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Kulturwissenschaftliche Rezeptionen
der Soziologie Bourdieus

  • Georg Mein / Markus Rieger-Ladich (Hg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien. Bielefeld: transcript 2004. 319 S. Kartoniert. EUR 26,80.
    ISBN: 3-89942-216-3.

Inhalt

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Die Soziologie Pierre Bourdieus, der selbst aus der Philosophie über die Ethnologie zur Soziologie kam, hat – nicht erst seit seinem Tod Anfang 2002, aber seitdem verstärkt – eine wissenschaftliche Breitenwirkung, die sich insbesondere auch in den Kulturwissenschaften niederschlägt. Mit dem vorliegenden interdisziplinär-kulturwissenschaftlich orientierten Band wird an eine weitere, schwierige soziologische Kategorie Bourdieus angeschlossen, nämlich die des sozialen Raums.

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Bourdieus Raum-Kategorie ist deutlich von einem Raum-Begriff zu unterscheiden, der in manchen Beiträgen mit dem so genannten ›spatial turn‹ in Verbindung gebracht wird, der – nach dem angeblichen ›Ende der Geschichte‹ und der ›großen Geschichten‹ – als neues kulturelles und wissenschaftliches Paradigma die Synchronizität und Pluralität kultureller Phänomene und Praktiken betone. Das (voraussehbare) ›Missverständnis‹ einiger Beiträge besteht nun darin, das analytische Modell des sozialen Raums (oder des Feldes) mit einem Raum-Begriff als philosophische oder postmoderne Großkategorie zu vermischen oder gar gegen solche auszutauschen, etwa einen vergleichsweise vagen postmodernen Raumbegriff. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden vor allem diejenigen Beiträge eingehender besprochen werden, die sich explizit mit Bourdieus Kategorie des ›sozialen Raums‹ auseinander setzen und / oder aus ihrem Fachgebiet einen materiellen Beitrag liefern, anhand dessen das Konzept produktiv hinterfragt oder weiterentwickelt werden kann.

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Die ›Rahmung‹: Zur Bestimmung des sozialen Raums

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Einleitung

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Die Einleitung führt erste zentrale Bestimmungen des Begriffs des sozialen Raums von Bourdieu an. Die Herausgeber betonen zu Recht, dass es sich um ein analytisches Konzept handelt, um ein »zweidimensionales Modell, das geeignet ist, die Herrschaftsbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Segmenten des sozialen Raums präzise abzubilden« (S. 8). Präziser geht allerdings Bourdieu in Die feinen Unterschiede (Frankfurt / M.: Suhrkamp 111999, S. 195 f.) – wie Müller richtig bemerkt (S. 154) – von einem »dreidimensionalen Raum« aus: Der soziale Raum Frankreichs in den 1960er-Jahren wird mithilfe der Korrespondenzanalyse in einem Modell veranschaulicht, das sich letztlich aus drei (wie Transparentpapier) ›übereinander gelegten‹ Schemata zusammensetzt (Raum der sozialen Positionen, Raum der Lebensstile und schließlich der theoretische Raum der Arten des Habitus bzw. der generativen Formeln).

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Franz Schultheis: »Das Konzept des sozialen Raums.
Eine zentrale Achse in Pierre Bourdieus Gesellschaftstheorie«

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Der der Einleitung folgende Beitrag des Soziologen Franz Schultheis, der viele Jahre mit Bourdieu direkt zusammengearbeitet hat (»Das Konzept des sozialen Raums. Eine zentrales [sic] Achse in Pierre Bourdieus Gesellschaftstheorie«), rekapituliert die wichtigsten Bestimmungen dieses analytischen Konzepts und seine Genese im Zusammenhang mit Bourdieus eigener wissenschaftlicher Laufbahn klar und bündig. 1 Schultheis betont, dass es bei der Kategorie des sozialen Raums um relative Positionen von Individuen oder Gruppen in einem Raum von Relationen geht, der als solcher gar nicht unmittelbar sichtbar ist, seine objektive Realität jedoch in der Konstellation spezifischer Kräfteverhältnisse erweist, nach denen sich die Position der jeweiligen Individuen oder Gruppen ausrichtet (vgl. S. 16).

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Jürgen Fohrmann: »Das Andere der ›Kultur‹:
die ›Kultur‹ der Kulturwissenschaften«

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Der Beitrag von Jürgen Fohrmann »Das Andere der ›Kultur‹: die ›Kultur‹ der Kulturwissenschaften«, zeichnet die Grundzüge der Genese der Kulturwissenschaften (im deutsch-französisch-englischen Dreieck) nach und macht damit die historische Ausgangssituation der kulturwissenschaftlichen Rezeptionen der Soziologie Bourdieus deutlich. Fohrmann geht von der Grundbeobachtung aus, dass der sich historisch wandelnde Kultur-Begriff jeweils durch seine Abgrenzung von dem ihm nicht ›Zugehörigen‹ gebildet wurde. Er rekonstruiert dann drei Phasen der Rede über ›Kultur‹, die er an den Zeitschnitten »um 1800«, »um 1900« und »um 2000« festmacht (S. 86).

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Ausgehend vom griechisch-antiken Rekurs auf die Polis-Konzeption (Entgegensetzung von Freiheit und körperlicher Arbeit) und der ›römischen‹ Tradition vieler ›culturae‹ (Aufbau und Pflege in körperlicher und geistiger Hinsicht), stellt er zunächst fest, dass im (deutschen) 18. Jahrhundert die ›römische‹ Konzeption den Kultur-Begriff der Kameralisten, der Popularphilosophen, der Philantropen und der Universalhistoriker mit ihrer ›Culturgeschichte‹ prägte. Dieser Kultur-Begriff zielte auf die »umfassende Poliziertheit der Gattung« und war »sehr eng angelehnt an die französische Auffassung von ›civilisation‹« (S. 87). Mit Herder setzt sich dann am Ende des 18. Jahrhunderts ein Kultur-Begriff als Effekt von ›Bildung‹ der einzelnen Person durch. Diese ›griechische Konzeption‹ wird anschließend für das deutsche 19. Jahrhundert insbesondere für die neuhumanistische ›Bildungsvorstellung‹ des einzelnen Subjets zentral, die sich gegen den als defizient gewerteten ›französischen‹ Zivilisationsbegriff abgrenzt. Sozialität ist dann die Wahlverwandtschaft affiner Personen, mehr (innere) Gemeinschaft als (äußere) Gesellschaft (S. 87).

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Um 1900 wird das »Denken des Singulären« eines Dilthey, Rickert und auch eines Ernst Cassirer oder Georg Simmel dominant, die in einem Begriff der Einheit des »verstehend begriffenen Subjekts« übereinkommen (S. 89). Gesellschaft ist nicht Kultur, weil sie nicht ›Person‹ ist (S. 90; Bezug auf Nietzsche). Der soziale Raum wird so zum Gegenteil der ›Kultur‹, solange er nicht zum ›vergrößerten kulturellen Körper‹ wird (ebd.). Der Kulturbegriff heutiger deutscher Kulturwissenschaften geht auf einen Bruch mit diesen deutschen Traditionen zurück, indem der französische ›civilisation‹-Begriff und die angelsächsischen ›cultural studies‹ importiert wurden. Durch den ethnologisch ausgerichteten Strukturalismus von Lévi-Strauss und die ethnologisch-morphologischen Untersuchungen der Praktiken indigener Gesellschaften der Durkheim-Schule (insbesondere von Marcel Mauss über den Gabentausch) setzten sich die Perspektive auf den Austausch des Fremden mit dem Eigenen der Kultur und alle daraus resultierenden Bestimmungen der Interdependenz und des Hybriden, d.h. der »Annäherung des Verschiedenen und seine sofortige (Re-)Differenzierung« durch (S. 92).

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Die Analysen der ›cultural studies‹ (insbesondere der Birmingham School) konterkarierten dabei eine zu starke Dominanz apersonaler Prozesse, indem sie die Strukturgeschichte durch eine Ereignisgeschichte ergänzten und den personal rückgebundenen Symbolaustausch bzw. allgemein personale Austauschbeziehungen betonten. Dies war dann laut Fohrmann die Ausgangslage für die kulturwissenschaftlichen Rezeptionen der Soziologie Bourdieus, die die von Mauss geforderte Untersuchung des Konkreten in Hinblick auf die allgemeinen »Regularien von Partizipation und Ausschluss« weiterführte (S. 96).

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Abschließend versucht Fohrmann den Gegenstand und die Aufgabe der Kulturwissenschaften zu bestimmen: »In der verstreuten, schwer zuordbaren [sic] Kommunikation der Gesellschaft übernähme die Rede von ›Kultur‹ und die Abgrenzung von ›Kulturen‹ dann die Funktion, wiedererkennbare Segmente auszugliedern, denen so etwas wie ›Stil‹ und ›Politik‹ zugeschrieben werden könnte – aber nur, um dann doch wieder im basso continuo des gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses unterzugehen« (S. 99). Der Kommunikationsbegriff scheint von daher nicht das abzudecken, worauf es Bourdieu ankommt: auf eine Analyse der Sozialstruktur eines (Teil-)Bereichs gesellschaftlichen Lebens, die von (struktureller) Ungleichheit und (objektiven) Zwängen (sowie Möglichkeiten) der Akteure geprägt ist.

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Karin Priem: »Pädagogische Räume – Räume der Pädagogik«

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Der Beitrag von Karin Priem (»Pädagogische Räume – Räume der Pädagogik«) geht von einer konkreten Falluntersuchung aus und weist – so ihre Hauptthese – die Überlagerung konkurrierender Räume nach (hier: Konstruktionen des Klassenzimmers zwischen den Polen »Disziplinierung« und »Durchbrechen der Ordnung« [S. 36]). Dabei bezieht sie sich einerseits auf Foucaults Unterscheidung zwischen einem »Raum des Innen« (der ersten Wahrnehmung, der Träume und Leidenschaften) und einem »Raum des Außen«, der sich aus »unwirklichen Räumen« (Utopien) und »wirklichen« bzw. »wirksamen Orte« (Heterotopien) zusammensetzt. 2 Andererseits bezieht sich Priem auf Halbwachs’ Konzept vom kollektiven Gedächtnis, das die Wechselwirkung zwischen der »physischen Trägheit der Dinge«, der Persistenz der Mentalitäten und kulturellen Handlungen und der »relativen Beständigkeit« sozialer Gruppen reflektiert (S. 28).

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Dass der physikalische Raum »einerseits de[n] Rahmen, den sich eine Gruppe selbst gesetzt hat«, bildet, andererseits »das Denken und die Vorstellung, die sich eine Gruppe von sich macht«, prägt (S. 28 f.), kommt dem von Bourdieu bestimmten Verhältnis zwischen sozialem und physikalischem Raum näher als Lippuners und Lossaus radikaler Konstruktivismus: »Die Schülerinnen und Schüler zeichneten nicht nur den Klassenraum, den sie sich wünschen, ich selbst fotografierte nicht nur den objektiv vorfindbaren Klassenraum, sondern auch den, der als Heterotopie und pädagogische Utopie sowie als materialisiertes Zeugnis der Absichten früherer Generationen schon erfahren und offensichtlich adaptiert wurde« (S. 39, meine Akzentuierung). Schließlich stellt Priem eine Dominanz des »Raum des Außen« fest.

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Jürgen Link: »Kulturwissenschaftliche Orientierung und Interdiskurstheorie der Literatur zwischen »horizontaler« Achse des Wissens und »vertikaler« Achse der Macht. Mit einem Blick auf Wilhelm Hauff«

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Unter den Beiträgen des ersten Teils (»Soziale Räume«) sticht schließlich derjenige von Jürgen Link hervor, der sich tiefenstrukturell mit Bourdieus Raumkategorie auseinander setzt. Es geht ihm um nichts Geringeres als um eine Skizze des »Dreieck[s] Foucault – Bourdieu – Luhmann« 3 bzw. der »Interferenzzone zwischen Diskurs-, Habitus- und Systemtheorie« (S. 65). 4 Dieses theoretische ›Großunternehmen‹ mündet schließlich in einer Falluntersuchung eines Märchens von Wilhelm Hauff, anhand derer Link seine Kritik an Bourdieu aufzeigen möchte. Ausgehend von einem klassischen Raumschema, das vertikal die Machtverhältnisse, horizontal die Arbeitsteilung bzw. die Ausdifferenzierung des Wissens und ihrer Diskurse verzeichnet, benennt Link verschiedene Stärken und Schwächen der drei verschiedenen Ansätze, wobei der Dreh- und Angelpunkt die Frage nach dem Verhältnis der beiden Achsen zueinander ist.

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So rücke Bourdieu mit seinem modifizierten Klassenbegriff die vertikalen Machtverhältnisse ins Zentrum seiner Analysen, während Foucault mit seinem Begriff der »diskursiven Formation« die horizontale Ausdifferenzierung am genauesten erfasse. Luhmanns Fokus auf die Operationalität von Teilsystemen sei zwar auch auf der horizontalen Achse zu sehen, bilde aber eigentlich eine eigene, dritte Dimension. Die systemtheoretische Analyse der Ausdifferenzierung in Teilsysteme entbehre aber jede Reflexion auf die »stratifizierenden Machteffekte« in der Vertikalen. Schließlich weist Link darauf hin, dass bei Foucault die machtanalytische Wendung in Die Ordnung des Diskurses (1974) schon präludiert gewesen sei, und zwar in der »Fassung des Diskurses als Räume einer historisch begrenzten Sagbarkeit bzw. Wissbarkeit« (S. 68 f.).

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Worauf Link letztlich hinaus will, ist eine Korrektur der Bourdieuschen Sozialraumkonzeption durch eine Foucaultsche (Inter-)Diskursanalyse. Diese gegenseitige Korrektur und Erweiterung zwischen Feld- und Diskursanalyse ist von analytischer Produktivität. Einerseits geht Link in der Entwicklung seiner Interdiskurstheorie einen wichtigen Schritt weiter, wenn er eine (vertikale) Hierarchie der Interdiskurse unterscheidet (vgl. Schema auf S. 76: von den elaborierten, hegemonialen Interdiskursen bis hin zu den nicht hegemonialen Elementardiskursen der Subkulturen). Damit wird der Blick darauf frei, dass Interdiskurse nicht nur im diskursiven Raum gegeben, sondern auch im sozialen Raum (ungleich) verteilt sind (hinsichtlich der Disposition bzw. ›Macht‹ ihrer Chiffrierung und Dechiffrierung oder – wie Bourdieu sagen würde – ihrer Vision und Division als Durchsetzung einer realen Teilung des sozialen Raums).

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Wenn nun Link an einer Stelle von einer »hegemonialen Ausbreitung vom oberen Sektor der Achse der Stratifikation« (S. 81) und an einer anderen von der »Monopolisierung und Blockierungen der Proliferation« der Interdiskurse spricht (S. 77), so wäre hier der Punkt, an dem die (Inter-)Diskursanalyse konkrete soziale Träger und ihre diskursiven sowie sozialen Positionen in den Blick nehmen könnte. Wenn Link aber andererseits feststellt, dass eine »eindeutige Transformationsregel zwischen Wissen und Macht eben nicht existiert« (S. 71) bzw. es für die »Kopplungsverhältnisse zwischen Publiken, Intelligenzen und sozialen Gruppen« keine »generellen Regeln« gibt (S. 77), so zeigt sich, dass er auf der horizontalen Achse weiterhin − und dies zu Recht − die spezifischen (diskursiven) Machteffekte der »interdiskursiven Interferenz« (S. 72) im Auge hat. Diese besonderen Machteffekte werden aber nicht mit den sozialen Kräfteverhältnissen im jeweiligen Feld bzw. im sozialen Raum vermittelt.

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Der Einwand, dass Bourdieu die im 19. und 20. Jahrhundert zunehmend dominante Rolle des naturwissenschaftlichen Diskurses nicht ausreichend gesehen habe, ist berechtigt. Ebenfalls ist der Ansatz, das »Projekt Flauberts, wissenschaftliches Wissen narrativ zu subjektivieren« (S. 72), (inter-)diskursanalytisch zu objektivieren, um so das Wechselverhältnis zwischen gesellschaftlicher Differenzierung (Entfremdung) und Entdifferenzierung (Reintegration) sowie die Rolle der Literatur dabei (als eine elaborierte Form eines Interdiskurses) zu bestimmen, weiterhin ein ›starker‹ Beitrag für eine nach gesellschaftlichen Verhältnissen fragende Literaturwissenschaft. Daraus folgt aber nicht, dass man den Einfluss der naturwissenschaftlichen Diskurse etwa bei Flaubert gegen seine soziale Stellung, die Bourdieu hauptsächlich in seiner Analyse der Education sentimentale interessierte, ausspielen müsste.

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Auch scheint es produktiver, wenn nicht nur der (hegemoniale) Anteil des naturwissenschaftlichen Diskurses an der Diskursgenese untersucht, sondern die Analyse weiter getrieben wird, indem ein historisch bestimmter hegemonialer Stand eines Diskurses (als Ausdruck einer symbolischen Macht) in seiner sozialen Verteilungsstruktur erfasst wird, wobei die von Bourdieu jeweils gewählten strukturellen Pole (ökonomisch-kulturell) weiterhin Geltung haben. Denn dass der naturwissenschaftliche Diskurs hegemonial wurde, hängt nicht nur mit einer (vermeintlich in sozialer Hinsicht machtneutralen) Wissensproduktion, sondern zweifellos mit seiner Funktion in einem sich entwickelnden Kapitalismus zusammen, also mit der zunehmenden Dominanz des ökonomischen Kapitals im »Feld der Macht« (dort wo die Auseinandersetzungen um die ›Kurse‹ der ›Leitwährungen‹ ausgetragen werden). Gleiches gilt für das kulturelle Kapital, jene Kapitalform, die in den westlichen-kapitalistischen Gesellschaften und so auch in der Bundesrepublik spätestens seit den Siebzigerjahren einen maßgeblichen Einfluss auf die horizontale Ausdifferenzierung hat. 5

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Schließlich zeigt Link anhand Wilhelm Hauffs Kunstmärchen Das kalte Herz (1827) den »historisch-spezifischen Ton« (verstanden als »Synthese aller generativen Teilsysteme«) auf, verbunden mit der Kritik an Bourdieus Adresse, dass dieser nur zeigen könne, »wie eine bestimmte Nische im literarischen Feld einen Autor machen und über ihn an der Generierung eines Tons beteiligt sein kann« (S. 82). Die Kritik, Bourdieu habe die feine Generierung des »Tons bzw. des generativen Apparats aus dem Selektions-, Kombinations- und Integrationsspiel der ›horizontalen‹ Achse der kulturellen Wissensproduktion« vernachlässigt, ist berechtigt und produktiv. Der unterschwellig zu vernehmende ›Determinismus‹-Vorwurf (Bourdieu schließe von einer bestimmten Position im literarischen Feld auf ein bestimmtes Genre, auf einen bestimmten ›Ton‹: hier: Massenproduktion – populäre Genreformen) ist es indes nicht 6 : Bourdieu hat nie behauptet, dass aus einer Position A automatisch die Positionsnahme A’ folgt, sondern – das meint sein Homologiepostulat – dass das Verhältnis der Position A zur Position B in einem Feld in einem homologen Verhältnis zum Verhältnis der Positionsnahme A’ zu B’ steht. Im gegebenen Fall wäre also Hauffs Position im literarischen Feld und der spezifische ›Ton‹ seines Kunstmärchens im Verhältnis zu z.B. Tieck und einem seiner Kunstmärchen und vielleicht – kontrastiv – zu einem ›naiven‹, womöglich in Vergessenheit geratenen Märchendichter der Zeit zu untersuchen.

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Das, worauf es hier ankäme (und dies wäre ein von Diskurs- und Feldanalyse geteiltes Interesse), wäre der Vergleich der Art und Weise, wie sich bei den jeweiligen Dichtern verschiedene gesellschaftliche Diskurse generieren bzw. brechen. Ein wesentliches Indiz zur Erfassung der sozialen Verteilungsstruktur oder Brechungsgrad der Interdiskurse wäre vermutlich auch hier die kulturelle Haltung des jeweiligen sozialen Akteurs, die sich an Distanz und Kontrolle (Reflexivität) bzw. an Nähe und Identifikation festmachen lässt, wie dies die Fallstudie von Burkhard Michel und Jürgen Wittpoth an einem anderen Gegenstand, nämlich der Rezeption von Fotografien deutlich macht.

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Kulturelle Praktiken

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Burkhard Michel / Jürgen Wittpoth: »Substanzielle und strukturelle Dimensionen kulturellen Kapitals. Habitusspezifische Sinnbildungsprozesse bei der Rezeption von Fotografien (S. 271–290)«

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Michel und Wittpoth reagieren auf eine (aus der Pädagogik stammende) Kritik an Bourdieus Begriff des kulturellen Kapitals. Diese sei aufgrund der in den letzten drei bis vier Jahrzehnten zu beobachtenden Verallgemeinerung und Veralltäglichung (Weber) höherer schulischer Bildung sowie ihres symbolischen (Distinktions-)Wertes in einer modernisierten Variante zu fassen: Im Gegensatz zum klassischen kulturellen Kapital der ›interesselosen Bildung‹ sei seine heute herrschende Form an einer am ökonomischen Maßstab gemessenen Verwertbarkeit des Wissens, an einer hohen Wertschätzung von Schlüsselqualifikationen, souveränen Umgang mit Technik, kurz: an einer Erfolgs-, Leistungs- und Effizienzorientierung festzumachen (S. 273; zur kritischen Diskursanalyse dieses Bildungsbegriffs s. den Beitrag von Georg Mein).

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Betont wird dagegen zu Recht, dass sich für Bourdieu kulturelles Kapital wesentlich in einer Haltung, im Umgang mit (und nicht Kenntnis von) legitimen Kunstwerken äußere, wobei sich ein homogener Habitus nicht nur im kulturellen Feld, sondern in verschiedenen, funktional differenzierten gesellschaftlichen Bereichen zeige. 7 So bringen Menschen, die sich eine große Menge kulturelles Kapital angeeignet haben, dies in einer »distanzierten Haltung zum Ausdruck, die in erster Linie an formalen, abstrakten, theoretischen, relationalen Aspekten und weniger an substanziellen Gehalten interessiert ist« (S. 274). Bourdieu – wie auch Teile der jüngeren Eliteforschung 8 – zeigten, dass der ›Habitus der Gebildeten‹ nicht durch die Schule vermittelt werden kann, »sondern lediglich als eine Norm« durchgesetzt werden kann, »die gerade von denjenigen anerkannt wird, die sie verfehlen. [...] Sie werden darauf verwiesen, ihre Anstrengungen zu intensivieren, Ausbildungsgänge also immer weiter zu verlängern, und erleben dabei, dass sie immer schon zu spät kommen« (ebd.).

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Der ›Mühsal der Aneignung‹ steht also ein souveräner, gleichsam von ›selbst gehender‹ Umgang mit Kultur entgegen. Die Fokussierung auf die Untersuchung des modus operandi 9 , des Habitus als »sozialisierte Subjektivität« (S. 277), erfolgt anhand eines empirischen Tests der Rezeption eines Familienbildes (Fotografie), also eines Gegenstandes des ›populären‹ Geschmacks. Dabei reflektieren Michel und Wittpoth – ähnlich wie Link hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Wissen und Macht – auf die Beziehung zwischen objektiven sozialen Strukturen und Praktiken, indem sie vor einer direkten Ableitung der Praktiken aus den Strukturen warnen (S. 278, Anm. 27).

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Zur Vermittlung zwischen Struktur und Praxis führen die Verfasser eine »dokumentarische Methode« an, die die Genese des Habitus nicht aus der Kapitalstruktur, sondern aus »milieuspezifischen Erfahrungsaufschichtungen bzw. ›konjunktiven Erfahrungsräumen‹« ableitet: »Auf Basis dieses konjunktiven Erfahrungsraums können sich die Gruppenmitglieder sozusagen ›ohne Worte‹ unmittelbar verständigen. Die selbstläufigen Diskurse der Realgruppen sind dann Teil ihrer kollektiven Praxis und können daher als Produkte des gruppenspezifischen Habitus (opus operatum) betrachtet werden, in denen sich der entsprechende modus operandi dokumentiert« (S. 278). Fraglich bleibt an dieser Stelle, ob diese Methode auch über real zusammentreffende Gruppen und ›Milieus‹ (deren soziologische Bestimmung nicht unumstritten ist) hinaus trägt und ob sich der Begriff der »Dokumentation« von allein versteht.

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Die Ergebnisse des konkreten Tests zeigen eine Entsprechung zwischen dem Umfang des kulturellen Kapitals als Form einer kulturellen Kompetenz und der Rezeptionsweise der betreffenden Fotografie: Untersucht wurden drei Gruppen 10 , deren kultureller Umgang sich folgendermaßen hinsichtlich Nähe und Distanz zum abgebildeten Gegenstand zeigt: 1. Gruppe: emphatisches, identifikatorisches Miterleben der Harmonie des Bildes; 2. Gruppe: verstrickte Ablehnung des gezwungenen Posierens fürs Familienalbum (negative Identifikation); 3. Gruppe: zynisch-ironisches Spiel mit dem Bild (ästhetische Betrachtungsweise; S. 286). Daraus lassen sich drei verschiedene Rezeptionsmodi ableiten (S. 287): 1. einen referentiellen Modus (Bild wird auf eine außerbildliche Wirklichkeit bezogen), 2. einen rhetorischen (Bild wird als hergestelltes Zeichen betrachtet), 3. ein sozialer Bruch, d.h. ein »Bruch mit der alltäglichen Einstellung zur Welt« und die »systematische Ablehnung alles ›Menschlichen‹« (»Die feinen Unterschiede«, S. 58 f.). Auffällig ist jedoch, dass die soziale Herkunft, das soziale und kulturelle Erbe der untersuchten Gruppenmitglieder hier ganz unberücksichtigt bleibt.

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Markus Rieger-Ladich: »›Schizoide Disposition‹ oder
›Gespaltener Habitus‹? Eine pädagogische Lektüre
von Franz Kafkas Brief an den Vater«

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Das Erbe der sozialen Dispositionen, das bei Michel und Wittpoth nicht ins Blickfeld gerät, wird dagegen von Rieger-Ladich reflektiert. Sein Beitrag »›Schizoide Disposition‹ oder ›Gespaltener Habitus‹? Eine pädagogische Lektüre von Franz Kafkas Brief an den Vater« bietet einerseits eine zu pädagogischen, psychoanalytischen oder individualpsychologischen Erklärungen alternative Position zum Vater/Sohn-Verhältnis im Hause Kafka. Andererseits meint er, aus dem Brief an den Vater auch allgemeine Erkenntnisse für die Pädagogik ableiten zu können. So lautet seine These, dass es sich um einen Text handle, »der jene Form der Entfremdung peinlich genau dokumentiert und schonungslos festhält, die sich zwischen zwei Individuen ausprägt, die in sehr unterschiedlichen Segmenten des sozialen Raumes situiert sind und in der Folge völlig unterschiedliche Habitus ausprägen. Die von Franz Kafka immer wieder beklagte Fremdheit im Verhältnis zu seinem Vater und die schmerzlich vermisste Vertrautheit scheint auf diese Weise der Dynamik des sozialen Raumes geschuldet – und eben nicht persönlichem Versagen oder individuellen Unzulänglichkeiten« (S. 102).

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Die (Mit-)Ursache des Vater / Sohn-Konflikts liege demnach in der Entfernung innerhalb des sozialen Raumes – bei gleichzeitiger großer Nähe im physikalischen Raum (Kafka lebte bis zum 31. Lebensjahr im Haushalt der Eltern): »Der Habitus des Aufsteigers, der als jüdischer Geschäftsmann beachtlichen ökonomischen Erfolg errungen hat, der freilich kaum kulturelles Kapital akkumuliert hat und um seine gefährdete gesellschaftliche Stellung weiß, trifft auf den Habitus des Schriftstellers und Intellektuellen, der in seiner beruflichen Tätigkeit als Jurist keine Befriedigung erfährt und der Welt der Ökonomie völlig fremd gegenübersteht« (S. 113 f.). Das Vater / Sohn-Verhältnis vom Blickpunkt ihrer Positionen im sozialen Raum her zu beleuchten, ebenso wie die Bezugnahme auf Bourdieus Ausführungen über »Widersprüche des Erbes« in Das Elend der Welt (Konstanz: UVK 1997, S. 651–658), dass nämlich soziologisch gesehen, der Vater oft als »Träger und Werkzeug eines ›Projekts‹« fungiere, während die Aufgabe des Sohnes darin bestehe, »Erbe« zu sein, die immanenten Dispositionen des Vaters fortzuführen, das in ihm Leib angenommene ›soziale Projekt‹ zu reproduzieren, bietet so eine neue Perspektive für die Kafka-Forschung und darüber hinaus für andere Fälle eines problematischen sozialen und kulturellen Erbes (S. 116).

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Unklar bleibt dann jedoch, wieso Rieger-Ladich in der Ausgangsthese von einer – aus der Entfernung im sozialen Raum resultierenden – Ausprägung zweier »völlig unterschiedliche[r] Habitus« spricht (S. 102). Auch die soziologische Möglichkeit der ›Entfernung im sozialen Raum‹ zwischen Vater und Sohn wäre anhand des konkreten Falles genauer zu untersuchen (der soziale Auf- und Abstieg innerhalb einer Generationsfolge, die ›geerbten Dispositionen‹, die sowohl den schnellen Auf- wie auch Absteiger prägen etc.). Schließlich lässt der Aufsatz einige übergeordnete Fragestellungen vermissen, so die nach der soziologischen Epistemologie literarischer Texte und des Dichters (hier: Kafka) als Quasisoziologe und betroffenes Objekt zugleich. Auch vermisst man zumindest eine Andeutung, ob womöglich auch andere Kräfte (vor allem des literarischen Feldes) auf den im Verhältnis zur geerbten Vaterwelt ›gebrochenen Habitus‹ wirken und ob bzw. wie sich dieser in den literarischen Texten jenseits des ausdrücklichen Vater-Sohn-Konflikts erkennen lässt.

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Klaus-Michael Bogdal: »Alles nach Plan, alles im Griff.
Der diskursive Raum der DDR-Literatur
in den Fünfziger Jahren«

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Der Beitrag des Literaturwissenschaftlers Klaus-Michael Bogdal über den »diskursive[n] Raum der DDR-Literatur in den fünfziger Jahren« bietet eine hervorragende analytische Skizze, anhand derer sich allgemeine Beziehungen im sozialen Raum und genauer: des literarischen Feldes im Verhältnis zum dominanten politischen Feld und dessen hegemonialen Diskurs studieren lassen. Dabei wählt Bogdal, der von einer historischen Diskursanalyse kommt, die sich auch auf die Analyse der Institutionen erstreckt, ›intuitiv‹ die Begrifflichkeit, die dem Bourdieuschen Ansatz gerecht wird, denn er spricht vom (diskursiven) »Raum« der DDR-Literatur in den Fünfzigerjahren und nicht vom (literarischen) »Feld«. Letzteres weist sich – folgt man Bourdieu – durch ein Mindestmaß an Autonomie aus, d.h. durch die Ausprägung eigener, hier: literarischer ›Spielregeln‹ und Akteure als Maßstab seiner Abgrenzung von anderen Feldern sowie als Kriterium seiner Perpetuierung. Dagegen ist es sinnvoll von einem »Raum« zu sprechen, wenn die (Re-)Produktion der eigenen praktischen Logik oder maßgeblich herrschenden Regeln sowie die durch diese Logik definierten Akteure (ein eigener Berufsstand, ein eigener (Spezial-)Diskurs, ein eigenes Berufsethos etc.) keine eigenständige, d.h. relativ-autonome soziale Existenz hat.

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Bogdal versucht in dem vorliegenden Beitrag »die Möglichkeitsbedingungen von Literatur unter der Voraussetzung eines radikalen räumlichen Einschnitts, der Teilung Deutschlands, der Zerstörung der materiellen Ressourcen durch den Krieg und der mit politischer Gewalt herbeigeführten sozialen Umschichtungen und des Wechsels der Eliten zu erfassen. Es ist zu fragen, auf welche Weise sich unter diesen veränderten Bedingungen eines Staates, der sich den Sozialismus zum Ziel setzt, das Literatursystem der Moderne, das sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte, weiterentwickelt« (S. 123). Mit dieser Fragestellung wird dem Verhältnis zwischen der historischen Entwicklung literarischer Autonomie oder Selbstregulierung (Autonomisierungsprozess des literarischen Feldes sowie Ausbildung eines spezifischen ›literarischen‹ Kapitals als Kennzeichen einer literarischen Moderne 11 ) und der Entwicklung des Staates (der – zumindest in Europa bis in die 1970er-Jahre – das alle anderen gesellschaftlichen Felder umspannende ›Feld der Macht‹ wesentlich prägte) nach.

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Den Kern der Problematik, der in der Frage besteht, ob die DDR-Literatur ein eigenes literarisches Feld (im Sinne Bourdieus) darstellte, erfasst Bogdal, indem er auf Bourdieus Unterscheidung der Legitimationssphären des literarischen Raums (bzw. Feldes) zurückgreift: einer »Legitimationssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung« (zu der primär die durch den Staat »legitimierten Legitimationsinstanzen« gehören), einer in der Öffentlichkeit konkurrierenden »Sphäre potentieller Legitimation« (in der z. B. Kritiker und literarische Gruppierungen agieren) und einer im Alltag situierten Sphäre »nicht legitimierter Legitimationsinstanzen« (S. 125 f.). 12 Im Folgenden gibt der Beitrag eine reichhaltige Skizze (vor allem auf der Ebene der Institutionen, der Diskurse und des Selbstbildes der neuen Autoren) des Prozesses der Vereinheitlichung und Fremdbestimmung dieser drei »legitimierten Legitimationsinstanzen« in der DDR der Fünfzigerjahre durch die ideologischen, heteronomen Vorgaben einer Parteidoktrin, die darauf zielte, die Differenzen zwischen diesen Sphären und damit auch ihre Funktionsteilung in der Gesellschaft aufzuheben (vgl. S. 126).

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Dabei sind die Anfänge des kulturellen Raums der DDR widersprüchlicher Art, denn es konkurrierten in der SBZ mehrere Modelle: die Rückkehr zum pluralen System der Moderne vor 1933, der Umbau der vom Nationalsozialismus geschaffenen Strukturen oder die Übernahme des sowjetischen Konzepts (S. 125). Insbesondere ist dann der Hinweis auf die sozialstrukturellen und mentalen Kontinuitäten wichtig, die die Entwicklung des kulturellen Raumes maßgeblich mitbestimmte und sich auf drei Traditionslinien zurückführen lassen: die des bürgerlichen Humanismus der Aufklärung und Klassik, die der nationalen Befreiungsbewegungen von 1813 und die der Vormärzideale von 1848. Mit diesen Traditionsreferenzen sollten das Bildungsbürgertum, Nationale und Liberale erreicht werden (S. 128). Schließlich spiegelte der »hegemoniale Literaturbegriff der ersten beiden Jahrzehnte, ein Konglomerat aus der kleinbürgerlich-proletarischen Alltagsästhetik der Aufsteigerschicht in Partei und Verwaltung und der bildungsbürgerlichen Antimoderne der integrierten alten Eliten«, die »ästhetischen Bedürfnisse der beiden wichtigsten Leserschichten dieser Phase affirmativ wider« (S. 136).

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Damit wird eine von (unterschwelligen) Kontinuitäten geprägte Wandlung des kulturellen bzw. literarischen Raumes erfasst, der nur anfänglich und nur vereinzelt (z.B. mit Brecht, Weill) noch den Anschluss an die ausdifferenzierte literarische Moderne hielt und sich zunehmend durch eine von der Parteidoktrin vorgegebene Entdifferenzierung von ihr abkoppelte. Dies zeigt Bogdal pointiert anhand einer zunehmenden Diskreditierung bzw. Bekämpfung des Formalismus und des Kosmopolitismus (vgl. S. 140 f.) einerseits, der Wendung zu ästhetisch konventionellen und traditionalistischen Richtungen und Werken, die eine »literarische Ersatzbürgerlichkeit« (S. 131) schufen andererseits und schließlich anhand der zunehmenden politischen Durchsetzung der ästhetischen Einheitsbestimmung eines (nationalen) Realismus. Das Ende der Aufbau- und Übergansphase des literarischen Raums der DDR hin zu einem »institutionell zwingenden System« (Foucault) erfolgte a) durch eine strikte und immer enger werdende Markierung seiner Grenzen, b) durch die gleichzeitige Intervention der politischen Macht, c) durch die Verhinderung der internen Ausdifferenzierung durch Homogenisierung der Legitimationssphären und Etablierung einer ästhetischen Wertehierarchie, d) durch die Festlegung der Autorposition, die Bürokratisierung (Weber) der Schreibprozesse und schließlich e) durch rigide Ausschlussprozeduren und die Durchsetzung der Definitionshoheit sowie deren juristischer Verankerung (S. 133).

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Bogdal zieht am Ende seiner Skizze folgende Schlussfolgerung: »Der systematische Umbau des literarischen Raumes führt in eine schwere Krise, die seit den sechziger Jahren eine langsame Rückorientierung auf das differenzierte Literatursystem der Moderne erzwang« (S. 145). Damit meint er das Aufkommen einer ›zweiten‹, von der Politik geduldeten Öffentlichkeit, in der die DDR-Schriftsteller auch international literarische Anerkennung erlangen konnten. An dieser Stelle könnte dann zu Bogdals historischer Diskurs- und institutioneller Analyse die Feldanalyse treten und – auf dem Hintergrund des hier so fruchtbar aufbereiteten Materials – die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Autonomisierung dieser ›zweiten‹ Öffentlichkeit und somit nach der Entwicklung eines eigenen literarischen Feldes der DDR-Literatur im Anschluss an die internationale literarische Moderne weiter verfolgen.

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Oliver Müller: »Messbare Dichtung? Eine Feldstudie
zur exakten Literaturwissenschaft in den 1960er Jahren«

[45] 

Oliver Müllers Beitrag »Messbare Dichtung? Eine Feldstudie zur exakten Literaturwissenschaft in den 1960er Jahren« thematisiert eine historisch signifikante, weil krisenhafte Phase in der Entwicklung der deutschen Literaturwissenschaft, als deren Definition und Legitimation infrage gestellt waren. In den von Müller ausführlich dargestellten Debatten, die der 1965 von Helmut Kreuzer und Rul Gunzenhäuser herausgegebene Sammelband Mathematik und Dichter auslöste, lassen sich zwei neue Legitimationsstrategien und eine ›Beharrungsposition‹ feststellen: Einerseits eine szientistische Legitimation, die auf das »Wissen, das andere (formalisierte) Wissenschaften bereitstellen« (Linguistik, Kybernetik), zurückgreift, andererseits die Strategie des Praxisbezugs, die sich nach einer didaktischen und einer ideologiekritischen Zielsetzung ausrichtet. Hinzu tritt noch eine literaturwissenschaftliche Position, die sich beharrlich über die Autonomie der Dichtung bzw. des Werkes legitimiert.

[46] 

Wenn Müller das Scheitern des interdisziplinären Projekts einer Koppelung zwischen Mathematik (die sich im Laufe des Prozesses hin zur Linguistik verlagert) und Literaturwissenschaft feststellt, scheint er dies unterschwellig zu bedauern. Das Scheitern macht er an einer Konkurrenz der verschiedenen Definitionen des wissenschaftlichen Kapitals fest, wobei er grundsätzlich auf das Verhältnis von Kapitalmenge und Position eines Akteurs im Feld reflektiert: »Da ich [...] nicht davon ausgehe, dass die Bestimmung des Kapitals in jedem Feld gleichermaßen fix ist, halte ich die Relationen von Positionen für eine sekundäre und abgeleitete Größe, die sich mit den Definitionen des relevanten Kapitals ändern. Zur Verteilungsstruktur rechne ich neben der Menge des verfügbaren Kapitals aller Typen insbesondere die Relationen zwischen den konkurrierenden Definitionen des dominierenden Kapitaltyps« (S. 152). Die hier gegebene Anregung, das Verteilungsverhältnis der verschiedenen Kapitalsorten komplexer zu bestimmen, ist überlegenswert. Es fällt dabei jedoch die Tendenz des Beitrags auf, »Kapital« und »Position« eines Akteurs zu entkoppeln und den Schwerpunkt auf eine losgelöste ›Eigendynamik‹ verschiedener Kapitalsorten (in dieser Hinsicht den Spezialdiskursen ähnlich) zu legen.

[47] 

Fraglich ist, ob soziale »Positionen« im Verhältnis zu »Kapitalakkumulationen« sowie ihrer gesellschaftlichen Verteilungsstruktur sekundär und abgeleitet sind oder nicht vielmehr in einem untrennbaren Wechselverhältnis stehen. Ein Ansatz, der die Entwicklung der ›Kapitalien‹-Verhältnisse gleichsam wie Wechselkurse an der Börse untersucht (hier etwa: das mathematisch-linguistisch vs. das literaturwissenschaftlich-werkautonom definierte Kapital), ohne die sozialen Akteure dieser Kapitalaneignungen bzw. dieser Verteilungs-, d.h. Definitionskämpfe zu untersuchen, wodurch erst Begriffe wie Habitus oder angeeignete Kompetenz: kurz das generative, an einen (sozialisierten) Körper gebundene Motiv des modus operandi ins Blickfeld gerät, verkürzt den Ansatz Bourdieus. Diesem ging es stets um beide Seiten eines sozialen Prozesses: um die Geschichte des Feldes, der objektiven Relationen und Positionen, und um die Geschichte der beteiligten sozialisierten Individuen, ihrer habituellen Dispositionen.

[48] 

Einmal abgesehen von dieser problematischen Tendenz einer Loslösung der Kapitalanalyse stellt Müller daraufhin die interessante These eines allgemeinen Zusammenhangs hinsichtlich der Transformierbarkeit einer (hier: literaturwissenschaftlichen) Kapitalsorte als Grundlage von Interdisziplinarität überhaupt auf: »Da nun mit abnehmender Definitionssicherheit auch die Transformierbarkeit tendenziell abnimmt, provoziert Konkurrenz oft Integrationsstrategien. Es kann aber auch zu einer Aufteilung des Feldes kommen – zu seiner Stabilisierung durch ›externe‹ Faktoren, die nicht ohne Auswirkung auf die Bestimmung seines Kapitals bleiben dürfte – oder zu seiner Schrumpfung bis hin zum Verschwinden« (S. 153).

[49] 

Liefert Müllers »Fallstudie«, die, wie es an einer Stelle überraschend heißt, keine sein will (S. 172), eine spezielle Untersuchung der diskursiven Auseinandersetzungen, so wäre eine zukünftige Erweiterung zu einer exemplarischen Fallstudie wünschenswert, an der sich verallgemeinerbare Erkenntnisse ablesen lassen und auf Basis derer sich thesenhafte Zuspitzungen formulieren ließen, etwa hinsichtlich der Transformierbarkeit konkurrierender wissenschaftlicher Kapitalsorten (letztlich der drei ›großen‹: des natur-, sozial- und des geisteswissenschaftlichen) und ihres Zusammenhangs mit der Möglichkeit von Transdisziplinarität (in Ergänzung zu der Link interessierenden Frage nach der Möglichkeit von Interdiskursivität). Auf diese Weise ließe sich dann auch eine Antwort auf die Frage geben, was aus dem Legitimationskonflikt der hier vorgestellten (Neu-)Fassungen literaturwissenschaftlichen Kapitals (oder Kompetenz) letztlich geworden ist (einschließlich eines Ausblicks auf jüngere Legitimationskrisen der [deutschen] Literaturwissenschaft und ihrer Bewältigungsversuche [etwa durch eine ›kulturwissenschaftliche Öffnung‹ hin zur Transdisziplinarität]).

[50] 

Ingrid Gilcher-Holtey: »Pierre Bourdieu und Jürgen Habermas
angesichts der Ereignisse von 1968«

[51] 

Ingrid Gilcher-Holtey vergleicht »Pierre Bourdieu und Jürgen Habermas angesichts der Ereignisse von 1968«. Sie geht den Interventionen im öffentlichen Raum dieser beiden herausragenden Intellektuellen und Wissenschaftler nach, um allgemeine Ursachen und Ziele der Bewegung sowie die jeweiligen Charakteristika der wissenschaftlichen (genauer: soziologischen) Felder in Frankreich und in Deutschland aufzuzeigen. 13 Als wichtigster, von Bourdieu selbst angeführter Unterschied zwischen den akademischen Feldern, auf denen sich die beiden Intellektuellen mit ihren Stellungnahmen platzierten, ist auf deutscher Seite das Gewicht des Verhältnisses zur nationalsozialistischen Vergangenheit zu nennen (S. 181 f.). In Frankreich gab es dagegen das (für Bourdieu besonders) prägende Ereignis des Algerienkrieges.

[52] 

Was die wesentlichen gemeinsamen Punkte der Stellungnahmen und Fragestellungen der 1929 bzw. 1930 geborenen Forscher angeht, so ist zunächst die »geteilte Erfahrung« von Bedeutung, »daß das universitäre Leben in Europa auf ziemlich arrogante Weise in geschlossenen Kreisen zirkulierte«, wie Bourdieu in seinem Artikel zu Habermas’ Geburtstag 1999 »Vive le Streit« schrieb. 14 Die Grundlage gemeinsamer Fragestellungen bestanden in der Abgrenzung von der »›damals triumphierenden‹, von Talcott Parons [sic], Paul Lazarsfeld und Robert Merton dominierten amerikanischen Sozialwissenschaft, aber auch die Rezeption von Georg Lukács, die kritische Reflexion der Werke Martin Heideggers sowie die Auseinandersetzung mit dem Marxismus« (S. 183).

[53] 

Aus diesen wissenschaftlichen Ausrichtungen und Abgrenzungen erwuchs bei beiden eine Hinwendung zu Belangen der Öffentlichkeit. So beschäftigten sich beide in ihren ersten Forschungen mit der Soziologie der universitären Welt, wobei sie beide die Studenten nicht als wichtigen politischen Faktor ansahen, sondern sich auf die staatlichen Initiativen, die Universitäten zu reformieren, konzentrierten (S. 184). Sie beobachteten dabei die »technokratischen Versuche, die strukturelle Unfähigkeit der traditionellen Universität zu überwinden« (ebd.) und stimmten in der Notwendigkeit überein, »das Zuteilungssystem staatlicher Unterstützungen zu verändern und eine nicht spezialisierte Bildung aufrechtzuerhalten und neu zu definieren« (S. 185). Beide wollten »Anti-Hérétiers« (Anti-Erben) sein. 15

[54] 

Während Habermas aber für ein »Studium generale« und gegen die unkritische, entpolitisierte Übernahme des jüngsten deutschen historischen Erbes eintrat (»Entpolitisierung der Massen bei fortschreitender Politisierung der Gesellschaft selbst« 16 ), ging es Bourdieu darum, die »Effekte des Klassenerbes zu minimieren«: erst durch die »Neubestimmung der vermittelten Inhalte« 17 , dann – dies bleibt bei Gilcher-Holtey unerwähnt – durch die (sich über mehrere Arbeiten erstreckende) Analyse der so genannten »jakobinischen Ideologie« und ihres »egalitären Mythos«, wonach die Praktizierung formaler Gleichheit etwa beim Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen oder zu den Kunstmuseen eine die Reproduktion sozialer Ungleichheit und Benachteiligung verdeckende Rolle spielt. 18

[55] 

Obwohl beide junge Professoren waren und die Protestmobilisierung unter den Studenten direkt wahrnahmen, mischte sich jedoch nur Habermas in diese Mobilisierungsbewegung direkt ein. Gilcher-Holtey erklärt dies vor allem mit der jeweiligen Stellung im wissenschaftlichen Feld: Während Bourdieu um 1968 als »directeur d’études« an der VI. Sektion der Ecole Pratique des Hautes Etudes in einer eher am Rande der Universität und der Probleme der Studenten gelegenen Einrichtung tätig war, befand sich Habermas sowohl auf diskursiver, wie auch auf feldstruktureller Ebene mittendrin in den Auseinandersetzungen. Mit seiner Untersuchung zum Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) war er zu einer maßgeblichen intellektuellen und wissenschaftlichen Autorität hinsichtlich der Analyse einer »entpolitisierte[n] Öffentlichkeit« als »funktionsnotwendige Grundlage einer die Stabilität des wirtschaftlichen Wachstums sichernden Politik« geworden (vgl. S. 188 f.). Erst nach den Ereignissen vom 2. Juni 1967 (in deren Kontext Habermas den Begriff »Linksfaschismus« prägte) distanzierten sich die Studentenbewegung und seine eigenen Assistenten (z. B. Oskar Negt) von ihm (S. 189). Was Habermas 1967 / 68 von Teilen der studentischen Protestbewegung trennte, war die Verteidigung der »historischen Errungenschaft« des Verfassungsstaates.

[56] 

Mit dieser Feststellung der diskursiven Positionsnahme von Habermas wendet sich nun der Aufsatz der Ebene des Feldes der Soziologie in Deutschland zu. Jenseits der verschiedenen Positionen bildete dessen allgemeine Grundlage der für alle maßgebliche Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus. Drei Pole bildeten das Spannungsfeld der deutschen Soziologie, die durch Schelsky (Soziologie als »metaphysische Planungswissenschaft«), Horkheimer / Adorno (Soziologie zwischen amerikanisch-empirischen und deutschen-philosophischen Methoden) und König (soziologisch-empirische Forschungen) repräsentiert wurden. »Wenn man die Frankfurter Schule als Feld innerhalb des Feldes der Soziologie betrachtet, positionierte sich Habermas mit dieser Stellungnahme [zur Studentenbewegung] zwischen Horkheimer und Adorno auf der einen und Marcuse auf der anderen Seite« (S. 190). Habermas vermittelte im internen Konflikt der Gruppe und erkannte den Beitrag von Marcuse zur Entwicklung der Kritischen Theorie an, wodurch er die Tradition des intellektuellen Engagements des Instituts fortschrieb und die seit Anfang der 1940er-Jahre von Adorno und Horkheimer zunehmend vertretende Position überwand, der Wissenschaft komme nur die Analyse des »Falschen« und nicht die Bestimmung des »Richtigen«, d.h. die politische Intervention zu.

[57] 

Gilcher-Holtey zieht daher ein plurifaktorielles Fazit: Die Rolle, die von Habermas im Feld der Soziologie der BRD eingenommen wurde, war einzigartig: Seine Zugehörigkeit zur Tradition der Frankfurter Schule, sein kulturelles und symbolisches Kapital sowie die politische Situation (Parlament ohne Opposition, Verabschiedung von Notstandsgesetzen etc.) erklären, warum er als Vertreter der Frankfurter Schule und als Staatsbürger (mit dem »negativen Bezugsereignis« des Falls der Weimarer Demokratie) mehrmals das Wort ergreift, um die Ereignisse von 68 zu analysieren und zu kommentieren (S. 197).

[58] 

Dagegen sei für Bourdieu keine vergleichbare Situation festzustellen: Es gibt nicht die Grundreferenz der Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit; der Mobilisierungsprozess der Protestbewegung in Frankreich ist kürzer und das Feld der Soziologie ist in Frankreich anders strukturiert. Mit seiner Untersuchung Les Héritiers (Die Erben) nimmt Bourdieu von Anfang an eine kritische Position bezüglich der Studentenbewegung ein. Sein, dem französischen wissenschaftlichen Feld geschuldetes Konzept einer Soziologie, die sich (in der Tradition Durkheims) deutlich von der Philosophie abgrenzt, lenkt ihn auf die empirische Forschung. Laut Gilcher-Holtey findet Bourdieu erst nach 1989, als ein ›Vakuum‹ in der politischen und intellektuellen Linken entstand, einen »Weg zu einem politischen Engagement, das als Zurückweisung der Ideologien und Praktiken der Parteien an der Macht sowie als Unterstützung aller Ausgeschlossenen der Gesellschaften konzipiert ist.« Bourdieu habe eine Stelle besetzt, die nach Sartres Tod und dem »Scheitern der neuen Philosophen« leer geworden war (S. 198).

[59] 

Hier ist die Skizze von Gilcher-Holtey ein wenig vage und zu hinterfragen: Es gibt gute Gründe, die ›Genese‹ der politischen Interventionen Bourdieus als ein von Anfang angelegtes Charakteristikum seiner wissenschaftlichen Laufbahn und Arbeit anzusehen und nicht in der Kategorie des Bruchs oder Wechsels (der im Falle Bourdieus weniger mit 1989 als mit dem Jahr 1995, den Streikbewegungen in Frankreich und dem Auftreten des ›Medienintellektuellen‹ zusammenhängt) zu fassen. Die freilich von Gilcher-Holtey nicht vertretende, aber in anderen Zusammenhängen oft zu vernehmende Aufteilung eines wissenschaftlichen Bourdieu einerseits und eines politisch-engagierten, aber dafür an wissenschaftlicher Autorität verlierenden Bourdieu ist eine künstliche, ja ideologisch-geprägte. Bourdieu hat sich – im Gegensatz zur Kritischen Theorie und ihrer Weiterentwicklung der marxschen These vom »falschen Bewusstsein« − mit dem Feld- und Habituskonzept auf die Erforschung der »objektiven Relationen, die ›unabhängig vom Bewusstsein und Willen der Individuen‹ bestehen« 19 und auf die sozialisierte Subjektivität konzentriert, auf das unbewusste Wahrnehmen, Urteilen und Handeln als subjektiver Ausdruck der inkorporierten sozialen Strukturen.

[60] 

Abschließend muss mit Gilcher-Holtey betont werden, dass Bourdieu weder die rationalistischen Grundannahmen der »Theorie des kommunikativen Handelns«, nach denen sich Kraft eines guten Argumentes ein Konsens herstellen und zu sozialem Handeln beitragen lasse 20 , noch das Mandat des »allgemeinen Intellektuellen«, das Habermas in Anspruch nahm, teilte. Dagegen verfolgte er die Konzeption einer von (oft verkannten) Zwängen und agonalen Interessen geprägten Welt und die Idee eines »kollektiven Intellektuellen«, der sich auf der Basis eines spezifischen Wissens engagiert (S. 199).

[61] 

Georg Mein: »Humanressourcen. Anmerkungen
zur Semantik des Wissenschaftsraums«

[62] 

Der Band wird abgeschlossen mit Georg Meins diskurs- und ideologiekritischem Beitrag »Humanressourcen. Anmerkungen zur Semantik des Wissenschaftsraums«. Anhand von programmatischen Texten, bildungspolitischen Direktiven etc. geht er der diskursiven, ideologischen Schöpfung eines europäischen einheitlichen Bildungs- und Universitätsbegriffs nach, der insofern Realitäten schafft, als er sich zunehmend mit politischer Macht vereint. Mein führt verschiedene Wortlaute und Vorgaben an, die die universitäre Realität Deutschlands und Europas von heute maßgeblich bestimmen: Zitaten etwa aus der gemeinsamen Erklärung der Europäischen Bildungsminister am 19. Juni 1999 in Bologna, den Vorgaben zur Einführung von Leistungspunktsystemen und der Modularisierung von Studiengängen (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 15.09.2000), Zitate aus dem Leitfaden für Gutachter/-innen in Akkreditierungsverfahren (verabschiedet am 20. Juni 2001), der Publikation der Europäischen Kommission: »Der europäische Forschungsraum. Ein Binnenmarkt des Wissens« (Luxemburg 2002), aus dem Schlussbericht der Enquete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft (2002, hg. vom Deutschen Bundestag), aus dem Kommuniqué Den Europäischen Hochschulraum verwirklichen der Konferenz der europäischen Hochschulministerinnen und -minister vom 19. September 2003 in Berlin.

[63] 

Alle diese Diskursproben zeigen den politischen Willen nicht nur zur Neubestimmung des Bildungs- und Universitätsbegriffs, sondern auch zur Schaffung einer sozialen Realität, die zugleich als bereits existierend vorausgesetzt wird (S. 296). 21 Die gegenseitige Durchdringung von Wissen und politischer Macht fußt auf dem nicht mehr hinterfragten Commonsense eines Wechsels des Kapitalismus von der Industrie- hin zur Informationsgesellschaft. Diese (politische) Aufwertung des Bildungskapitals steht im Zeichen einer hegemonialen Ökonomisierung des Sozialen (»eine Art permanentes ökonomisches Tribunal« 22 , S. 297), die die Universalisierung (Globalisierung) der Konkurrenzbeziehungen einfordert. Mein entgeht dabei nicht, dass mit dieser Universalisierung des ökonomischen Prinzips oft (Re-)Nationalisierungstendenzen einhergehen bzw. verstärkt werden (S. 294). 23

[64] 

Dabei profitiert die Verschleierung der partikularen Interessen im politischen Diskurs von den theoretischen Unschärfen des dominanten Begriffs der Globalisierung bzw. einer neuen, »zweiten« Moderne (Giddens, Beck; S. 293). Diese diskursive »Unschärfe«, das Changieren, die Hybridisierungen, die Koppelungen im Bildungsdiskurs 24 , die oft auf die »Konstruktion und Legitimation von Gegensatzpaaren« zurückgreift (»winner – loser «, dynamisch-flexibel − träge, modern – antimodern etc., S. 293), lassen sich letztlich als eine Form diskursiver Mythologie analysieren und verstehen. 25

[65] 

Auf politischer Ebene zeigen sich diese Koppelungs- und Austauschbeziehungen in der Koppelung ökonomischer, kultureller und wissenschaftspolitscher Machtpositionen, auf institutioneller Ebene in dem Wechselverhältnis zwischen regionalen wirtschaftlichen Interessen, den finanziellen Etats der Länder und der Einrichtung von (Re-)Produktionsstätten zur Abdeckung des jeweiligen, partikulären Wissensbedarfs 26 , schließlich in einer vorhersehbaren – und auch politisch gewollten – Angleichung der Universitäten und der Fachhochschulen. Diese Akkumulation verschiedener Machtressourcen zur Schaffung sozialer Realitäten lässt sich direkt von der Zielsetzung der Europäischen Kommission ablesen, »Europa bis zum Jahr 2010 zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen« (Rahmenprogramm für Forschung und technologische Entwicklung in Europa (2002–2006), Brüssel 2002, S. 9, zit. bei Mein S. 306).

[66] 

Schließlich weist Mein – mit Rückgriff auf Bourdieu – darauf hin, dass die Durchsetzung und Legitimierung der herrschenden politisch-ökonomischen Ideologeme, der gegenwärtigen Soziodizee, nicht auf ›nackter‹, sondern auf symbolischer Gewalt und Herrschaft basiert, d.h. auf einer weitgehend internalisierten und vorbewussten Anerkennung der Denk- und Bewertungsmuster der Herrschenden durch die Beherrschten (S. 303). Diese stillschweigende Anerkennung besteht nach Bourdieu weitgehend in einer Verkennung der Kontingenz und in einem Vergessen der historischen Genese sozialer (Macht-)Verhältnisse, Denkmuster und Wertungsweisen (wie sie hier Mein anhand der Diskurs-Dokumente skizzenhaft wieder ins Bewusstsein rückt). Nach dem sozialen Raum ist es diese Form der Anamnese, die für die Kulturwissenschaften zweifellos noch weitere (produktive) Herausforderungen bereithält.

[67] 

Fazit:
Kulturwissenschaftliche Kopplung
von Großbegriffen

[68] 

Der Titel des Bandes zieht in einem heute zwar weit verbreiteten Gestus, jedoch auch in einer nicht selbstverständlichen Breite einige ›Hauptregister‹ sozial- und kulturwissenschaftlicher Großbegriffe: »Soziale Räume«, »kulturelle Praktiken«, »strategischer Gebrauch«, »Medien«. Diese Großbegriffe erlauben bereits vor allen Inhalten die Koppelung von Beiträgen aus verschiedenen Disziplinen (Soziologie, Literaturwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Geographie und Geschichte) und die Platzierung in einem sozial- und kulturwissenschaftlichen Verlagsprogramm. Mit der Koppelung von Großbegriffen, die mit dem allgemeinen Kennzeichen der sich wesentlich hybrid definierenden Kulturwissenschaften zu korrespondieren scheint (vgl. Fohrmanns Beitrag, S. 93), ist jedoch noch nicht per se ihr wissenschaftlicher Ertrag sichergestellt. Die ›große Klammer‹ der hier vereinigten Beiträge, die auf keine Tagung, sondern auf die Initiative der Herausgeber zurückgehen, sollen eine Reihe von Begriffen und Theoremen Bourdieus bilden.

[69] 

Diese Klammer wird jedoch in den einzelnen Beiträgen in ganz unterschiedlichem Maße beachtet. Die Spannbreite reicht von sehr ertragreichen, theoretisch oder anhand eines spezifischen Gegenstandes differenziert argumentierenden Überlegungen bis hin zur lediglich marginalen Bezugnahme auf die Soziologie Bourdieus. Von daher versucht die durchaus hilfreiche, verschiedene relevante Aspekte von Bourdieus Soziologie kultureller Räume und Praktiken kurz benennende Einleitung vergeblich das einzuholen, was manche Beiträge (Oliver Sill über Hera Linds Roman Das Superweib; Amina Klappert über Art Spiegelmans Maus-Comic) nicht bieten: den »Bezug auf das Modell des sozialen Raums« (Einleitung, S. 9).



Anmerkungen

Wieso allerdings Schultheis in diesem Zusammenhang den französischen Begriff der »trajectoire« durchgängig mit »Flugbahn« übersetzt, da dies doch irreführende Konnotationen an Karl Mannheims Begriff des »freischwebenden Intellektuellen« weckt, wie der Verfasser, der von der »Schwerkraft der gesellschaftlichen Welt« spricht (S. 18), zweifellos nur allzu gut weiß, ist unklar.   zurück
Bezug auf: Michel Foucaults Aufsatz »Andere Räume«, in: Ders.: Shortcuts, hg. v. Peter Gente u. a. Frankfurt / M. 2001, S. 20–38, hier S. 24 ff.   zurück
Zu einer sozioanalytischen Bestimmung des Verhältnisses der Positionen Bourdieus, Foucaults und Derridas siehe den Aufsatz von Louis Pinto: »Volontés de savoir. Bourdieu, Derrida, Foucault«. In: Louis Pinto / Gisèle Sapiro / Patrick Champagne (Hg.): Pierre Bourdieu, sociologue. Paris: Fayard 2004, S. 19–48. Zum Verhältnis Bourdieu – Luhmann siehe: Armin Nassehi / Gerd Nollmann (Hg.): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorievergleich. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2004.   zurück
Bourdieus Soziologie erschöpft sich freilich nicht in einer Habitustheorie: dominant ist die damit untrennbar verbundene Feldtheorie.   zurück
Vgl. Michael Vester et al.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2001, bes. das Kapitel »Horizontale Differenzierung: »Postindustrielle Wissensgesellschaft«, S. 74–77.   zurück
Vgl. hierzu: Jacques Bouveresse: Bourdieu, savant & politique. Marseille: Argone 2003, hier der Abschnitt »Faut-il avoir peur du déterminisme?«, S. 37–40.   zurück
Am eklatantesten ist in dieser Hinsicht sicherlich Bourdieus Analyse der Homologie zwischen dem philosophischen und dem (verdeckten und verneinten) politischen Habitus Martin Heideggers (Pierre Bourdieu: »Die politische Ontologie Martin Heideggers«. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1988).   zurück
Vgl. Michael Hartmann: »Klassenspezifischer Habitus oder exklusive Bildungstitel als soziales Selektionskriterium. Die Besetzung von Spitzenpositionen in der Wirtschaft«. In: Beate Krais (Hg.): An der Spitze. Von Eliten und herrschenden Klassen. Konstanz: UVK 2001, S. 157–208.   zurück
Dass die Fokussierung auf das Wie die Gefahr birgt, dass das Was aus dem Blick gerät, merken die Verfasser selbst S. 285, Anm. 33 mit Bezug auf Karl Mannheim an, der die Relevanz der inhaltlichen Dimension einer Äußerung für die Analyse ihrer Machart betonte.   zurück
10 
Gruppe 1 besteht aus fünf Berufsschülerinnen zwischen 18 und 24 Jahren mit Mittlerer Reife in Ausbildung zur Arzthelferin; Gruppe 2 aus 2 Frauen und 1 Mann, zwischen 21 und 24 Jahren alt, Abitur, die sich über die Berufsschule kennen, die sie parallel zur ihrer Banklehre besuchen; Gruppe 3 besteht aus 2 Frauen, 1 Mann, zwischen 27 und 35 Jahren alt, abgeschlossenes Studium, die sich durch die Arbeit in einem mittelständischen Fachverlag kennen (S. 279).   zurück
11 
Vgl. hierzu Pascale Casanova (La république mondiale des lettres. Paris: Seuil 1999) die versucht hat, die Strukturen und Dynamiken eines weltweiten literarischen Feldes anhand der Verteilung eines spezifisch literarischen Kapitals aufzuzeigen. Dieses spezifische literarische Kapital zeigt den Beitrag am Prozess der Erringung (internationaler) literarischer Autonomie (oder einer ausdifferenzierten, selbstreflexiven Moderne) an, der tendenziell, aber nicht immer und zwangsläufig, im Gegensatz zu einer nationalen Bestimmung der Literatur steht (s. insbesondere das Kapitel 3: »L’espace littéraire mondial« mit den Unterkapiteln: »Les chemins de la liberté«, »Le méridien de Greenwich ou le temps littéraire«, »Nationalisme littéraire«, »Nationaux et internationaux«, »Les formes de la domination littéraire«). Auch Casanova würde – wie Bogdal (s. u.) – dieses ›literarische Kapital‹ wesentlich an formalen und kosmopolitischen Dispositionen und Positionen festmachen.   zurück
12 
Zitate aus Pierre. Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1974, S. 109.   zurück
13 
Eine analytische Skizze des französischen wissenschaftlichen bzw. soziologischen Feldes und seiner Position in demselben, gibt Bourdieu in seinem »soziologischen Selbstversuch« (Frankfurt / M.: Suhrkamp 2002).   zurück
14 
Vgl. auch in dieser Hinsicht Bourdieus kritischen Seitenblick auf heutige Institutionalisierungsformen der cultural studies und ihrer »Botschaften«: »Doch die wichtigste und gleichwohl am wenigsten sichtbare Eigentümlichkeit der philosophischen Welt an jenem Ort und zu jener Zeit [gemeint sind die philosophischen »Khâgnes« der 1950er Jahre, wie etwa die Ecole Normale Superieure, H.T.] – wie vielleicht immer und überall – ist sicher eine scholastische Abschottung, die, selbst wenn sie auch andere Kultstätten des akademischen Lebens kennzeichnet, Oxford oder Cambridge, Yale oder Harvard, Heidelberg oder Todaji, eine ihrer beispielhaftesten Ausprägungen in der geschlossenen, abgesonderten, den Wechselfällen des realen Lebens entzogenen Welt fand, in der um die fünfziger Jahre die meisten jener französischen Philosophen unterwiesen wurden, deren Botschaft heute einen planetarischen campus radicalism beseelt, wie er sich insbesondere im Umfeld der cultural studies zeigt.« P. Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch (s. Anm. 13), S. 16.    zurück
15 
Zum Vergleich der »Erbschaft« Bourdieus, Foucaults und Derridas vgl. L. Pinto: »Volonté de savoir« (Anm. 3), Abschnitt: »Héritages sous inventaire«, S. 41–48.   zurück
16 
Jürgen Habermas, Albrecht Wellmer: »Zur politischen Verantwortung der Wissenschaftler«. In: Ulrich K. Preuß: Das politische Mandat der Studentenschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1969, S. 133–138, hier S. 138.   zurück
17 
Pierre Bourdieu: »Aufruf zur Bildung von Generalständen in Unterricht und Forschung. In: Ders., Interventionen, Bd. I (1961–1980). Hamburg: VSA 2003, S. 67–74, hier S. 70.   zurück
18 
Vgl. dazu die grundlegende Studie (zusammen mit Jean Claude Passeron): »La reproduction« (dt.: »Die Illusion der Chancengleichheit«, Stuttgart: E. Klett 1971) und »Interventionen«, Bd. 1 (1961–1980), Hamburg: VSA, 2003, S. 34: »Die Angehörigen der benachteiligten Klassen haben die formale Möglichkeit, die Museen zu besuchen oder sich für die höchsten Concours zu bewerben, aber sie haben keine reale Möglichkeit, von dieser formalen Möglichkeit Gebrauch zu machen.« Vgl. auch Sebastian Herkommer: Metamorphosen der Ideologie. Zur Analyse des Neoliberalismus durch Pierre Bourdieu und aus marxistischer Perspektive. Hamburg: VSA 2004, bes. S. 34–38.   zurück
19 
Pierre Bourdieu / Loїc Wacquant: Reflexive Anthropologie. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1996, S. 126 f.   zurück
20 
Die These einer dem Diskurs selbst immanenten persuasiven Kraft verschleiert deren sozialen Bedingungen. Die persuasive Kraft des Diskurses ist eine symbolische Macht, die von den ihr zugrunde liegenden Kräfteverhältnissen abstrahiert. Dass die Macht des diskursiven Akts letztlich auf den sozialen bzw. institutionellen Bedingungen des Gebrauchs von Sprache beruht, versucht Bourdieu in Was heißt sprechen. Die Ökonomie des sprachlichen Tausches (Wien: Braumüller 1990) zu zeigen.   zurück
21 
Dass die neoliberalen (individual- und marktfundamentalistischen) Universitätsreformen andererseits von einer universitären, zu reformierenden Situation ausgeht, die so schon längst nicht mehr besteht (der strukturelle Umbau der Universitäten datiert ja nicht erst aus den 1990er Jahren), zeigt für die französischen Verhältnisse das »Schwarzbuch der universitären Reformen« auf (s. Abélard: Universitas calamitatum: Le Livre noir des réformes. Bellecombe-en-Bauges: Éditions du Croquant 2003, hier das Kapitel 1: »Avant même la réforme, l’Université n’est déjà plus celle que la réforme se propose de transformer«, S. 11–38).   zurück
22 
Begriff mit Bezug auf Foucault aus: Ulrich Bröckling / Thomas Lemke, / Susanne Krasmann: »Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologie. Eine Einleitung«. In: Dies. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2000, S. 7–40, hier: S. 17.   zurück
23 
Zu einer Soziologie der Globalisierung, die ihr kritisches Augenmerk auf die Wechselbeziehungen zwischen nationalen und internationalen Machtprofiten richtet, siehe Actes de la Recherche en Sciences Sociales (N° 151–152, mars 2004), insbesondere den Beitrag von Yves Dezalay: »Les courtiers de l’international. Héritiers cosmopolites, mercenaires de l’impérialisme et missionnaires de l’universel«, S. 5–35.   zurück
24 
»Bildung wird auf Information reduziert, von Kompetenz verdrängt und mit Wissen identifiziert, um schließlich von Qualifikation überholt, um schließlich in soft-skills eingebettet zu werden« [292]; Mein zeigt an anderer Stelle die frappante Koppelung von »Wissensgesellschaft« und Auslese der »Humanressourcen«, 293, oder die Koppelung des technokratischen Begriffs der »Schlüsselqualifikationen« und der Universitätskonzeption Wilhelm von Humboldts, 295.   zurück
25 
Zu einer strukturfunktionalen, (inter-)diskursanalytischen Definition der Mythologisierung s. z. B. Rolf Parr: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«. Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks (1860–1918). München: Fink 1992, hier bes. S. 38–54.   zurück
26 
Auf die Problematik der Regionalisierung der hochschulpolitischen Entscheidungen, die einerseits zunehmend von den länderspezifischen finanziellen Etats abhängen, andererseits auf die lokalen wirtschaftlichen Interessen reagieren, weist – mit einem Seitenblick auf die Bundesrepublik – Christian de Montlibert hin (Savoir à vendre. L’enseignement supérieur et la recherche en danger. Paris: Éditions Raisons d’Agir 2004, S. 64).   zurück