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Hölderlins Dichtung am point of no return?

  • Hansjörg Bay: 'Ohne Rückkehr'. Utopische Intention und poetischer Prozeß in Hölderlins Hyperion. München: Wilhelm Fink 2003. 431 S. Kartoniert. EUR (D) 64,00.
    ISBN: 3-7705-3739-4.
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Zur Stellung des Hyperion im Gesamtwerk Hölderlins
– im Spiegel der Rezeptionsgeschichte

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Seit der epochalen ›Entdeckung‹ Hölderlins zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sind es vor allem die beispiellosen Texte seines lyrischen Spätwerks, die das Faszinosum dieses Autors ausmachen und seinen Ruhm als Dichter von weltliterarischem Rang begründen. Die Hochschätzung seiner zwischen 1800 und 1806 entstandenen Gesänge und Gedichtfragmente hat allerdings eine Schattenseite. Denn sie geht allzu oft mit der Ansicht einher, Hölderlin habe mit den kühnen, unerhörten Sprachexperimenten seiner Spätlyrik einen Grad künstlerischer Reife und Vollendung erreicht, welcher die Leistungen früherer Werkstufen, einschließlich des ›mittleren‹ Romanprojekts Hyperion, in den Hintergrund treten, wenn nicht verblassen lasse.

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Diese längst zum rezeptionsgeschichtlichen Stereotyp geronnene Sichtweise hat in Norbert von Hellingraths Vorrede zum vierten Band seiner Hölderlin-Ausgabe, dem epochemachenden Band mit Hölderlins später Lyrik (1916), ihren prototypischen Ausdruck gefunden. Hellingrath erblickt in den Gedichten von 1800 bis 1806, vor allem in den Hymnen in freien Strophen, »Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinischen Werkes, das eigentliche Vermächtnis« 1 und begründet die editorische Anordnung der Gedichte in diesem Band wie folgt:

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[...] der Band umfasst den Abschnitt des Werkes, worin Hölderlin, nicht mehr durch den Hyperion oder die Dramen abgelenkt, ganz sich seinem eigentlichen Beruf, dem lyrischen und im Besonderen dem hymnischen Gedichte, hingibt, so dass bei aller Größe das Frühere nur als Vorbereitung, das Spätere nur als Nachhall erscheint. 2
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Der Hyperion-Roman und das Empedokles-Drama werden hier zu Texten herabgestuft, die Hölderlin von »seinem eigentlichen Beruf« als Lyriker, genauer: als Hymnendichter »abgelenkt« hätten. Hölderlin habe, so Hellingrath, erst im Spätwerk als Dichter zu sich selbst gefunden, nachdem er sich mit der Arbeit im epischen und dramatischen Gebiet zunächst von seiner wahren Bestimmung, dem »göttliche[n] Beruf des Sängers«, 3 entfernt habe.

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Es ist bezeichnend für die Rezeptionsinteressen und -bedürfnisse der Hölderlin-Leserschaft im Gefolge der Hellingrathschen Entdeckung, aber auch für die spezifische Komplexität des Hyperion-Projekts, dass die eigentliche Erforschung des Romans erst 1965 mit Lawrence Ryans einflussreicher Monographie »Exzentrische Bahn und Dichterberuf« eingesetzt hat, 4 fünf Jahrzehnte nach dem Beginn der Hölderlin-Philologie auf Basis der editorischen Pionierarbeit Hellingraths. In dem Maße, in dem die Interpreten »Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinischen Werkes« in der späten Lyrik erblickten, wurde der Hyperion, der im neunzehnten Jahrhundert das bekannteste Werk des Dichters gewesen war, erst einmal in den Hintergrund gedrängt – so sehr, dass man sich angesichts der »notorische[n] Abwertung des Hyperion gegenüber dem Hölderlinschen Spätwerk« wundern mag, »wie seltsam ungelesen dieser Roman auch heute noch in wesentlichen Hinsichten ist.« 5

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Der Hyperion als poetologischer Schwellentext

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Vor diesem Hintergrund konnte Hansjörg Bay seinen 1998 herausgegebenen Sammelband mit neueren Forschungsbeiträgen zu Hölderlins Roman »Hyperion – terra incognita« betiteln, unter Berufung auf die Selbsteinschätzung Hölderlins, mit dem Romanprojekt eine »terra incognita im Reiche der Poesie« betreten zu haben (Brief an Neuffer, 21./23. Juli 1793; MA 2, 500). 6 Galt das erklärte Interesse dieses Sammelbandes »überwiegend dem, was nicht glatt ›aufgeht‹ in Hölderlins Roman«, 7 so setzt Bays im Dezember 2003 erschienene Freiburger Dissertation diese provozierende Deutungslinie konsequent fort, indem sie, methodisch »an der Grenze zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion« (S. 28, Anm. 8) angesiedelt, den Blick »auf die Brüche und Lücken, auf das Nicht-Gelingen und die unbewältigten Ambivalenzen« (S. 29) des Hyperion richten will.

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Die Studie unternimmt den Versuch einer eingehenden, »an den Verläufen des Textes« (ebd.) und seiner »Poetizität« (S. 19) orientierten Deutung, die zugleich eine Neubestimmung des werkgeschichtlichen Ortes von Hölderlins Briefroman beinhaltet, wie sie schon in Bays Sammelband von 1998 intendiert war: »Hyperion ist hier nicht mehr der ruhige, ›traditionelle‹ Roman, der Hölderlins aufregend wilder und moderner Lyrik der späteren Zeit vorausliegt, sondern eher der Ort, an dem sich sein Autor durchschreibt zur späteren ›Modernität‹ oder an dem diese in sein Schreiben hereinbricht.« 8 Im Rückgriff auf die These Rainer Nägeles, in den fiktiven Briefen des Protagonisten sei »ein Durcharbeiten des Autors zu seiner dichterischen Sprache am Werk, in dem Hölderlin erst ›Hölderlin‹ wird«, 9 deutet Bay den Roman als einen poetologischen ›Schwellentext‹, sowohl im Hinblick auf »seine Stellung in der Abfolge von Hölderlins Schriften« wie auch auf seinen »historische[n] Ort an der Schwelle zur Moderne« (S. 404).

[10] 

Das rezeptionsgeschichtliche Stereotyp der Abwertung des Hyperion gegenüber der späten Lyrik erfährt damit eine Korrektur: Der Roman erscheint nicht mehr als frühe, vergleichsweise »einfache« Vorstufe zu Hölderlins eigentlicher Leistung, sondern als »Verdichtung eines übergreifenden Prozesses und als Monade, die das ganze Werk in sich enthält.« (S. 405)

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Diese These bestätigt eine Einsicht Norbert von Hellingraths, die dieser schon in seiner Münchner Dissertation Pindarübertragungen von Hölderlin (1910) formuliert hatte: »Hölderlin hatte im Hyperion seine größte Breite und quellendste Blüte erreicht. [...] es gibt kaum ein Motiv seiner früheren Dichtung, das nicht im Hyperion erst seine wahre Form fände, kaum eines der späteren, das nicht vorgebildet wäre.« 10 Leider hat diese Bemerkung Hellingraths in der Forschung weitaus weniger Beachtung gefunden als sein vielzitiertes Diktum über die Spätlyrik als »Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinischen Werkes«.

[12] 

Abkehr vom
»teleologischen Interpretationsparadigma«

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Wenn es eine Erkenntnis gibt, die die neuere Hyperion-Forschung überhaupt erst möglich gemacht hat, dann ist es die Einsicht in die kompositorisch wohlkalkulierte Erzählform von Hölderlins Briefroman und deren Fundierung im »Denkraum« 11 der frühidealistischen Philosophie. Konstitutiv für die narrative Anlage des Romans ist seine in der Briefform begründete Zwei-Ebenen-Struktur, die auf dem »ständigen Gegenüber eines Erzählers Hyperion und eines erzählten Hyperion« basiert – ein Kunstgriff, den schon Wolfgang Binder in seinem Aufsatz »Hölderlins Dichtung im Zeitalter des Idealismus« (1967 / 1970) präzise und bündig beschrieben hat:

[14] 
Der Bericht aus der Rückschau endlich erlaubt dem Erzähler, sich des Ganzen deutend zu vergewissern; denn die zu erzählende Vergangenheit ist beim Beginn der Erzählung abgeschlossen. Im ständigen Gegenüber eines Erzählers Hyperion und eines erzählten Hyperion entsteht so eine Integration der Zeit derart, daß das Einst als die reale Voraussetzung des Jetzt und dieses als die geistige Voraussetzung der Darstellung des Einst sich wechselseitig erläutern. 12
[15] 

Nach Binder kann Hölderlins Roman aufgrund seiner spezifischen Anlage »ein poetisches Analogon der werdenden idealistischen Philosophie des Geistes genannt werden«, und zwar »nicht, weil der Verfasser Ideen ausspräche, und nicht, weil er idealistisch urteilte, sondern weil in seinem Kunstgebilde Idealismus ›geschieht‹.« 13 Der Hyperion als »poetisches Analogon« des Idealismus, als »Umsetzung idealistischer Philosopheme in ästhetische Erfahrung« 14 oder gar als »der Roman des Deutschen Idealismus« 15 – diese historische Kontextbestimmung des Romans im Hinblick auf seine Erzählform gilt inzwischen über weite Strecken als opinio communis der Forschung.

[16] 

Lawrence Ryan hat in seiner schon erwähnten Hyperion-Studie »Exzentrische Bahn und Dichterberuf« Hölderlins Roman eine »Geschlossenheit des Aufbaus« attestiert, »die in der Romankunst der klassisch-romantischen deutschen Literatur wohl ihresgleichen sucht.« 16 Den Grund für diese Geschlossenheit erblickt Ryan in der Tatsache, dass das strukturelle Verhältnis zwischen Handlungs- und Schreibebene durch ein übergreifendes, teleologisches Entwicklungsprinzip bestimmt sei, wobei »die Tätigkeit des Erzählens selber in den Mittelpunkt rückt und den eigentlichen Schwerpunkt der Romanstruktur in sich trägt«. 17 Das »Telos des Erzählens« 18 besteht nach Ryan in der Ruhebekundung, mit welcher der schreibende Eremit im drittletzten Brief des Romans die Frage seines Briefpartners Bellarmin nach seiner gegenwärtigen Befindlichkeit beantwortet (vgl. MA 1, 751). Mit der Erlangung dieser Ruhe sei, so Ryan, die Entwicklung des erzählenden Hyperion »abgeschlossen und [...] das Telos des Romans erreicht: Vergangenheit und Gegenwart, Erfahrung und Reflexion sind miteinander integriert.« 19 Dass der Roman nicht mit dem erreichten »Telos« endet, sondern vielmehr – im Anschluss an die Wiedergabe der ekstatischen Naturvision im letzten Brief – mit dem Schlusssatz »Nächstens mehr« (MA 1, 760), deutet Ryan als kompositorischen Kunstgriff, mit dem Hölderlin »die ›Zirkelstruktur‹ des Romans aufheben und die Zukunft offen halten« 20 wolle.

[17] 

Der Beitrag, den Hansjörg Bay zur Forschungsdiskussion um den Hyperion leisten will, ist nur vor dem Hintergrund des durch Ryans Studie von 1965 initiierten »teleologischen Interpretationsparadigmas« (S. 361) zu verstehen. Schon im Sammelband von 1998 hatte Bay im Vorwort seine »Intention« erklärt, »mit Entschiedenheit in eine Forschungslage zu intervenieren, in der Hölderlins Roman nur zu bekannt erscheint, weil er seit nunmehr über drei Jahrzehnten auf den immer gleichen Wegen einer gelingenden Entwicklung des Helden erkundet wird.« 21 Bays Dissertation setzt die vom Verfasser für überfällig erachtete »Abkehr vom Paradigma gelingender Entwicklung« (S. 29) fort, mit dem Anspruch, solche Aspekte und Probleme des Romans sichtbar bzw. »lesbar« zu machen, die im Mainstream der Forschung bisher verborgen geblieben seien.

[18] 

Intervention auf drei Ebenen

[19] 

Im Ansatz wie in den Ergebnissen der Untersuchung kommt die intendierte Abkehr vom »teleologischen Interpretationsparadigma« auf drei Ebenen zur Geltung. Die Studie ist (erstens) nicht »am Ideal gelingender Entwicklung und an Einheitlichkeit des Sinns und Geschlossenheit des Textes« (S. 361) orientiert, sondern will im Gegenzug die »Störungen erkennbarer Textintentionen«, das »Gegenläufige, die sich abzeichnenden Widersprüche und Ambivalenzen, aber auch das Ungereimte und Ungeklärte« (S. 28) herausarbeiten. Auf die Methodenprobleme, die mit diesem Ansatz verknüpft sind, wird noch einzugehen sein.

[20] 

Die Arbeit richtet sich (zweitens) gegen die »starke Privilegierung des Erinnerungsprozesses gegenüber der erzählten Lebensgeschichte Hyperions« (S. 29), indem sie der »Reichhaltigkeit der in der Lebensgeschichte angeschnittenen Problemlagen« (S. 360, Anm. 1) interpretierend Rechnung tragen will, was zu einer überraschenden inhaltlichen Gewichtung führt: Knapp drei Viertel des Buches, nämlich die Teile II (S. 61–161) und III (S. 163–357), sind der erzählten Lebensgeschichte gewidmet, während die Analyse des vom erzählenden Hyperion durchlaufenen Erinnerungs- und Reflexionsprozesses, der doch den eigentlichen »Gegenstand« (S. 33) des Romans darstellt, nur etwa ein Zehntel der Arbeit in Anspruch nimmt (Teil IV, S. 359–402) – und damit deutlich zu kurz kommt. 22

[21] 

Drittens vertritt Bay – im Unterschied zur oben erwähnten Forschungsmeinung, der Hyperion sei ein »poetisches Analogon« der frühidealistischen Philosophie des Selbstbewusstseins – die Ansicht, dass der Weg, den Hölderlin schon mit seinem Roman einschlägt, in eine andere Richtung führe als das Denken seines Studienfreundes und philosophischen Gesprächspartners Hegel. 23 Da nämlich Hölderlin das »in seinem Prozessieren allumfassende Eine« (S. 391) nicht als Geist, sondern als Natur auffasse, wobei Natur als »prinzipiell offenes Werden und Vergehen« (ebd.) gedacht werde, gebe es für ihn, anders als später für Hegel, keine »teleologische Prästabilierung« (S. 52, 401), die eine »Aufhebung der Widersprüche« garantieren und damit eine »›gelingende‹ Dialektik« (S. 52) ermöglichen könne.

[22] 

Um diese These historisch zu plausibilisieren, wäre es sinnvoll, die auf der Schreibebene des Hyperion stattfindende Dynamisierung des Naturbegriffs (vgl. S. 386 ff.) in den Kontext des von Wolfgang Riedel ›wissensgeschichtlich‹ rekonstruierten »nahezu vollständigen Umbau[s] des Naturbegriffs um 1800« 24 zu stellen. So ließe sich zugleich begründen, inwieweit bei Hölderlin in Anbetracht der »Kantischen Gränzlinie«, die er zu überschreiten suchte, 25 tatsächlich von einem »sensualistisch intendierten Monismus der Natur« (S. 243) die Rede sein kann.

[23] 

Methodische »Vorentschiedenheit« der Lektüre

[24] 

Bays Kritik an der vorherrschenden Deutungstradition wird gelegentlich überscharf durch die Unterstellung, deren Vertreter hätten eine stillschweigende »Vorentscheidung für eine teleologische Lesart« (S. 395) getroffen und unterlägen damit der hermeneutischen »Vorentschiedenheit für ein Gelingen« (S. 362). Dieser Vorwurf kann leicht sein Ziel verfehlen, weil er die Gegenposition gleich mit enthält: Es gibt offenkundig auch die gegenläufige »Vorentscheidung« für eine nicht-teleologische Lesart, basierend auf einer poststrukturalistischen »Vorentschiedenheit« für das Misslingen. Hölderlins Roman, in dem nun einmal beides am Werk ist, Gelingen und Scheitern, droht vor diesem Hintergrund in altbekannte Grabenkämpfe zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion verwickelt zu werden, was einer methodisch ausgewogenen, die Forschung in der Sache voranbringenden Auseinandersetzung wenig förderlich wäre. 26

[25] 

Bay benennt selbst den Maßstab, an dem seine Hyperion-Lektüre gemessen werden will, wenn er, auf Adornos Diktum »Geduld zur Sache« rekurrierend, dem Interpreten (und damit sich selbst) »langanhaltende Aufmerksamkeit, Offenheit und auch Duldsamkeit« (S. 27) abverlangt, um der »Versuchung schnellen Verstehens zu widerstehen« (S. 28). Er bestreitet keineswegs die im Roman sowie in Hölderlins Poetik angelegte »Intention auf eine harmonisierende Rundung und Schließung«, will aber der Frage nachgehen, »wie und warum die Brüche dennoch entstehen« (S. 29).

[26] 

Dagegen wäre nichts einzuwenden – wenn nur nicht im Hinblick auf die vom Verfasser beschworene »Grenze zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion« (S. 28, Anm. 8) der Eindruck einer Polarisierung entstünde, wonach »schnelles Verstehen«, auf Einheit und Geschlossenheit abzielend, diesseits der Grenze vorherrsche, »Geduld zur Sache« dagegen, mit feinem Gespür für Ambivalenzen und Brüche, erst jenseits der Grenze anzutreffen sei.

[27] 

»Durcharbeiten« der »utopischen Intention«
im »poetischen Prozess«

[28] 

In »einer Reihe relativ eigenständiger Lektüren« (S. 28), die den »Verläufen des Textes« folgen sollen, unternimmt Bay den »Versuch, im Hyperion einen diskontinuierlichen, unabgeschlossenen und gerade aus dem Scheitern der zentralen Intentionen hervorgehenden Prozeß aufzuzeigen« (S. 29). In diesem ›poetischen Prozess‹, wie ihn die Studie schon im Untertitel benennt, werde ein den Roman antreibendes »›utopisches‹ Verlangen nach Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit« (S. 17), das in der Figurenkonstellation sowie in den einzelnen Stationen bzw. »Anläufen« (S. 18) von Hyperions Lebensgeschichte zum Tragen komme, wiederholt »durchgearbeitet«, jeweils »bis zu dem Punkt, an dem sich seine Erfüllung als unmöglich erweist« (S. 18).

[29] 

Jenes Hölderlinsche »Verlangen« setze innerhalb des Textes eine »utopisch-revolutionäre Dynamik« (S. 152, passim) frei, die den einzelnen »Anläufen« der Lebensgeschichte – zunächst (im ersten Band) Hyperions Begegnungen mit Alabanda und Diotima, dann (im zweiten Band) seinem Projekt einer revolutionären Erneuerung Griechenlands – ihre spezifische, »im Bann des Absoluten« (S. 312) stehende Bedeutung verleihe. Der Verfasser erblickt dabei im Scheitern aller utopischen Bestrebungen Hyperions, vor allem im Misslingen des revolutionären Projekts, ein »produktives, den Durcharbeitungsprozeß vorantreibendes, Fixierungen lösendes und aus der Logik des Einen tendenziell hinausführendes Moment« (S. 318 f.).

[30] 

Am Ende – nach dem Verlust Alabandas und Diotimas, dem Scheitern des Freiheitskampfes und der Verstoßung durch den Vater – sei Hyperion unwiderruflich »in seiner eigenen, ungeliebten Epoche« (S. 334) angekommen, als ein Überlebender, dem einzig noch das »reflektierende Schreiben, das sich aus der Abwesenheit und Nachträglichkeit heraus auf das Leben bezieht« (S. 339 f.), geblieben sei. Der Reflexionsprozess, den Hyperion dann als Schreibender, in den Briefen an Bellarmin auf seine Lebensgeschichte zurückblickender Eremit durchläuft, wird von Bay als Fortsetzung des ›poetischen Durcharbeitens‹ auf der Schreibebene des Romans gedeutet. Dabei zeige sich, dass »der Text durch die gedankliche Arbeit seines Protagonisten hindurch ein kritischeres Verhältnis zu dem ihn bis hierher vorantreibenden Verlangen nach Einheit und Vollkommenheit gewinnt, daß er zugleich aber doch auch in ihm befangen bleibt und sich eben darum in Aporien verstrickt« (S. 404).

[31] 

Aporetisch sei das Ende des Romans insofern, als die Ruhebekundung Hyperions im drittletzten Brief – das »Telos des Romans« 27 in der Lesart Ryans –»schon ihrer ganzen Genese nach auf der Ausblendung des Gesellschaftlichen« (S. 398) beruhe, wobei das Ausgeblendete jedoch anschließend in Gestalt der hitzig-erregten ›Scheltrede‹ Hölderlins an die Deutschen unvermittelt wiederkehre. Im Widerspruch zur vorher formulierten ontologischen Konzeption von ›Ruhe‹ unterstreiche der Roman damit im vorletzten Brief »noch einmal seinen zeitkritischen Anspruch« (S. 399). So bleibe es gegen Ende des Romans »zwar nicht bei der Ausblendung des Gesellschaftlichen, wohl aber bei seiner Abspaltung vom vorausliegenden Prozeß der Reflexion« (ebd.).

[32] 

Die ekstatische Naturvision des erlebenden Hyperion, deren Wiedergabe durch den erzählenden Hyperion den Abschluss des Romans bildet, ist für Bay ein weiterer Beleg dafür, dass »die dissonante Dialektik des Hyperion ein hochgradig ambivalentes Ende nimmt« (S. 59). Denn der eigentümliche, poetologisch nicht eindeutig zu klärende Status dieser Passage, die in Anführungszeichen steht und deren Inhalt durch die einrahmende Formel »So dacht’ ich« sowie durch den Schlusssatz »Nächstens mehr« relativiert wird (MA 1, 760), lasse keinen Zweifel daran, dass der Roman »auch hier nicht zur Ruhe und der Eremit nicht zur abschließenden Einsicht« fänden (S. 377).

[33] 

Inwieweit Bays Interpretation des vermeintlich ambivalenten Romanschlusses als plausibel gelten kann, wird noch zu diskutieren sein. Im Folgenden soll zunächst seine These vom »poetischen Durcharbeitungsprozess« auf ihre methodischen Prämissen befragt werden.

[34] 

Die »Arbeit des Textes« als Reflexionsgewinn des Autors

[35] 

Wie das den Roman bestimmende Verfahren des ›poetischen Durcharbeitens‹ theoretisch zu verstehen sei, verdeutlicht Bay im Einleitungskapitel mit Rekurs auf Freuds psychoanalytische Konzeption des ›Durcharbeitens‹. Von deren Orientierung »an der psychischen Verfaßtheit eines Individuums« (S. 15) grenzt er sich ab, um demgegenüber »einen auf der Ebene des Textes selbst angesiedelten Prozeß der Auseinandersetzung mit den Intentionen, die diesen Text vorantreiben« (S. 16), in den Blick zu nehmen. Es handele sich um einen Prozess, der »über die Subjekteffekte hinaus die sprachlichen Verläufe, den Handlungsaufbau und die ganze Komposition des Textes durchzieht« (ebd., Anm. 4). Bay betrachtet folglich nicht Hölderlin, auch nicht Hyperion, den schreibenden Eremiten, sondern Hyperion, den Romantext selbst, als Subjekt des ›Durcharbeitens‹.

[36] 

Damit liegt der Studie ein poststrukturalistischer Textbegriff zugrunde, der immer wieder als methodisch nicht eigens reflektierte, geschweige denn problematisierte Prämisse von Bays Hyperion-Lektüre zutage tritt. Dieser Textbegriff artikuliert sich in beiläufigen, aber bezeichnenden Wendungen wie »Selbstinterpretation des Romans« (S. 145) oder »romanimmanente Selbstdeutung« (S. 158) ebenso wie in den Formeln von der »poetischen Arbeit des Romans« (S. 20, 160, 274) oder von der »kritischen Arbeit des Textes« (S. 282), die vor dem Hintergrund der einleitenden Erklärung des Verfassers, »dem Text bei der Arbeit zu[sehen]« zu wollen (S. 27), als Genitivus subiectivus zu verstehen sind.

[37] 

Dass somit dem Text als prozesshaftem, den Intentionen des Autors wie auch den Antrieben der schreibenden Ich-Figur übergeordnetem Gebilde selbst Subjektqualitäten zugeschrieben werden, wird in der Untersuchung immer wieder deutlich, etwa anhand der Frage, »[i]nwiefern der Roman selbst auf die inneren Widersprüche [...] stößt und sie in sich auszutragen vermag« (S. 244), oder am Beispiel von Thesen wie der folgenden:

[38] 
Die Konsequenz, die Hyperion selbst hatte ziehen, aber nicht hatte leben wollen, die Konsequenz des Abschieds und der Trennungen, zieht nun der Roman selbst, indem er ihn zwingt, in einer Welt ohne Rückkehr ›ruhmlos und einsam‹ weiterzuleben. (S. 332)
[39] 

Ob solche Formulierungen nicht in die Irre führen, indem sie kraft »unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Thun einen Thäter setzt« (Nietzsche), 28 Subjektivität einfach an den Text delegieren, sei hier dahingestellt.

[40] 

So sehr die Untersuchung auf der Eigendynamik des Textes in seinem »inneren Prozessieren« (S. 19) insistiert, so wenig kommt sie ohne die Kategorie des Autors aus. Letztere spielt in Bays Hyperion-Lektüre sogar eine wichtige Rolle, insofern die Leistungen des ›poetischen Durcharbeitens‹ im Ergebnis als Reflexionsgewinn der Hölderlinschen Autorschaft gedeutet werden. So spricht Bay von der »gedanklichen und mehr noch literarischen, poetischen Arbeit, in der Hölderlin [!] bestimmte, allem Anschein nach an sich selbst erfahrene Tendenzen des Lebens, Denkens und Schreibens problematisierend erkundet und durcharbeitet, sie dabei erst deutlich hervortreten läßt und zugleich schon zu überwinden oder doch zumindest zu transformieren sucht.« (S. 293 f.)

[41] 

Nach Bay eröffnet die eigendynamische »Arbeit des Textes« Hölderlins Poetik und seiner dichterischen Praxis gerade deshalb neue Möglichkeiten, weil sie die »utopische Intention« des Autors immer wieder durchkreuzt und so nicht nur den scheiternden Helden, sondern den Autor selbst »wider Willen« (S. 22) in der »durch Abwesenheit, Getrenntheit und Mangel charakterisierten Moderne« (S. 359) ankommen lässt. Poetologisch gehe es daher im Hyperion »um die Geburt des modernen Autors aus dem Scheitern der Revolution« (S. 357).

[42] 

Überwindung des ›Ganzen‹?

[43] 

Auf inhaltlicher Ebene bleibt jedoch der Reflexionsgewinn, der aus dem ›Durcharbeitungsprozess‹ für Hölderlins Poetik resultiere, hinter den Prämissen des Modernebegriffs, mit dem die Untersuchung operiert, deutlich zurück. Bay zeigt sich überrascht und geradezu enttäuscht darüber, dass der ›poetische Prozess‹ im Hyperion zwar zur Problematisierung, nicht aber zur Überwindung der Vorstellungen von »Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit« (S. 10, passim) führt. Die gedankliche Entwicklung des schreibenden Eremiten bleibe, so Bay, »in ihrem Resultat [...] gerade deshalb unbefriedigend, weil in neuer Form eben doch wieder an den alten Impulsen festgehalten wird« (S. 401).

[44] 

Überraschen kann dieses »Festhalten« jedoch nicht. Hölderlin wäre nicht Hölderlin, wenn er – und sei es wider Willen – die Orientierung an Ganzheit und Vollendung aufgäbe, um stattdessen von zügelloser Differenz und Kontingenz zu künden. Die Leistung des Hyperion besteht vielmehr darin, dass Hölderlin im Medium des narrativen Reflexionsprozesses, den der Roman in der Figur des schreibenden Eremiten inszeniert, zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Ganzheit und Teilung, Einheit und Zerrissenheit, Negativität und Versöhnung gelangt: Die Gegensätze stehen sich nicht mehr – wie vormals im fatalistischen Schiksaalslied, das Hyperion am Ende seiner »griechischen Lebensgeschichte« (S. 365 f.) singt – unvermittelt, dualistisch gegenüber, sondern sind im Sinne der herakliteischen Denkfigur des »Eine[n] in sich selber unterschiedne[n]« (MA 1, 685) in einem übergreifenden Ganzen aufgehoben, wobei sich das ›Eine‹ nur als Zusammenhang der Differenzen konstituieren kann und die Differenzen nur im bzw. als Zusammenspiel des Ganzen Bedeutung erlangen.

[45] 

Der poetologische »Schwellencharakter« (S. 405) des Hyperion kommt nicht zuletzt darin zur Geltung, dass der Roman auf der Schreibebene Einsichten vorbereitet, die Hölderlin später in seinen Homburger Aufsatzentwürfen systematisch auszuformulieren sucht, v.a. in den Abhandlungen, die unter dem Titel Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes (Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig...) und Über den Unterschied der Dichtarten (Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht...) bekannt sind. Im letztgenannten Entwurf fasst Hölderlin das Fortschreiten der »Trennung in den Theilen« als Steigerung der »Fühlbarkeit des Ganzen« auf (MA 2, 106); demnach wird das ›Ganze‹ nicht relativiert, sondern vielmehr potenziert, wenn die Komplexität der Trennungen zunimmt.

[46] 

Interpretationsansätze aus dem Umfeld des Poststrukturalismus und der inzwischen gründlich aus der Mode gekommenen ›Postmoderne‹ stoßen an diesem Punkt an eine Grenze, die sich aus der Gegenläufigkeit ihrer Prämissen und dem Vorstellungshorizont der Hölderlinschen Poetik ergibt; denn wenn die »Postmoderne beginnt, wo das Ganze aufhört«, 29 dann ist / war Hölderlin ein denkbar ungeeigneter Gegenstand ›postmoderner‹ Lektüren. Die Tatsache, dass Hölderlin beim Versuch, poetisch vom ›Ganzen‹ zu künden bzw. Ganzheit zu stiften, zunehmend mit Schwierigkeiten und der Gefahr des Scheiterns konfrontiert ist, darf nicht zu der Ansicht verleiten, der Autor habe den Anspruch auf Einheit und Ganzheit an der Schwelle zum Spätwerk aufgegeben. Manfred Koch betont in diesem Zusammenhang zu Recht, dass Hölderlin im Unterschied zu den Frühromantikern

[47] 
kein Dichter des intendierten Fragments [war], ganz im Gegenteil: Es ging diesem Autor in einem radikalen und sehr ernsten Sinn tatsächlich immer ums Ganze. Dessen Verfehlen, das Scheitern am Anspruch der Vollendung, wird aber in dem Maass [sic!] zur Signatur seines Spätwerks, als der Sprache in den letzten Jahren vor dem Zusammenbruch immer gewaltigere Integrationsleistungen abverlangt werden. 30
[48] 

Ist demnach im Spätwerk ein »Scheitern am Anspruch der Vollendung« zu beobachten, so beweist gerade dieses Scheitern, wie sehr Hölderlin bis zuletzt an jenem Anspruch festgehalten hat.

[49] 

Probleme des Modernebegriffs

[50] 

Obgleich es Hansjörg Bay fernliegt, eine »romantische Verklärung des Scheiterns« (S. 11) in den Hyperion hineinlesen zu wollen, wird doch immer wieder deutlich, dass seine Lektüre des ›Durcharbeitungsprozesses‹ auf den vermeintlichen point of no return hinausläuft, »wo das Ganze aufhört«. 31 Dies ergibt sich schon aus dem für seine Arbeit zentralen Begriff der ›Moderne‹, wie er eingangs in einer mit viereinhalb Seiten viel zu knappen Einführung erläutert wird (S. 22–26). Der Begriff ziele, so Bay,

[51] 
auf eine metaphysische beziehungsweise eben gerade nachmetaphysische Grund- und Haltlosigkeit, die um 1800 erstmals in dieser Form erfahrbar zu werden scheint und die sich auch dahingehend formulieren läßt, daß die Figur des Kreises ihre Tragfähigkeit verloren hat. Bei dem in Frage stehenden Durcharbeitungsprozeß geht es ja eben um die Auseinandersetzung mit dem Verlust eines der Vergänglichkeit enthobenen Einen, Wahren, Absoluten, eines stabilen Zentrums, Ursprungs oder Seinsgrunds, von dem her das menschliche Dasein gehalten wäre, und die Rede vom Durcharbeiten in die Moderne soll diesen Prozeß als Arbeit an einer bestimmten historischen Schwelle ausweisen – einer Schwelle, die auch im Blick auf unsere Gegenwart ihre Bedeutung nicht verloren hat. (S. 25 f.)
[52] 

Da die Studie auf eine umsichtige Fundierung des Modernebegriffs verzichtet – neben der einschlägigen Literatur zum Thema wären in diesem Zusammenhang Hölderlins eigene, höchst differenzierte Reflexionen zur Epochenproblematik zu berücksichtigen (etwa im Homburger Aufsatzfragment Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben) –, entsteht der Eindruck, dass vor allem der im obigen Zitat erwähnte »Blick auf unsere Gegenwart« für Bays Moderneverständnis ausschlaggebend ist. Demgegenüber empfiehlt es sich, methodisch »so weit als möglich Epoché [zu] üben« und »sich um die Hölderlin eigene Modernität [zu] bemühen, statt ihn kurzerhand von der heutigen fragwürdigen Moderne oder Postmoderne okkupieren zu lassen.« 32

[53] 

Dabei hat freilich das Bild der Moderne als Epoche einer metaphysischen und vernunftkritischen »Dezentrierung« (S. 25) – sieht man von seiner unzureichenden Begründung in der vorliegenden Untersuchung ab – deutliche Vorzüge; denn es bringt einige Phänomene in den Blick, die erkennen lassen, dass im Hyperion zentrale Probleme der als Makroepoche verstandenen, in der ›Sattelzeit‹ des späten 18. Jahrhunderts einsetzenden ›ästhetischen Moderne‹ 33 durchgespielt und verarbeitet werden – Probleme, die zum Teil weit über den Horizont der Epochenschwelle 1800 hinausweisen.

[54] 

Ein solches Phänomen ist die in der Forschung bisher weitgehend vernachlässigte Nihilimusproblematik, wie sie im ersten Band des Hyperion am Ende des ersten Buches, im »Nihilismusbrief« 34 (S. 375) als »Schmerzpol« (S. 372) des gesamten Romans, mit Vehemenz aufbricht (vgl. MA 1, 649 ff.). Ein weiteres, ebenfalls für die ästhetische Moderne insgesamt charakteristisches Phänomen ist die von Bay unter dem Stichwort »Einsetzung der Schrift« betrachtete Reflexion auf das Schreiben als Medium von »Abwesenheit, Stellvertretung, Nachträglichkeit und Getrenntheit« (S. 351). 35 Wenn Hölderlin im Hyperion zu der Einsicht gelangt, dass der moderne Dichter »nur die Spur und die Differenz zu markieren vermag«, so ist dabei zugleich zu betonen, dass in seiner Poetik gleichwohl eine sentimentalische »Sehnsucht nach der Stimme« wirksam bleibt, wie Hans-Georg Pott ausführt: »Man scheut sich, Hölderlin einen Schriftsteller zu nennen. Ein Dichter ist er; aber ›Sänger‹ bleibt Metapher für den, der schreibt. Geradezu tragisch beschwört er die Medien der Präsenz, Hören und Sehen [...].« 36 Bay übersieht (oder überhört?) letztlich, dass Hölderlins »Sehnsucht nach der Stimme« in der Epoche der Schrift gegen Ende des Hyperion, in der ›Scheltrede‹ ebenso wie in der finalen Naturvision, eindringlich zum Tragen kommt.

[55] 

Lektüre des Endes – Lektüre am Ende?

[56] 

Die Frage, wie die Funktion der Schlussbriefe des Hyperion vor dem Hintergrund seiner gesamten Konzeption und Komposition angemessen zu bestimmen sei, gilt als eine der schwierigsten Herausforderungen, mit denen Hölderlins Roman seine Interpreten von jeher konfrontiert. Zugespitzt ließe sich sagen, dass der Text am Ende noch einmal zeigt, was in ihm steckt, da sein Erzählverfahren hier auf eine abschließende und zugleich Neues eröffnende Probe gestellt wird. Die Interpretation erreicht damit einen kritischen Punkt, an dem die Untersuchung sich bewähren und gleichfalls zeigen muss, was in ihr steckt.

[57] 

Die Ergebnisse, zu denen Bays Lektüre an diesem Punkt gelangt, vermögen leider nur eingeschränkt zu überzeugen. Die vorentschiedene Akzentuierung des Ambivalenten und Aporetischen verstellt zum Teil den Blick auf das, was sich am Ende des Romans poetisch ereignet.

[58] 

Bays Behauptung, die Schlussvision lasse »keine klare erzähltechnische Funktion erkennen« (S. 58), trifft so nicht zu: Zwar bleibt der Status der Schlusspassage seltsam uneindeutig, doch stellt die Verbalisierung der vergangenen Naturvision zweifellos eine performative Leistung dar, die der erzählende Hyperion erst auf der Grundlage des Reflexionsprozesses, den er auf der Schreibebene durchlaufen hat, vollbringen kann; dabei distanziert er sich mit der Formel »So dacht’ ich« zugleich vom Inhalt dessen, was er abschließend zur Sprache bringt, weil dieser Inhalt nicht mehr seiner gedanklichen Position am Ende des Reflexionsprozesses entspricht. Die Tatsache, dass jene Formel zusammen mit der Bemerkung »Nächstens mehr« die letzten Worte des Romans bildet (vgl. MA 1, 760), bedeutet nicht, dass sich der Erzähler zuletzt »von jeder im Verlauf seines Schreibprozesses erreichten Position« distanziert (S. 58). Schießt hier die Formulierung (»von jeder«) deutlich übers Ziel hinaus, so fehlt es an begrifflicher Trennschärfe, wenn Bay die Schlussworte des Romans als »Geste der Relativierung und Öffnung des gesamten Erinnerungs-, Reflexions- und Erzählprozesses« (S. 59) interpretiert. Nur wenn man über den semantischen Unterschied zwischen ›Öffnung‹ und ›Relativierung‹ hinwegsieht, kann man die am Ende stattfindende Öffnung des Reflexionsprozesses zugleich als Relativierung seiner gedanklichen Summe (miss)verstehen.

[59] 

Auch bei der Betrachtung von Hyperions ›Scheltrede‹, deren zentrale Bedeutung innerhalb des Romans der Verfasser zu Recht herausstellt, bleiben die performativen Qualitäten, die der Text zuletzt annimmt, unberücksichtigt. 37 Bays These, wonach »Ruhebekundung und Deutschenschelte, ontologische Konzeption und Zeitkritik« unverbunden nebeneinander stehen (S. 399), ist schon deshalb nicht überzeugend, weil die Untersuchung in anderem Zusammenhang eine plausiblere Lesart skizziert, ohne dabei die ›Scheltrede‹, auf die sich die betreffende Überlegung leicht beziehen ließe, selbst im Blick zu haben:

[60] 
Ein schüchternes Nachahmen und Nachzeichnen des Lebens, das wäre das Schreiben des Eremiten. Er wendet sich nicht mehr als Redner an eine Öffentlichkeit, sondern als isolierter Briefschreiber an einen Freund, und was er zu verkünden hat, ist, fürs erste zumindest, keine neue Lehre, sondern die Geschichte seines Scheiterns. Seine Briefe legen Zeugnis ab von einem Leben, das bereits hinter ihm liegt. Aber schon diese intimen Briefe selbst weisen auch über sich hinaus, indem sie dann doch wieder an ein imaginäres Publikum sich richten. Nicht auszuschließen ist daher, daß »Nächstens« und nach dem reflexiven Durchgang durch das Vergangene das Dichten als eine neue Art des Schreibens in den Blick rücken könnte: als ein Schreiben, das gerade in seinem reflektierenden, der eigenen Nachträglichkeit bewußten Charakter möglicherweise doch wieder an ein Publikum sich wenden oder ein solches womöglich selbst erst erzeugen oder erwecken würde. (S. 356)
[61] 

Genau dies – die poetische »Erzeugung« oder »Erweckung« eines Publikums »nach dem reflexiven Durchgang durch das Vergangene« – geschieht in der ›Scheltrede‹, insofern der erzählende Hyperion hier den kommunikativen Rahmen der an Bellarmin adressierten Briefe überschreitet, um die gescholtenen Deutschen selbst anzureden. Dass seine Worte »nicht aus der Mitte des Volkes, sondern aus der denkbar exzentrischsten Position: aus der eines Exilanten oder Eremiten« (S. 355) kommen, ändert nichts daran, dass der Erzähler hier ein »modifiziertes Konzept der Volkserziehung« (S. 356) in Gestalt einer geschriebenen, Oralität simulierenden poetischen Rede erprobt. Keine »Abspaltung vom vorausliegenden Prozeß der Reflexion« (S. 399) liegt hier vor, sondern die performative Entfaltung einer »neue[n] Art des Schreibens« (S. 356), mit der Hyperion zeigt, wozu er nach Durchlaufen jenes Prozesses dichterisch fähig ist.

[62] 

Nächstens mehr

[63] 

Die Studie, die sich dem Aufdecken von Ambivalenzen im Hyperion verschrieben hat, hinterlässt ihrerseits einen etwas ambivalenten Eindruck. Ihr Verdienst besteht darin, zahlreiche Aspekte und Probleme des Romans, die im Rahmen der vorherrschenden Deutungstradition übersehen oder überspielt worden sind, ans Licht gebracht und damit die Komplexität des »poetischen Prozesses«, der in Hölderlins »Schwellentext« am Werk ist, neu sichtbar gemacht zu haben. Eine Gesamtdeutung, die alle wesentlichen Interpretationsfragen überzeugend beantworten könnte, bietet die Studie jedoch nicht – was besagen soll, dass sie den Prozess der Forschung nicht zum Abschluss bringen, sondern nur (was freilich wünschenswerter ist) in mancherlei Hinsicht neu anstoßen kann. Wer sich die interpretierende ›Durcharbeitung‹ von Hölderlins Romanprojekt zur Aufgabe gemacht hat, wird vom ›Durcharbeiten‹ dieser Untersuchung profitieren, um sodann bereichert das eigene ›Durcharbeiten‹ der Thematik fortzusetzen: Hyperion – nächstens mehr.

 
 

Anmerkungen

Norbert von Hellingrath: Vorrede zu Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Unter Mitarbeit von Friedrich Seebaß besorgt durch Norbert von Hellingrath. München u. Leipzig / Berlin 1913–1923. Vierter Band (1916), S. XI-XXII, hier S. XI.    zurück
Ebd., S. XVIII.   zurück
Ebd., S. XI. In solchen Formulierungen zeigt sich Hellingraths Zugehörigkeit zur ästhetischen Ideologie des George-Kreises. Die Leistung des späten Hölderlin wird in dem »fast Unglaubhafte[n]« gesehen, »dass noch in unserer Zeit kindlich wahrer Glaube die Götter herabrufen kann, dass die Sage, echtes mythisches Denken, unter uns Spätgeborenen noch nicht erstorben ist.« (Ebd., S. XIV)   zurück
Lawrence Ryan: Hölderlins Hyperion. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965. – Einen umfassend angelegten Überblick über die Geschichte der Hyperion-Forschung bietet Marco Castellari: Friedrich Hölderlin. Hyperion nello specchio della critica. Milano 2002.   zurück
Manfred Weinberg: »Nächstens mehr.« Erinnerung und Gedächtnis in Hölderlins Hyperion. In: Günter Oesterle (Hg.): Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik. Würzburg 2001, S. 97–116, hier S. 98; das vorige Zitat ebd., S. 100.   zurück
Hölderlins Werke werden im fortlaufenden Text zitiert nach der »Münchner Ausgabe« (= MA): Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. 3 Bde. Hg. von Michael Knaupp. München, Wien 1992–93.    zurück
Hansjörg Bay: Vorwort zu: Ders. (Hg.): Hyperion – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Opladen, Wiesbaden 1998, S. 9–15, hier S. 12.   zurück
Rainer Nägele: Andenken an Hyperion. In: Thomas Roberg (Hg.): Friedrich Hölderlin: Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2003, S. 274–301, hier S. 279 [zuerst in: Hansjörg Bay (Hg.): Hyperion – terra incognita, s. Anm. 7, S. 17–37].    zurück
10 
Norbert von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe [1910]. In: Ders.: Hölderlin-Vermächtnis. Forschungen und Vorträge. Ein Gedenkbuch zum 14. Dezember 1936. Eingeleitet von Ludwig von Pigenot. München 1936, S. 15–93, hier S. 43 f.   zurück
11 
Vgl. zu diesem Begriff Dieter Henrich: Die Erschließung eines Denkraums. Bericht über ein Forschungsprogramm zur Entstehung der klassischen deutschen Philosophie nach Kant in Jena 1789–1795. In: Ders.: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795). Stuttgart 1991, S. 215–263, 290–292, bes. S. 220 ff.   zurück
12 
Wolfgang Binder: Hölderlins Dichtung im Zeitalter des Idealismus. In: Ders.: Hölderlin-Aufsätze. Frankfurt / M. 1970, S. 9–26, hier S. 15 [zuerst erschienen 1967 in: Hölderlin-Jahrbuch 14 (1965 / 66), S. 57–72].   zurück
13 
Ebd., S. 16.   zurück
14 
Manfred Engel: Friedrich Hölderlin, Hyperion (1797 u. 1799): Der Roman als »Einheit von Einheit und Differenz«. In: Ders.: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten. Stuttgart, Weimar 1993, S. 321–380, hier S. 379.   zurück
15 
Jochen Schmidt: Konzeption und Struktur des Hyperion. In: Ders. (Hg.): Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. 3 Bde. Frankfurt / M. 1992–94 (= Bibliothek deutscher Klassiker, 80, 81, 108). Bd. 2, S. 940–965, hier S. 942.   zurück
16 
Lawrence Ryan: Exzentrische Bahn und Dichterberuf [s. Anm. 4], S. 226.   zurück
17 
18 
Lawrence Ryan: Hyperion oder Der Eremit in Griechenland. In: Johann Kreuzer (Hg.): Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2002, S. 176–197, hier S. 192.   zurück
19 
Ebd., S. 195.   zurück
20 
Lawrence Ryan: Exzentrische Bahn und Dichterberuf [s. Anm. 4], S. 227.   zurück
21 
Hansjörg Bay: Vorwort zu: Ders. (Hg.): Hyperion – terra incognita [s. Anm. 7], S. 9.   zurück
22 
Die Gründe für diese auf den ersten Blick irritierende Gewichtung ergeben sich unmittelbar aus dem Ansatz und dem Erkenntnisinteresse der Studie. Nach Ansicht Bays bleiben die Reflexionen des erzählenden Hyperion
bei aller Ernsthaftigkeit und Tragweite der gedanklichen Arbeit [...] hinter der Reichhaltigkeit der in der Lebensgeschichte angeschnittenen Problemlagen doch deutlich zurück. Das einseitige Abheben auf den Reflexionsprozeß dient insofern eher der Komplexitätsreduktion, und je länger man sich mit dem Roman beschäftigt, desto unbefriedigender erscheint die vorrangige Konzentration auf die Entwicklung des Eremiten, wie sie einen großen Teil auch der neueren Forschung und das dominante Bild des Romans bestimmt. So unerläßlich die Unterscheidung zwischen erzählendem und erlebendem Hyperion ist, so sehr erliegen ihre Verabsolutierung und die darauf aufbauende Privilegierung des Eremiten einer methodischen Versuchung, der eine auf Geschlossenheit des Textes und Einheitlichkeit des Sinns ausgerichtete Hermeneutik in besonderem Maß ausgesetzt ist: der Versuchung, den Text von der Figur des Protagonisten her in den Griff zu nehmen. (S. 360, Anm. 1)
Dem ließe sich entgegenhalten, dass eine allzu knappe, oberflächliche Berücksichtigung des Reflexionsprozesses ebenfalls auf »Komplexitätsreduktion« hinauslaufen muss. Der »Versuchung«, den Text »von der Figur des Protagonisten her« zu deuten, wird man bei einem Ich-Roman, der den – erzählenden! – Protagonisten schon im Titel akzentuiert (Hyperion oder der Eremit in Griechenland), kaum widerstehen können; die Methode orientiert sich hier einfach am Gegenstand des Textes.    zurück
23 
Die Forschungsmeinung, von der diese Lesart abweicht, kommt exemplarisch bei Wolfgang Binder zum Ausdruck: »Der künstlerische Aufbau des Romans bildet also das vor, was Hegel später das ›Sichselbstwissen des Wissens‹ oder das ›absolute Wissen‹ nennt. Auch die darin enthaltene ›doppelte Negation‹ Hegels kehrt im Roman wieder.« (Hölderlins Dichtung im Zeitalter des Idealismus [s. Anm. 12], S. 16).   zurück
24 
Wolfgang Riedel: Deus seu Natura. Wissensgeschichtliche Motive einer religionsgeschichtlichen Wende – im Blick auf Hölderlin. In: Hölderlin-Jahrbuch 31 (1998 / 99), S. 171–206, hier S. 188. Die Perspektiven, die dieser Ansatz eröffnet, sind nicht zuletzt deshalb erhellend, weil Riedel das signifikante Fortwirken der um 1800 stattfindenden, auch bei Hölderlin zu beobachtenden ›epigenetischen Wende‹ des Naturbegriffs in der Dichtung der Jahrhundertwende 1900 aufzeigt (vgl. ebd., S. 176 ff.; sowie ausführlich Wolfgang Riedel: »Homo natura«. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin, New York 1996).    zurück
25 
Brief Hölderlins an Christian Ludwig Neuffer vom 10. Oktober 1794 (MA 2, 551).   zurück
26 
Dass diese methodische Problematik einen institutionellen, wissenschaftspolitischen »Sitz im Leben« hat, stellt Bay zu Recht heraus (vgl. S. 361).   zurück
27 
S. oben, Anm. 19.   zurück
28 
Friedrich Nietzsche: Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl. Hg. von Günter Wohlfart. Stuttgart 1996, S. 224, Fragm. 10 [158] (264), Herbst 1887.   zurück
29 
Wolfgang Welsch: Topoi der Postmoderne. In: Hans Rudi Fischer, Arnold Retzer u. Jochen Schweitzer (Hgg.): Das Ende der großen Entwürfe. Frankfurt / M. 1992 (= stw 1032), S. 35–55, hier S. 38.   zurück
30 
Manfred Koch: Der Weg ins Gedicht – der Weg des Gedichts. Eine Einführung in Hölderlins Lyrik am Beispiel der Elegie Der Gang aufs Land. In: Castrum Peregrini 54 (2005), H. 266–267: Friedrich Hölderlin. Zu seiner Dichtung. Hg. von Christophe Fricker u. Bruno Pieger. Amsterdam 2005, S. 9–34, 183 f., hier S. 11.   zurück
31 
Wolfgang Welsch: Topoi der Postmoderne [s. Anm. 29], S. 38.   zurück
32 
Anke Bennholdt-Thomsen / Alfredo Guzzoni: Analecta Hölderliana. Zur Hermetik des Spätwerks. Würzburg 1999, S. 9.   zurück
33 
Zur Theorie der ›ästhetischen Moderne‹ als ›Makroepoche‹ vgl. Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992; sowie Dirk Kemper: Ästhetische Moderne als Makroepoche. In: Ders. u. Silvio Vietta (Hgg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München 1998, S. 97–126. Zum Begriff ›Sattelzeit‹ vgl. Reinhart Koselleck: Einleitung zu: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Stuttgart 1972, Bd. 1, S. XIII-XXVII, bes. S. XV.    zurück
34 
Bay unterläuft ein Irrtum, wenn er davon spricht, dass dieser Brief »am Ende des ersten Bandes« (S. 375, 377) zu finden sei; es handelt sich vielmehr um das Ende des ersten Buches im ersten Band.   zurück
35 
Vgl. hierzu allgemein Monika Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995.    zurück
36 
Hans-Georg Pott: Die Sehnsucht nach der Stimme. Das Problem der Oralität in der Literatur um 1800 (Hölderlin, Goethe, Schleiermacher). In: Alfred Messerli u. Roger Chartier (Hgg.): Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven / Perspectives comparées / Perspettive comparate. Basel 2000, S. 517–532, hier S. 524; die vorigen Zitate ebd., S. 525 u. S. 517 (Titel).   zurück
37 
Inzwischen hat Bay, aufbauend auf den Ergebnissen seiner Dissertation, einen Aufsatz vorgelegt, der die zuvor ausgeblendete Dimension des Performativen in die Analyse des Romanendes einfließen lässt; treffend heißt es dort, dass sich im Hyperion ein »Übergang von der Präsenz zur Performativität« ankündige (H.B.: ›Das Zeichen zwischen mir und dir‹. Schriftlichkeit und Moderne im Hyperion. In: Hölderlin-Jahrbuch 34 (2004 / 05), S. 215–245, bes. S. 240 ff.; das Zitat ebd., S. 242, Anm. 41).   zurück