Ortrun Rehm

Auf der Suche nach
einer Rhetorik des Widerstands




  • Kirsten Wechsel: Grenzüberschreitungen zwischen Realität und Fiktion. Engagierte Ästhetik bei Inger Christensen und Kjartan Fløgstad. (Palaestra 314) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 284 S. Gebunden. EUR 49,00.
    ISBN: 3-525-20587-2.


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Literatur und Kunst als die potentiellen Domänen des Widerstands gegen totalitäre Herrschaftsansprüche spielen in der Kulturkritik seit Marx eine Rolle. In der Kulturphilosophie des 20. Jahrhunderts nimmt die Reflexion über die Avantgarde insofern einen besonderen Raum ein, als diese den ›herrschaftsfreien‹ Bereich der Kunst zu einer Absage an etablierte bürgerliche Systeme nutzte und den gesellschaftlichen Paradigmenwechsel durch die Revolution ästhetischer Kategorien zu antizipieren versuchte.

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Zweifel an der Legitimität solch einer elitären, auf Autonomie beharrenden Kunst setzten in Skandinavien ein, nachdem sich im Zuge der 1968-Revolten wiederholt auch namhafte Künstler zu Wort gemeldet und durch ihre Teilnahme an öffentlichen Aktionen sowie engagierte Plädoyers für soziale Gerechtigkeit und Transparenz bei politisch-wirtschaftlichen Interaktionen eine breite Öffentlichkeitswirkung erzielt hatten. Dies führte in den 70er Jahren zu einer ausführlichen Debatte über pro und contra einer engagierten Kunst. Diskutiert wurden dabei u. a. die Funktion der Literatur in der Gesellschaft, die Rolle des Autors wie auch seine eventuellen politisch-didaktischen Aufgaben für die Allgemeinheit. Angesichts der massiven gesellschaftlichen Fehlentwicklungen schien eine Verteidigung der Kunstautonomie fragwürdig geworden und die Instrumentalisierung der Kunst im Dienste übergeordneter gesellschaftlicher Ziele ein Gebot der Stunde zu sein.

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Das gesellschaftspolitisch aufgeladene Klima jenes Dezenniums bildet den historischen Hintergrund für Kirsten Wechsels Göttinger Dissertation, in der sie sich die Frage stellt, wie Kjartan Fløgstad (Norwegen) und Inger Christensen (Dänemark), zwei herausragende, weithin anerkannte Künstler, auf Diskussionsthemen und Forderungen ihrer Zeitgenossen reagieren. Einerseits geht es Wechsel darum, den historischen Rekurs auf bestimmte, damals für die Kulturdebatte zentrale Probleme in zwei ausgewählten Werken dieser Autoren nachzuweisen und andererseits zu fragen, ob und in welcher Weise sowohl Fløgstad in seinem Roman Fyr og flamme (1980) als auch Christensen in der Erzählung Det malede værelse (1976) Widerstand artikulierten. Daß dies inhaltlich wie formal auf je verschiedene Weise und auch innerhalb ganz unterschiedlicher Kontexte geschieht, betont Wechsel ausdrücklich:

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Während Fløgstad seinen Text als Gegenentwurf zum Sozialrealismus konzipiert, verweist Christensen auf jene psychoanalytisch geprägte Geschlechterdebatte, an der sich sowohl die zeitgenössische feministische Literatur wie die neue Männerliteratur beteiligten (S. 24).
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Was die beiden Autoren in ihrem utopischen und damit gesellschaftsveränderndem Bestreben dennoch verbindet, ist nach Wechsel der Versuch, »die Entfremdung des modernen Subjekts von seiner Umwelt, seine Fragmentierung, aufzuheben.« Beide sehen in einem »Konzept der Intersubjektivität einen Weg, um Zusammenhänge herzustellen, ohne dabei auf von der Postmoderne kritisierte universelle Sinnvorstellungen zurückzugreifen« (S. 24). Es ist die »Überschreitung der Grenzen zwischen Lebenswelt und Kunst, zwischen Realität und Fiktion« das entscheidende, auf die Postmoderne verweisende Moment, das in Wechsels Deutung beiden Texten als Intention eingeschrieben ist. Fløgstad wie Christensen geht es darum, eine solche Grenzüberschreitung lediglich mittels literarischer Kategorien zu exemplifizieren, und in dieser Absicht stellen sie, jeweils vor einem anderen historischen Hintergrund, die Relation zwischen Welt, Autor und Werk zur Debatte (S. 25). Hierdurch, so betont Wechsel in ihrer Ausgangsthese, antizipieren die Autoren bereits Jahre vor der breiten Postmoderne-Rezeption in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Engagementdebatte in Skandinavien »postmoderne Fragestellungen« (S. 10).

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Bevor Kirsten Wechsel zu einer gründlichen Analyse der beiden nach Textblöcken getrennt untersuchten Werke ansetzt, befaßt sie sich mit der Frage nach Herkunft und Bedeutung des Engagementbegriffs und seiner Handhabung durch Sartre. Sie kommt sodann auf die Infragestellung von Sartres Konzept durch Adorno zu sprechen sowie auf jene Skepsis, die Vertreter des französischen Poststrukturalismus einhellig dem literarischen Engagement gegenüber geäußert haben. Was Autoren wie Foucault, Derrida und Barthes aus philosophischer Sicht gegen eine Literatur einzuwenden haben, deren Rede sich als Rhetorik des Widerstands versteht, der poststrukturalistischen Überzeugung nach jedoch im Keim selbst wiederum den totalitären Anspruch des Systems impliziert, wird in der Dissertation durch die klar und knapp zusammengefaßten Argumentationsweisen dieser Denker vermittelt. Wechsel geht jedoch davon aus, daß die beiden im Mittelpunkt stehenden skandinavischen Autoren, trotz der rigorosen Absage jener philosophischen Richtung an jegliche Form von Sinnentwurf (und Utopie), dennoch nach Wegen der Vereinbarkeit von Engagement und postmoderner Haltung gesucht bzw. sie praktiziert haben (S. 9). Diese Wege aufzuzeigen, ist das Ziel ihrer Textarbeit.

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Eine problematische Liaison

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Im Einführungskapitel über den Norweger Kjartan Fløgstad und seine literarische Standortsbestimmung (Kapitel 2.1) äußert Wechsel hinsichtlich der umstrittenen Zuordnung Fløgstads zur Postmoderne keine Bedenken, obwohl sie sich dieser problematischen Liaison bewußt ist. Sie referiert bei der Charakterisierung dieses Autors, der sich offiziell zu Marxismus und Realismus bekennt, auf jene Kritiker, die vom postmodernen Anstrich seiner Ästhetik überzeugt sind, weil markante Symptome seiner Schreibweise sich zuweilen mit poststrukturalistischer Kritik berühren (S. 32). 1 Um jedoch die Diskussion über diesen Punkt auszusetzen, interessiert sie sich explizit nicht weiter für die Frage, »ob Fløgstad Postmodernist, Poststrukturalist oder Marxist ist«, sondern im Sinne V. Zimas dafür, »welchen Beitrag die spezifische Verbindung poststrukturalistischer Theoreme mit einer sozialistischen Utopievorstellung innerhalb einer postmodernen Problematik leisten« (S. 33. Hervorh. OR).

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Dem chronologischen Verlauf des umfangreichen Romans Fyr og flamme folgend, behandelt Wechsel nun in einer Folge klar gegliederter Kapitel die für ihre Fragestellung interessanten Figuren, Etappen und Vorgehensweisen des Romans. Sie weist dabei nach, inwiefern Fløgstads Beschäftigung mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule sowie seine Anlehnung an und spätere Distanzierung von Adorno von Bedeutung war, und welchen nachhaltigen Einfluß andererseits Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns auf Fløgstads Denken und Schreiben ausübte. Für das Verständnis seiner Schreibweise in Fyr og flamme ebenso wichtig ist, wie sie zeigt, die Rezeption von Bachtins Theorie des dialogischen Erzählens. Seine Erkenntnisse über die Tradition der karnevalistischen Lachkultur, die Bedeutung der erzählerisch realisierten Vielstimmigkeit sowie die Anwendungsmöglichkeiten seines Modells auf die heutigen Sprachverhältnisse bilden, wie Wechsel überzeugend nachweist, den Dreh- und Angelpunkt der Fløgstadschen Ästhetik in diesem Roman.

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Gesellschaftskritik
unter Berücksichtigung
der Klassengegensätze

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Wechsels Präsentation des Romans Fyr og flamme beginnt mit der Erläuterung seines historischen Hintergrundes durch den Hinweis auf seine Konzeption als Entwicklungsgeschichte Norwegens vom Agrar- zum Industriestaat, insbesondere seiner ironisch gebrochenen Bezugnahme auf die Geschichte der Arbeiterpartei im 20. Jahrhundert. Für die »Kartographie« der zunächst im Zeichen der Hoffnung einsetzenden Industrialisierung, durch welche einfache Arbeiter zu ›Helden‹ der sozialistischen Utopie aufsteigen konnten, zeichnet ein fiktiver Erzähler verantwortlich (Kapitel 2.2). Dem Arbeitermilieu entstammend, von diesem jedoch durch die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende »Bildungsexplosion« entfremdet, repräsentiert dieser schreibende proletarische Schulmeister selbst das Schicksal der Nachkommen einer aus zeitlicher Distanz heroisch erscheinenden Vergangenheit.

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Anhand der Lebensläufe verschiedener Protagonisten, die er sich als Vertreter dreier aufeinander folgender Generationen von Arbeiterfamilien denkt, läßt das alter ego Fløgstads in diesem Roman Aufstieg und Fall der Arbeiterbewegung Revue passieren. Mittels der Erfahrungen seiner Figuren reflektiert er, wie im Zuge der Automatisierung der Fabriken die Arbeit sukzessiv abgewertet wurde und sie mit ihrer revolutionären Macht auch ihre utopische Bedeutung für die Gesellschaft verlor. Aus den Konflikten des 20. Jahrhunderts ging, wie der Roman zeigt, lediglich das ökonomische System mit seinem vom rationalen Zweckhandeln bestimmten Denken gestärkt hervor. Bei steigendem Wohlstand gelang es diesem mühelos, die Kinder der Arbeiterklasse für sich zu vereinnahmen. Denn nach dem Verlust des in der Arbeit selbst begründeten Ethos setzte unter den Arbeitern ein explizites Erwerbsdenken ein, dem sich schließlich die allseitige Bereitschaft zum unbegrenzten Konsum beigesellte (vgl. die Kapitel 2.3.2 und 2.3.3). Wie Wechsel mit Blick auf Fløgstads Habermas-Rezeption zeigt, führte auch in der norwegischen Entwicklung ein schnurgerader Weg »von der Industriekultur zur Kulturindustrie« (S. 93).

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Im letzten, dem Roman Fyr og flamme gewidmeten Kapitel, das mit »Utopie im Medienzeitalter – Die Wandlung des Schriftstellers zum Krimihelden« überschrieben ist, holt den mit einer Reihe grotesker Züge ausgestatteten fiktiven Erzähler das von ihm kritisierte System ein. Der proletarische Geschichtsschreiber wechselt damit die erzählerischen Ebenen, d.h. er greift in die nun im Stil eines Detektivromans weitergeführte Handlung als »Krimiheld« selbst ein. Durch eine letzte Metamorphose offenbart er sich an seinem Lebensende als eine bizarre, karnevalistische Figur, deren ›Unsterblichkeit‹ sich nach ihrem Verschwinden aus der ›Lebenswelt‹ in der Welt des Textes manifestiert, wo sie als biographische Notiz in einer Boulevardzeitung ›wiederersteht‹.

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Das im Zeichen der Identitätsfindung begonnene Projekt dieses ›Geschichtenerzählers‹ endet, nach Wechsels Dafürhalten, durch dessen Eintauchen in das Genre der Trivialliteratur sowie der Massen-
kommunikationsmittel nicht nur mit der Aneignung eines »grotesken, unabgeschlossenen [Text-] Leibes«, an dem die Massen partizipieren, sondern auch mit der Aufhebung seiner Isolation. Der von der Menge zunächst durch Bildung und Sprache abgeschnittene proletarische ›Intellektuelle‹ sichert sich durch den Facettenreichtum seiner von Komik und Paradoxie geprägten Entwicklung zuletzt wieder die Anteilnahme und das Lachen der Menge – was im Sinne Bachtins als Ausdruck kollektiver Solidarität gewertet werden kann. Keiner der von Wechsel der Reihe nach als karnevalistische Helden identifizierten Protagonisten erlebt bei Fløgstad eine Befreiung im Stile des zeitgenössischen Sozialrealismus. Ihr Scheitern ist vielmehr unausweichlich und beruht auf jenen »Verdinglichungstendenzen innerhalb der Arbeiterklasse«, die Fløgstad mit Habermas auf eine »fortschreitende Kolonialisierung der Lebenswelt« zurückführt (S. 249).

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Das subversive, gegen das System gerichtete Potential seines Textes ist somit nicht auf der narrativen Ebene zu greifen. Der Autor konstituiert seine Gesellschaftskritik vielmehr stilistisch und sprachlich durch die Verbrüderung mit der ›niederen‹ Populärkultur, durch Perspektivenvielfalt und Vielstimmigkeit, durch die Paradoxien eines perpetuierenden grotesken Karnevalismus sowie eine äußerst differenzierte, mit den Registern der Mundart spielende Sprache, welcher in Norwegen aus historischen Gründen immer schon die Dichotomie der Zweisprachigkeit und damit der Widerstand gegen die Einsinnigkeit des Systems eingeschrieben ist.

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Methodische Vorgehensweise
bei der Bearbeitung von Fyr og flamme

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Die zu Beginn der Arbeit zu Fløgstads Roman formulierte Fragestellung verfolgt Kirsten Wechsel zielstrebig. Sie konzentriert sich auf solche Befunde, die auf der Linie ihres Erkenntnisinteresses liegen und im Einführungskapitel ihre begriffliche Fundierung erfahren. Während ihres Durchgangs durch den Roman greift sie die jeweils auftauchenden ästhetischen, sozialgeschichtlichen und literaturhistorischen Problemstellungen auf, um sie progressiv in ihre Analyse einzubinden. Methodisch werden Inhaltsreferat, Textbeobachtungen, Autorkommentare, ästhetische Standpunkte von Autorkollegen, Bemerkungen zur Intertextualität des Romans sowie theoretische Einschübe miteinander verschränkt und zu einem Geflecht reichhaltiger Reflexionen verwoben. Für die Übersicht über diese heterogene Aussagenfülle sorgt die Untergliederung der größeren Kapitel in zahlreiche, eigene Überschriften führende Unterkapitel.

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Der Einwand, der beim Lesen dieses gut präsentierten ersten Textteils dennoch auftaucht, bezieht sich auf das bereits erwähnte ideologische Problem, Fløgstads Roman »vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Theorien« (S. 24) zu lesen, zumal der Leser letztlich im Ungewissen darüber bleibt, ob der Autor sich diesen Hintergrund selbst gegeben hat oder ob er von Wechsel hypothetisch angenommen wird. Ihre logisch stets nachvollziehbaren Überlegungen und klaren Formulierungen bleiben gerade in diesem Punkt etwas vage. Zweifel an einer solchen Positionierung, wenn auch in der abgeschwächten Form seiner Zuweisung zur »postmodernen Problematik«, kommen auf, wo Wechsel Zitate anführt, deren Sichtweisen diesen Schluß nicht unbedingt nahelegen. So etwa im Falle von Fløgstads enthusiastischen Ausführungen über das Kino, das er als einen Ort inspirierender kollektiver Erfahrungen hoch bewertet, weil man dort während der Zeit der Vorführung gemeinsam »an den Ketten und am Schloß der Zwangsmechanismen« rütteln könne, und, wie Wechsel folgert, sich dadurch eine situative Voraussetzung zu kommunikativem Handeln biete (vgl. S.122, Anm. 113 und S.123). So sehr Wechsel bemüht ist, sowohl der Argumentationsweise Fløgstads innerhalb ihrer Fragestellung gerecht zu werden, wie auch diese der eigenen Beweisführung dienstbar zu machen: an einem Beispiel wie diesem werden die Grenzen der angenommenen poststrukturalistischen Matrix für Fløgstad sichtbar.

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Inger Christensens Meistererzählung
Det malede værelse

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Bei Inger Christensen stehen statt des Klassengegensatzes und der Intention, das verlorene utopische Potential der Arbeit durch einen bestimmten Sprachmodus zu kompensieren, der Komplex der Polarisierung der Geschlechter und ihre Problematisierung zur Diskussion. Christensen verlegt den Schauplatz ihrer historischen Erzählung außer Landes nach Mantua, jenem kleinen norditalienischen Fürstentum, das sich im 15. Jahrhundert unter den Fürsten von Gonzaga zu einem bedeutenden Zentrum der Frührenaissance entwickelte. Das berühmte, von Andrea Mantegna vollkommen ausgemalte Prunkgemach des Herrschers Lodovico Gonzaga, die sogenannte »Camera Picta«, bildet die malerische Vorlage für ihre Geschichte. In Det malede værelse bezieht sich jede der drei Teilerzählungen explizit auf eine der drei figürlichen Darstellungen der Fürstenfamilie in diesem ›gemalten Zimmer‹. Und so wie die in Stil und Farbqualität variierenden Gemälde verschiedene Ausschnitte des höfischen Lebens wiedergeben, so beschreibt auch Christensen in ihren drei Teilerzählungen jeweils einen anderen Aspekt des höfischen Mikrokosmos zu eben der Zeit, als Mantegna den Gonzagas in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als Hofmaler diente. In vielen Einzelheiten hält sie sich dabei an die kunst- und kulturgeschichtlich greifbaren Fakten, in ebenso vielen Einzelheiten aber unterläuft sie diese, um eine ganz ›andere‹ Geschichte des Fürstenhauses zu präsentieren.

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Vermittelt wird das Ganze durch drei fiktive Erzähler. Die erste Geschichte entstammt der Feder eines Hofbeamten, dessen Tagebucheinträge die Rekonstruktion der Entwicklungen zu Beginn der Neuzeit an diesem humanistischen Musenhof ermöglichen. Die zweite Geschichte, die von heimlichen Liebschaften namhafter Persönlichkeiten am Hof handelt, erzählt eine Frau, und zuletzt meldet sich ein 10jähriges Kind mit einem ›Schulaufsatz‹ zu Wort, um von seiner Phantasiereise in eines der Gemälde Mantegnas zu berichten. Die signifikante Perspektivierung von Christensens »Erzählung aus Mantua« veranlaßt Wechsel dazu, in einem ersten Analyseschritt die drei Teilgeschichten von Det malede værelse als Suche nach Identität durch Schreiben zu lesen. Hierbei bilden Objektbeziehungs- und Narzißmustheorie ihren theoretischen Ausgangspunkt, die in den 70er Jahren in Dänemark
en vogue waren.

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Wechsels These zufolge geht es Christensen in allen drei Fällen darum, die frühneuzeitliche Subjektkonstitution mit einem Trend in der dänischen Selbstfindungsliteratur der 70er Jahre zu parallelisieren. Dem ersten Dissertationsteil entsprechend, stellt sie nach der Einführung der dänischen Autorin ihrer Textanalyse wiederum die Darlegung der theoretischen, dem psychoanalytischen Kontext entstammenden Prämissen voran. Ein wesentliches, diesen Einfallswinkel nahelegendes Indiz ist für Wechsel dabei die Feststellung, daß das Erzählertrio die Struktur der Familie nachbildet. Obwohl diese Figuren auf der narrativen Ebene keinen signifikanten Bezug zueinander aufweisen, kann sie darin das für die Konstitution von Identität so zentrale »ödipale Dreieck« wiedererkennen. Der Reihe nach widmet sie sich folglich den einzelnen Erzählern, um ihre Geschichten als Selbstentwürfe zu deuten, die aus jeweils anderen Gründen zur Überwindung einer Krise unternommen werden.

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›Selbstschreibversuche‹
der fiktiven Erzähler

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Unter Berücksichtigung der frühneuzeitlichen Subjektkonstitution bezieht Wechsel die erste Erzählerfigur auf das Paradigma des melancholischen Künstlers, das in der Renaissance konzipiert wurde. Für sie bildet das Leiden dieser Figur an der Unwiederbringlichkeit einer ursprünglich als Einheit mit der Welt empfundenen (frühkindlichen) Existenzform ein kritisches Moment, auf das ihr Handeln und Denken durchwegs zurückbezogen werden kann. Aus dem angenommenen Verlust heraus läßt sich so beispielsweise das geheime Sehnsuchtsziel der Figur bestimmen, das in der ebenso erhofften wie gefürchteten Wiedervereinigung mit dem Weiblichen, seiner Geliebten, besteht. Wie sich zeigt, bildet aber gerade diese Frau im Hinblick auf den erschwerten Selbstfindungsprozeß ein so unüberwindliches Hindernis, daß diese Gattin eines Anderen getötet werden muß.

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In der axiomatischen Dichotomisierung der psychischen Kräfte in widerstreitende, miteinander nicht vereinbare Mächte wie z. B. Rationalität und Gefühl (und Phantasie), ist jenes Modell zu sehen, nach welchem für den Tagebuchschreiber die Welt als Ganze gespalten ist. In unaufhörlichem Widerspruch treten für ihn Außen und Innen, Vernunft und Triebwelt, Mann und Frau, Ordnung und Chaos auseinander. Zur Vernichtung der Frau, die als Liebesobjekt begehrt, aber als Repräsentantin des Irrationalen zugleich abgelehnt wird, kommt es laut Wechsel durch das Wiederaufleben der ödipalen Krise. Sie ist die Folge des ständigen Mißlingens der Identifikation mit einem positiven (väterlichen) Vorbild. Daher muß auch der Versuch, sich tagebuchschreibend aus dieser Krise zu befreien, mißlingen. Dieser Erzähler scheitert an der Unfähigkeit, sich sprachlich zu artikulieren. Seine Aufzeichnungen zeugen lediglich von einer »Rhetorik der Verrätselung«, die das verbergen soll, was den Verfasser der Blätter eigentlich im Innersten bewegt (vgl. Kapitel 3.2.3).

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Die Figur des Hofbeamten bezieht Wechsel auf die ›Krise der Männlichkeit‹ in den 70er Jahren, während die von der zweiten Erzählinstanz praktizierte Haltung den feministischen Diskurs jener Zeit aufgreift. Entsprechend verweist Wechsel hier auf Parallelen zur damals aktuellen Diskussion über die Geschlechterdichotomie und die Aufdeckung des Konstruktcharakters der traditionellen Frauenbilder. Sie versucht zu zeigen, daß auch Christensens Erzählerin das patriarchalische Muster nur perpetuiert, da sie zwar hinter einige Geheimnisse kommt, selbst im Schreiben aber wieder neue, unerklärliche ›Mysterien‹ erzeugt. Ihr Rückzug in das Labyrinth, mit der ihre unübersichtliche, vorsätzlich uneindeutig gehaltene Erzählung endet, bedeutet auch keineswegs den Einzug in einen utopischen Raum, da auch die Labyrinthform als Relikt eines mythischen, dennoch patriarchalischen Systems lediglich auf archaische Zeiten zurückweist. Auch die ungewöhnliche Lebensweise der Frauengemeinschaft im Labyrinth ist für Wechsel nichts Neues, sondern Fortsetzung und Modifikation der überkommenen ›klösterlichen‹ Gemeinschaftsformen.

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Die ›Traumreise‹ des Malersohnes in das Gemälde seines Vaters deutet Wechsel schließlich als Suche nach der verlorenen Mutter im Innern des Gemäldes, d.h., im Sinne Freuds, als Reise in das Unbewußte. Das Erzählte läßt sich dadurch als bildlicher Ausdruck für unbewußte Sehnsüchte, Wünsche und Ängste des kindlichen Erzählers interpretieren. Diesen Part bringt Wechsel mit der zeitgenössischen Literaturströmung der ›neuen Innerlichkeit‹ in Zusammenhang. Da der Junge aus dem, was ihn auf seiner Reise als Landschaft umgibt, nicht klug wird, ist Wechsel überzeugt, daß ihm prinzipiell Sinn und Verständnis dafür abgehen, die Welt zu deuten. Verkürzt gesagt folgert sie daraus, daß sein Weg von der Erfahrung der Sinnlosigkeit seiner eigenen Existenz determiniert wird. Da es auch am Ende seiner Reise zu keiner ›realen‹ Berührung mit der aus dem Hades zurückgekehrten Mutter kommt, markiert auch seine Suche nach Wiedervereinigung mit dem Verlorenen nur wieder ein Scheitern. Wie die anderen Geschichten bezeugt seine Erzählung eine melancholische innere Distanz zu den Ereignissen und ist damit Ausdrucks eines Mangels, der durch Schreiben nicht überwunden werden kann.

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Die »labyrinthische Metaerzählung«

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Keinem der Erzähler ist aus psychoanalytischer Sicht also Erfolg beschieden, weil ihren Projekten die historisch verankerte Geschlechterdichotomie des patriarchalischen Gesellschaftssystems sowie der damit zusammenhängende Schreibmodus (›paternal narrative‹) immer schon inhärent ist. In einem zweiten Analyseschritt versucht Wechsel nun zu zeigen, daß die dänische Autorin in Det malede værelse jedoch auf einer höheren Ebene eine »labyrinthische Metaebene«, in welche die drei Teilerzählungen eingebettet sind, etabliert, durch welche es dennoch gelingt, auf ästhetischem Wege einen widerständigen »herrschaftsfreien Übergangsraum« zu errichten. Auf dieser verborgenen, vom Rezipienten erst zu realisierenden abstrakten Ebene ist, wie Wechsel versichert, all das möglich, was in der systemkonformen herrschenden Ordnung vergeblich erscheint. Keiner der im ersten Analyseschritt registrierten Negativbefunde wird in dieser Metaerzählung fortgeschrieben: »Von der Melancholie der drei Erzähler ist die fröhlich verspielte, humorvolle Metaerzählung mit ihren komischen und burlesken Szenen [...] dennoch weit entfernt. [...] Statt melancholischen Verlust spiegelt die Metaerzählung Lebensfreude angesichts der Vielfalt und Veränderlichkeit der Welt« (S. 247).

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Auf der Metaebene, so lautet Wechsels Folgerung, findet nicht nur die intersubjektive und damit utopische Begegnung zwischen Leser und Text statt, sondern auch der Dialog zwischen den beiden Künstlern Mantegna und Christensen sowie der intermediale Austausch von Text und Bild. Das Ergebnis dieser differenzierten und mannigfachen Grenzüberschreitungen sind jene in der Erzählung anvisierten »neuen Geschichten«. Sie basieren auf der Kommunikation mit der Welt, in der nun nicht mehr die Überlegenheit des Subjekts über das Objekt dominiert, sondern, wie Wechsel es formuliert, eine Begegnung zwischen Subjekten möglich wird (S. 128).

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Das Scheitern der Selbstentwürfe der Erzähler bedeutet in Wechsels Sicht die Absage an das Konstrukt der Geschlechterdichotomie, gestattet aber nicht den Schluß, daß auch Christensens Versuch, sich engagiert und kreativ in die zeitgenössische Debatte einzubringen, mißlingt. Wie die dänische Autorin ihrerseits die Normen des patriarchalischen Systems unterläuft und mittels einer ironisch und spielerisch vorgetragenen Kritik dekonstruiert, versucht Wechsel vielmehr durch die Einführung jener zweiten Textkategorie, der »labyrinthischen Metaerzählung«, vorzuführen. Es ist dieser unsichtbare, vom Leser zu rekonstruierende, widerständige und vieldeutige Übergangsraum, in welchen Christensen ihre eigentliche Utopie eingeschrieben hat. Sie ist Resultat einer paradoxen, durch die Simultaneität von Konstruktion und Dekonstruktion gebildeten Dynamik des Gesamttextes, durch welche die Autorin sich in Det malede værelse von den kursierenden Utopien ebenso wie von gängigen Engagementvorstellungen distanziert.

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Fazit

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Im Ergebnis kann die Dissertation den beiden Autoren wohl ihr Engagement wie den Bezug zur zeitgenössischen Thematik der 70er Jahre nachweisen, und auch, daß sich ihr Sprachverhalten mit poststrukturalistischen Ansätzen in Verbindung bringen läßt.

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Allerdings stößt der Leser auch in diesem zweiten Teil der mit großem Engagement durchgeführten Interpretation auf ein Problem, das aus einer nicht völlig geklärten Begriffsverwendung resultiert. Es bleibt uneindeutig, wie Wechsel den Begriff der ›Metaerzählung‹ eigentlich versteht: Ist es eine abstrakte Kategorie, welche die Textproduktion reflektiert oder eine ›andere‹, inhaltlich strukturierte, also mit narrativen Elementen durchsetzte Erzählung, die im Gegensatz zur ›realen‹ Erzähleben sogar »komische und burleske Szenen« aufweist? Wechsel rubriziert unter dem für ihre Deutung so wichtigen Begriff so vieles und so verschiedenes, daß die Konturen dieses »labyrinthischen Übergangsraums« verschwimmen und er wegen der Fülle der widersprüchlichen Eigenschaften für den Leser nur schwer faßbar wird. Es wäre deshalb vielleicht sinnvoll gewesen, bestimmte Themen, beispielsweise die Mehrdeutigkeit des Zeithorizonts oder die komplexen Intertextualitäts-
befunde aus dem Kontext der Metaerzählung herauszunehmen und unter einem anderen Blickwinkel zu behandeln. Eine Beobachtungsfülle, die dies rechtfertigen würde, liefert Wechsels Dissertation allzumal.

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Erwähnt sei noch, daß der für die Christensen-Interpretation gewählte und auch äußerst konsequent durchgeführte psychoanalytische Ansatz einen sehr speziellen Einfallswinkel liefert, durch welchen es kaum möglich ist, auf die Vielzahl der ganz anderen, von Christensen ebenfalls reflektierten Aspekte näher einzugehen. Der etablierten theoretischen Dominanz zufolge konnte Wechsel die reichhaltigen kultur- und kunstgeschichtlichen Implikationen in diesem überaus komplexen und in seinen Grundzügen philosophischen Textgebilde zwar erwähnen, aber nicht mit der gleichen Ausführlichkeit behandeln.


Dr. des. Ortrun Rehm
Universität München
Institut für Nordische Philologie
Amalienstraße 83
DE - 80799 München

Ins Netz gestellt am 22.03.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Prof. Dr. Annegret Heitmann. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Ortrun Rehm: Auf der Suche nach einer Rhetorik des Widerstands. (Rezension über: Kirsten Wechsel: Grenzüberschreitungen zwischen Realität und Fiktion. Engagierte Ästhetik bei Inger Christensen und Kjartan Fløgstad. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001.)
In: IASLonline [22.03.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=103>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

So behauptet Atle Kittang beispielsweise, Fløgstad sei von jeher Postmodernist gewesen, während Helge Rønning diese Klassifizierung nicht akzeptiert. Er betont, daß Fløgstads literarisches Projekt lediglich die Kritik an einer bestimmten, dem sogenannten postmodernen Zustand huldigenden Denkweise enthalte. Vgl.: Rønning, Helge: »Individets lille og samfunnets store historie«. In: Samtiden Nr. 5 (1989). S. 25-38, hier S. 37/38.   zurück