus dem Blickfeld gerieten: »Die im Roman durchaus intellektuelle Monique Lerbier, die im College de France feministische Literatur diskutiert, wird nicht dargestellt.« (S. 228)

[12] 

Die Garçonne.
Aushandlung eines neuen
Weiblichkeitsentwurfs

[13] 

Mit ihrem interdisziplinären Ansatz, bei dem Literaturwissenschaft, Geschichte, Soziologie sowie Bild- und Medienwissenschaften eine Synthese eingehen, gelingt es Drost den zeitgenössischen Prozess der Mythologisierung der Figur der Garçonne offen zu legen. Es wird deutlich, wie die von Margueritte angelegte feministische Figur durch neue mediale Sinnstiftungen vereinnahmt wurde. Drost bestätigt damit den von der feministischen Forschung seit den siebziger Jahren aufgezeigten Sachverhalt, dass mit der Medialisierung der ›Neuen Frauen‹ emanzipatorische Ansätze verloren gingen. 5 Mit ihren Ausführungen zur Übernahme eines männlich konnotierten Kleidercodes vor allem durch Künstlerinnen (S. 240 ff.), die als prototypische Garçonnes im öffentlichen Diskurs rezipiert wurden, zeigt Drost aber auch, dass die Garçonne – mehr noch als die Modefiguren des Girl oder Flapper, die Drost der Garçonne hätte gegenüber stellen können – Ausdruck einer Auflösung des traditionellen Weiblichkeitsentwurfs ist. Nicht zuletzt gesteht auch das modische Bild der ›Selbstfahrerin‹ den Frauen Kompetenzen zu, die ihnen noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgesprochen worden waren.

[14] 

Dass der spannungsreiche Prozess der Umwertung traditioneller Geschlechterrollen in der Nachkriegsgesellschaft, der durch die Dialektik von Tradition und Fortschritt gekennzeichnet ist, schon in den dreißiger Jahren schlagartig stagniert, wird an der von Drost abschließend besprochenen Romanverfilmung Amour sans lendemain aus den dreißiger Jahren deutlich. Nicht nur taucht das Wort ›Garçonne‹ im Film nicht auf, auch die populären Attribute wie die kurzen Haare oder die androgyne Mode der Garçonne fehlen. Mit diesem ernüchternden Ausblick bekräftigt Drost die Diskrepanz zwischen der feministischen Intention des Autors einerseits und der zunehmenden medialen Verselbständigung seiner Figur andererseits. Hier erweist sich noch einmal, wie ertragreich Drosts Ansatz ist, die Figur der Garçonne als zeitgenössisches Zeugnis eines kulturell auszuhandelnden neuen Frauenbildes zu lesen.


Anke Hertling
Universität Kassel
IAG Kulturforschung
Gottschalkstr. 26
DE - 34127 Kassel

Besuchen Sie die Autorin auf ihrer Homepage!

Ins Netz gestellt am 01.07.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Andreas Kraß. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Anke Hertling: Emanzipation oder modisches Image? Die Garçonne im Fokus ihrer zeitgenössischen Rezeption. (Rezension über: Julia Drost: La Garçonne. Wandlungen einer literarischen Figur. Göttingen: Wallstein 2003.)
In: IASLonline [01.07.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1018>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.


Anmerkungen

Vgl. Margarete Zimmermann: Feminismus und Feminismen. Plädoyer für die Historisierung eines umstrittenen Begriffs. In: Renate Kroll / Margarete Zimmermann (Hg.): Feministische Literaturwissenschaft in der Romanistik. Theoretische Grundlagen – Forschungsstand – Neuinterpretationen (Ergebnisse der Frauenforschung 38) Stuttgart / Weimar 1995. S. 52–63.   zurück
La Garçonne ist der erste Teil von Marguerittes Trilogie La femme en chemin. Als deren weitere Fortsetzung erschienen Le compagnon (1923) und Le couple (1924).   zurück
Ola Alsen: Das Neue in der Mode. In: Moden-Spiegel. Nr. 6 / 1924 (5. 2. 1924). S. 1.   zurück
Der niederländische Maler Kees van Dongen illustrierte 1925 die Luxusausgabe von La Garçonne für den französischen Verlag Flammarion.   zurück
Vgl. Gisela Wysocki: Der Aufbruch der Frauen: verordnete Träume, Bubikopf und »sachliches Leben«. Ein aktueller Streifzug durch SCHERL’s Magazin, Jahrgang 1925, Berlin. In: Dieter Prokop (Hg.): Massenkommunikationsforschung. 3 Produktanalysen. Frankfurt 1977, S. 25–36.   zurück