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Kulturtechnologien – interdisziplinär
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Was genau sich zwischen Goethe und ›seinem‹ Eckermann abgespielt haben mag und was es kulturhistorisch bedeutet, bildete die implizite Zentralfrage einer Weimarer Tagung von 1999, deren Beiträge den weiter reichenden Anspruch erheben, Europa als Kultur der Sekretäre zu beschreiben. Souveräne Autorschaft erweist sich dann als ein Phänomen, das in je unterschiedlicher Manier Schreibverfahren des Sekretärs kombiniert, integriert und überschreibt. Die These von der Kultur der Sekretäre ist gleichsam das stenographische und personifizierende Kürzel für die Behauptung, daß die Geschichte der Kulturtechniken Schreiben und Rechnen, die Geschichte von Beauftragung, Kommission und Stellvertretung, die Geschichte wissenschaftlicher und literarischer Datenverarbeitung zusammenspielen bei der Produktion eines Kontinuums zwischen subalterner und souveräner Schriftproduktion und -verwaltung.
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Der kulturtechnologische Ansatz ermöglicht ein Miteinander von Literatur- und MedienwissenschaftlerInnen, das man kaum noch interdisziplinär nennen mag: Auch über den ›gemäßigten‹ traditionelleren Beiträgen waltet das technologische Apriori der inzwischen weitgefächerten Kittler-Schule, welches in seiner Integrationspotenz und seinem Drive beeindruckend und fesselnd, in seiner Dominanz jedoch allmählich ermüdend wirkt. Warum nicht mehr davon? möchte man manchen fragen; warum bloß immer mehr davon? fragt man alle und sich selber.
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Zum Inhalt des Bandes
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Die Gliederung des Bandes ist weder eindeutig chronologisch noch systematisch stringent. Die Beiträge bewegen sich thematisch zwischen der Handschrift und dem persönlichen digitalen Assistenten, zwischen Repräsentation und Geheimnis, zwischen Dokument und Monument, zwischen den sekretarialen Phantasmen und Praktiken des literarischen Schreibens und der Sklavenarbeit des Registrierens, zwischen der Selbstaufzeichnung im naturwissenschaftlichen Meßinstrument und den Sammel- und Ordnungsverfahren in Archiven und Bibliotheken.
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Historische Positionen
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Die ehemals hochrangige, machtnahe Stellung des Sekretärs und die damit verbundene Nähe zur repräsentativen, monumentalen Literatur zeigt eindrucksvoll Jan-Dirk Müller. Sein Beitrag zu Kaiser Maximilians Kanzleireformen und den Vermischungen und Verwechslungen von archivalischen und monumentalisierenden Schreibpraxen bei Maximilian und seinen Helfern verweist auf den frühneuzeitlichen Wandel der Schrift für das kulturelle Gedächtnis durch den Wechsel vom Medium der Handschrift zum massenhaft reproduzierbaren Druck. Maximilians Sekretäre vereinen noch die Ansprüche auf die Registrierung des Alltäglichen und auf die Verewigung des Außerordentlichen, während die medientechnische und staatliche Praxis diese beiden Schreibmodi schon gegeneinander ausdifferenziert hat.
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Horst Wenzel greift noch weiter zurück und widmet sich dem Verhältnis zwischen der Schauseite der Macht und ihrer dunklen Rückseite, zwischen geheimen und öffentlichen Schriftverfahren in der volkssprachlichen Literatur des Hohen Mittelalters. Die Literatur ist hier, wegen ihrer Teilhabe an der höfischen Repräsentation, das herausgehobene Beobachtungsmedium, das beide Seiten der Macht in den Blick bekommt. Die Nähe des Schreibens zur Macht manifestiert sich auch in den von Nicolas Schapira vorgestellten Sekretären des französischen Königs, deren Karrieren ihren Fluchtpunkt in der Rolle des Fürstenratgebers finden.
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Zur Literaturgeschichte des ›Sekretärs‹
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Diese Verquickungen von Schrift und Macht bilden noch nach der Autonomisierung der Literatur ein häufiges Wunsch- und Schreckbild der Literatur; sie zu beschwören und zu verwirklichen ist literarische Praxis. Die Frage, wann und warum und mit welchen Betonungen dieser Wunsch laut wird, bleibt im vorliegenden Band jedoch unbeantwortet, auch wenn sie in Studien zu einzelnen Autoren und einzelnen Texten immer wieder anklingt.
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Rüdiger Campe beobachtet die Konkurrenz um die Beförderung vom – subalternen – Schreiber zum – machtnahen – Sekretär in den Figuren Herzbruder und Olivier in Grimmelshausens Simplicissimus, um schließlich im Formular das Ineinander von Vorschrift und Ausführung und im Tableau das Ineinander von Bild und Index hervorzuheben: In literarischen Beispielen zeigen sich die Medien der Sekretärskunst besonders plastisch; lediglich angedeutet wird eine Konkurrenz- und Ausdifferenzierungsbewegung zwischen literarischen und bürokratischen Schreib- und Registrierungsverfahren, die in Uwe Jochums Beitrag zu den Prämissen von Goethes Bibliotheksaufsicht deutlicher werden. Goethes Anordnung von anonymen Ordnungs- und Katalogisierungsmaßnahmen in den weimarschen Bibliotheken verbindet sich mit autorschaftlicher Spekulation auf Kapitalvermehrung in einem ›Werk‹, das von der gehörigen Ordnung der Bücher und Texte profitiert, sich davon aber zugleich distanzieren und kategorial unterscheiden muß.
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Ethel Matala de Mazza konzentriert sich auf die Figuration der Stellvertretung in Georg Kaisers Drama Die Koralle von 1916 und bindet diese eher assoziativ ein in Debatten um Sekretäre und Angestellte, beginnend mit Napoleons Privatsekretär und endend mit Siegfried Kracauers Angestelltenessay von 1930. Daß und wie die Stellvertretung in der abendländischen Kultur als Kulminationspunkt von Sekretärs- und Berateraktivitäten implementiert wird, so daß sich literarische Figurationen von Zeichenrelationen und -prozessen systematisieren ließen,
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bleibt indes am Rande einer Aufmerksamkeit, die sich vornehmlich auf die Paradoxien einer doppelt auktorialisierten Rede richtet.
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Manfred Schneider sammelt literarische und autobiographische Register des Sexuellen, die nolens volens der staatlichen Bio-Macht zuarbeiten. Ganz im engen Bereich der Autorpoetik verbleiben die Arbeiten zu Proust (Ulrike Sprenger) und zu den Schreibtischporträts von Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge (Sabine Mainberger).
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Konkurrenz und Kongruenz
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Die für die Sozial- und Kulturgeschichte der Literatur zentrale systematische Frage nach Konkurrenz und Kongruenz zwischen Literaturen und Kulturen des Sekretärs
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bildet also das paradoxerweise ausgeklammerte Verbindungsglied zu jenen Beiträgen, die den Bereich der Literatur nur noch flüchtig berühren: Gloria Meynen analysiert die Verbindung von Rechen- und Navigationstopiken in der frühen Neuzeit, Wolfgang Schäffner beschreibt das Funktionieren und die Implikationen der Selbstregistrierung in graphischen Darstellungen kontinuierlicher Datenströme als Funktion der Zeit, Claus Pias vergleicht die unterschiedlichen Verfahren der Handschriftenerkennung in Apples Newton und im Palm V: Während der überholte Newton den user als Individuum modelliert, definiert der technisch und kommerziell erfolgreiche Palm Bandbreiten der Normalität.
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Die Herausgeber des Bandes, Siegert und Vogl, positionieren sich schließlich mit ihren Beiträgen als Repräsentanten einer neuen Universalgeschichte, die in den Details der Schreib- und Rechenverfahren und in ihren erkenntnistheoretischen Implikationen letztlich eine Fortschrittsgeschichte schreiben: Bernhard Siegert entwirft den Ursprung einer verzeitlichten Buchführung, das heißt einer regelmäßig unterbrechenden und neu beginnenden Verarbeitung von Daten, die ihr Verfallsdatum mit sich tragen. Siegert konkretisiert deren Konsequenzen für den Gewinn von ökonomischer und politischer Macht am autosekretarialen spanischen König Philipp II., dessen »Federzug« bekanntlich die Erde neu erschaffen kann.
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Eng daran anschließend beobachtet Joseph Vogl den kameralistischen Kurzschluß zwischen Leibniz’ Metaphysik und seinen verwaltungstechnischen und polit-ökonomischen Projekten, wo die optimierte Informationsdarstellung die Optimierung der Welt im Hinblick auf Reichtum, Fülle, Dichte und Kompossibilität erzwingt, wo in den Schrift-Akten Möglichkeit und Wirklichkeit ineinander übergehen.
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Wolfgang Ernst bilanziert die Erträge der Tagung im Fokus einer automatisierten Geschichtsschreibung, die das zutiefst rhetorische Phantasma einer nackten Wahrheit als artem celare technologisch reformuliert: In einer Schleife der Selbstapplikation erscheint dann die ideale Geschichtsschreibung als vollautomatisiertes Sekretariat des Realen, die ideale Geschichtsschreibung der Technik findet ihren Fluchtpunkt in Selbstregistratur und -kopie der Maschinen und Daten.
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Offene Fragen
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Ob Ideale der Souveränität und der starken Autorschaft hier einen funktionalen Ort finden, ob Hermeneutik bei der technologischen Implementation und der Datenanalyse eine Rolle spielt und ob Geschichtsschreibung sich dann noch als Verzeichnung von Fortschritten denken läßt, muß im den Band dominierenden Gestus der distanzierten Beobachtung Anathema bleiben, ganz und gar tropfen solche Fragen aber nicht ab am undurchdringlich Mantel dieser Geschichte: Weil die Herausgeber durch ihre Titelwahl die Kultur der Sekretäre mit den/m Projekt/en Europas kurzschließen, müssen sie sich im Jahr 2005, da wir Europa in der Krise sehen und zugleich an Friedrich Schiller, Elias Canetti und Jean-Paul Sartre erinnern, fragen lassen, wie sich der Gestus der stoisch-kalten Beobachtung der Sekretäre mit der Figur des europäischen Intellektuellen verträgt, der zwischen Intervention und Beobachtung, zwischen subalterner List und autoritativer Anmaßung, zwischen Macht und Ohnmacht seine Stellung immer noch verteidigt.
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