Frank Fischer

Die Gegenwart der Gegenwart




  • Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. 205 S. Paperback. EUR 9,00.
    ISBN: 3-518-12282-7.


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Eckhard Schumachers Studie bereichert die sich derzeitig mehrenden Untersuchungen zur deutschen Gegenwarts- als Popliteratur. Wie in seiner ebenfalls bei Suhrkamp erschienenen Dissertation Die Ironie der Unverständlichkeit (2000) über Hamann, Friedrich Schlegel, Derrida und Paul de Man stellt er ein einleitendes Kapitel drei etwa gleich langen Folgekapiteln voran, die sich dann einzelnen Autoren widmen; in diesem Fall Rolf Dieter Brinkmann, Rainald Goetz und Hubert Fichte, bzw. der Fichte-Rezeption vor allem bei Goetz und Thomas Meinecke.

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Schon die Auswahl der Autoren zeigt, dass mit ›Gegenwart‹ nicht die Jahrtausendwende gemeint sein kann. Vielmehr will Schumacher in den von ihm untersuchten Texten zeigen, wie Gegenwart als Gegenwart, »wie über die Serialisierung eines immer wieder neuen ›Jetzt‹ die Aktualität des Geschriebenen im Akt des Schreibens konstruiert wird« (Klappentext).

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Er beschäftigt sich dezidiert nicht mit der »Erinnerungsliteratur« eines Nick Hornby oder der »Verständigungsliteratur« à la Florian Illies, deren Exponenten zwar eine popkulturelle Sozialisation durchlaufen haben, diese Erfahrungen aber literarisch konventionell zu Papier bringen. Schumachers Autoren hingegen verweigern ein herkömmliches, auf die Vergangenheit bezogenes Erzählen und versuchen stattdessen in ihren Texten mit Popmethoden zu arbeiten.

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Ist es auch Pop,
so hat es doch Methode

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Im einleitenden Kapitel widmet sich Schumacher der Diskussion um den »Verlegenheitsausdruck« Pop (S. 15). Er rekapituliert die Charakteristika der heutigen Popliteratur, etwa den Bezug zur Popmusik oder die Popularität von Autor und Text, findet darüber hinaus aber einen neuen Zugriff auf die Materie: Die von ihm untersuchte Literatur fällt vor allem durch ein »spezifisches Verhältnis zur Gegenwart« auf, thematisch und stilistisch (S. 12).

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Die »Methode Pop« (Thomas Meinecke) will die Gegenwart nicht um ihrer selbst willen verstehen und erklären, sondern sie durch »Zitieren, Protokollieren, Kopieren, Inventarisieren« erst einmal neu präsentieren (S. 13). Das Ganze ist aber kein Buchhalterakt, in dem gegenwärtige Phänomene nur trocken verzeichnet würden. Die Aktualität der Gegenstände wird nicht vorausgesetzt, weil der Text »die Gegenwart, die er beschreibt und beschwört, allererst selbst produziert, im Text, als Text« (S. 48 f.). Statt der Suche nach dem repräsentativen Moment wird das »Jetzt« durch Aufzählungen, syntagmatische Reihen serialisiert, jedes »Jetzt« wird durch ein neues »Jetzt« abgelöst.

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Ein stilistisches Merkmal dieser Prosa sind die bereits im Buchtitel genannten gegenwartsbezüglichen Temporaladverbien – gerade, eben, jetzt –, gerne auch in Kombination: »Der beste Augenblick in deinem Leben / ist gerade eben jetzt gewesen«, zitiert Schumacher etwa Bernadette La Hengst und bringt in einem Rundumschlag zunächst einige Textbeispiele für die »Jetzt-Versessenheit« der Popmusik (vgl. S. 18–21). Der zeitgenössische, universale Literaturwissenschaftler muss eben vor allem auch Adept der englisch- und deutschsprachigen Popmusik sein, und zwar indem er sich explizit für die am Nebenbeihörer vorbeirauschenden Texte interessiert.

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Maschinengewehrsalven

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Bei seiner Annäherung an die Poetologie Rolf Dieter Brinkmanns beteiligt sich Schumacher nicht an der Legendenbildung um Brinkmanns tödlichen Verkehrsunfall 1975 in London, obwohl die symbolische Aufladung des Todes »die Möglichkeit der Aufhebung der Differenz von Kunst und Leben auf einen Punkt zu bringen« verspräche (S. 63). Dass Brinkmann selbst eher nicht das Ziel verfolgt hat, die Kunst als Leben umzusetzen, ist den Beteiligten des Symposiums »Autoren diskutieren mit ihren Kritikern« im November 1968 in Berlin zugute gekommen. Brinkmann erwägt dort zwar verbal den Einsatz eines Maschinengewehrs gegen seine Gesprächspartner, löst diese Attacke auf den »fortwährenden Ruf nach Stil« aber nicht ein, sondern formuliert sie ausschließlich als Text (S. 66).

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In seinen Texten setzt er dann statt auf poetologische Abstraktion auf ein spielerisches, experimentelles Schreiben, auf eine »radikale Gegenwartsfixierung«: »An die Stelle von historischen Verweisen und utopischen Entwürfen rückt eine offensive Beschränkung auf die Gegenwart« (S. 74 f.). Für seine Augenblicksgedichte kassiert er dabei freilich den Vorwurf, das seien keine Gedichte mehr, weil sie im Gegensatz zu den Klassikern so einfach zu verstehen wären, wertet diese Missverständnisse aber als »produktive Momente« (S. 106).

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Dynamische und strukturell offene Texte sind denn auch das Ergebnis der von Brinkmann selbst so bezeichneten, »in der Gegenwart« betriebenen »Grundlagenforschung der Gegenwart« (S. 60). Mit jedem »Jetzt« setzt er einen Endpunkt, der aber sofort wieder auf einen Neuanfang verweist.

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Dr. Dr. Rainald Mabuse

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Nachdem Schumacher bereits 1994, also kurz nach Erscheinen des Suhrkamp-Schubers Festung, das Wort ›Gegenwart‹ als »wiederkehrendes Motiv, ein Strukturmerkmal« bei Rainald Goetz ausgemacht hat 1 , liest er unter dieser Prämisse auch die zwischen 1998 und 2000 erschienene fünfbändige Geschichte der Gegenwart. Besonders interessiert ihn dabei das Internetprojekt Abfall für alle, das zunächst »Baustelle« und »Produktionsort«, aus heutiger Sicht aber Zentrum der Pentalogie ist.

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Das Resultat der performativen Entstehung, des Live-Charakters der täglichen Veröffentlichungen ist ein »unvorhersehbarer Text«, bei dem jedes »Jetzt« das letzte gewesen sein könnte (S. 129). Goetz selbst rekurriert bezüglich dieses Problems auf Helmut Krausser und dessen von Mai 1992 bis April 2004 anberaumtes Tagebuchprojekt: »Totgelacht habe ich mich auch über die Ankündigung damals: zwölf Jahre lang, jedes Jahr einen Monat. Und wenn er stirbt, dachte ich, was dann? Er stirbt nicht, das ist ja der Witz.« 2

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Goetz transkribiert mediale Äußerungen und alltägliche Mündlichkeit, aber nicht, weil er damit aktiv die Differenz zwischen Mündlich- und Schriftlichkeit überwinden will. Der Text wird »im Medium der Schrift nach eigenen Maßstäben auf eine neue Weise her[ge]stellt, im neuen Medium performativ produziert« (S. 140).

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Schumacher begreift Abfall für alle als »gespenstisches, mabusehaftes Projekt« (S. 138), eine schöne Formulierung, die sich auch auf Goetz’ Gesamtwerk anwenden ließe. Seine »obsessive Lebensmitschrift« 3 , das spätestens seit seinem Debütroman Irre programmatische »einfache Abschreiben der Welt« 4 , lässt sich zum Beispiel auch exemplarisch an den 1993 erschienenen, gerade neu aufgelegten dreibändigen Medienmitschriften 1989 verfolgen. »Unabschließbar ist dieses Projekt, das Goetz durchaus ›auf immer und ewig‹ auf ›die Rolle des Chronisten des Augenblicks‹ festzulegen scheint« (S. 154).

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»Fichtisieren«

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Obwohl Goetz schon durch die Wahl des WWW als für die Gegenwartsrepräsentation geeignetes Medium eine »Abwehr des Alten« betreibt (S. 125), hat sein Projekt stilistische Vorläufer. Gleich am ersten Tagebuchtag schickt er ein »Salut / an Hubert Fichte / an seine Alte Welt / die da eröffnete FORM« (S. 125 f.). Goetz’ Verweis auf Fichte ist Teil einer umfassenderen Fichte-Entdeckung um die Jahrtausendwende herum. Schumacher erinnert an Schorsch Kameruns Aufführung von Fichtes Palette 2000 in Hamburg, an Daniel Richters Grünspan-Ausstellung 2002 in Düsseldorf (der Titel ist eine Anspielung auf den Roman Detlevs Imitationen Grünspan), vor allem aber an die »fichtisierenden« Autoren Kathrin Röggla, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister (vgl. S. 159–161).

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Wie Goetz, der sich an der von Fichte in seinem Nachlasskonvolut Alte Welt »eröffnete[n] FORM« geschult hat, sind die genannten Autoren Fichtes »Schreibverfahren und Umgangsweisen mit Sprache« wichtiger als inhaltliche Aspekte (S. 168 f.). Es geht ihnen nicht um das bloße Verzeichnen zeitgenössischer Phänomene, sondern um »eine in der Sprache materialisierte Form von Aktualität« (S. 170), also um die Konstruktion der Gegenwart als Gegenwart.

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Der »Eindruck von Unmittelbarkeit und Aktualität« in Fichtes Texten ist »ein Effekt sprachlicher Strategien«, ein Ergebnis der Annäherung an »Formen der Mündlichkeit« (S. 177). Fichte – wie nach ihm Goetz – greift für seine Romane auf »kurze, oft unvollständige, elliptische Sätze, [...] vereinzelte Zeilen, die häufig nur aus einem Wort bestehen«, zurück (S. 178). Durch seine Inventarisierungsorgien werde »Erzählen« zu »Aufzählen«, zitiert Schumacher die zeitgenössische Kritik, die die 1968 erschienene Palette gar nicht mehr für einen Roman hält, weil darin lediglich Stoff ausgebreitet, dieser aber nicht literarisch bewältigt würde.

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Diesem Einwand leistet Fichte noch Vorschub, indem er stetig die Grenzen zwischen Fiction und Non-Fiction verwischt. Seine Texte »oszillieren [...] mit entschiedener Unentschiedenheit zwischen journalistischen, wissenschaftlichen und literarischen Schreibweisen«, »das Authentische und das Fiktionale« durchdringen sich gegenseitig (S. 193). Die Verfahren der Authentizitätsfiktion produzieren im fiktionalen Rahmen Authentizitätseffekte, eine Technik, die auch Rainald Goetz als »Fiktionsfiktion« seit seinem Debütroman Irre entwickelt (S. 194 f.).

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Es handelt sich dabei nicht um eine typisch romantische Potenzierungsformel, nicht um die Fiktion der Fiktion, d.h. es wird kein neuer fiktiver Rahmen um die Binnenfiktion gespannt, der etwa Beobachtungszwecken dienen würde. Einen solchen archimedischen Punkt kann es nicht geben, da Goetz aus der Gegenwart heraus von der Gegenwart erzählt. Bei Goetz wird die Fiktion durch das Auftreten des Autors und eines Vornamengeschwaders von Bekannten und Freunden, das er mitbringt, gebrochen. Die Unterminierungen der Differenz zwischen dem empirischen Autor und seinem Schreibgegenstand sind »entscheidende Momente der Authentizitäts- und Fiktionsfiktion«, schlussfolgert Schumacher (S. 197), und man sollte nicht der Versuchung unterliegen, die Texte streng biografistisch zu lesen.

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Fichte und seine Nachfolger verlassen sich nicht auf die aktuelle Charts-Tauglichkeit der beschriebenen Gegenstände, sie zielen durch den zitierenden Bezug auf ephemere Erscheinungen nicht auf Verständigung mit Generationsgenossen. Nachdem Schumacher an anderer Stelle mit Derrida gegen Austins Ausschluss des Zitierens argumentiert hat – ein Kunstgriff, der die »Sprechakttheorie [...] für literarische und theatrale Texte [ge]öffnet« hat 5 – kann er nun die Sprechakttheorie pragmatisch heranziehen, um Materialmontage und Zitation nicht als bloß reproduktive, dokumentatorische Verfahren, sondern als performativen Akt zu interpretieren.

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Fazit

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Den nur rudimentären Bezug auf die initiale Forschungsliteratur zum Thema (Johannes Ullmaier, Moritz Baßler) 6 kann man dem Autor nicht anlasten, zumal er nicht wie Ullmaier sein Material nur sammelt, sondern es auch anwendet. Schumacher, der »Popgelehrte« 7 , ist ein Meister des Beispielgebens, seine Exemplifizierungen sitzen immer und unterstreichen mehr als genug die Thesen.

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Schumacher vermeidet die Begriffe Pop- und Gegenwartsliteratur und konzentriert sich statt auf pseudo-epochale Zuschreibungen auf die Texte. Seine Formstudien können denn auch einen Grenzpfahl schlagen zwischen der aktuellen »Verständigungsliteratur« mit ihren »locker-flockigen Zeitromane[n] und -romänchen« 8 und einer sich formell für Popmethoden interessierenden Literatur, deren Verarbeitung der Gegenwart auf die Weiterprozessierung von durch die Texte aufgeworfenen Kontexten zielt.


Ass. Prof. Dr. Frank Fischer
National Research University Higher School of Economics
School of Linguistics
Ul. Staraya Basmannaya 21/4, office 207
RU - 105066 Moskau

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Ins Netz gestellt am 14.07.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Martin Stingelin. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Frank Fischer: Die Gegenwart der Gegenwart. (Rezension über: Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003.)
In: IASLonline [14.07.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1020>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Eckhard Schumacher: Zeittotschläger. Rainald Goetz’ Festung. In: Jörg Drews (Hg.): Vergangene Gegenwart – Gegenwärtige Vergangenheit. Studien, Polemiken und Laudationes zur deutschsprachigen Literatur 1960–1994. Bielefeld: Aisthesis 1994. S. 277–308, hier S. 278.   zurück
Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. S. 765 f.   zurück
Hubert Winkels: Krieg den Zeichen. Rainald Goetz und die Wiederkehr des Körpers. In: ders.: Einschnitte. Zur Literatur der 80er Jahre. Erw. u. bearb. Ausgabe. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991. S. 217–266, hier S. 228.   zurück
Rainald Goetz: Irre. Roman [1983]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986. S. 261.   zurück
Eckhard Schumacher: Performativität und Performanz. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. S. 383–402, hier S. 387.   zurück
Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz: Ventil-Verlag 2001; Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten (Beck'sche Reihe; 1474) München: C.H. Beck 2002. Vgl. hierzu die Rezension von Christoph Rauen: http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/rauen.html.   zurück
Christiane Zschirnt: Strukturell immer offen. In: die tageszeitung 16.06.2003.   zurück
Enno Stahl: Popliteratur – Phänomen oder Phantasma? In: ndl 2/03, S. 93–100, hier S. 93.   zurück