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Neues über das Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina

  • Antje Willing: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster. (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 4) Münster u.a.: Waxmann 2004. 308 S. Broschiert. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 3-8309-1331-1.
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Thema und Hintergrund

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Das Buch von Antje Willing befaßt sich, wie der Titel Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert zu erkennen gibt, mit einem Thema, das die Altgermanistik seit etwa zwei Jahrzehnten stark interessiert. Aufbauend auf wegweisenden Studien von Werner Williams-Krapp 1 sind in der jüngeren Vergangenheit diverse Arbeiten erschienen, die sich unter unterschiedlichen Fragestellungen mit den kirchlichen, vor allem monastischen Reformbewegungen des späten Mittelalters und ihrem Verhältnis zur geistlichen Literatur befassen. 2 In diese Reihe stellt sich – explizit an die Thesen von Williams-Krapp anschließend (vgl. S. 1) – auch die vorliegende Dissertation (Universität Erlangen-Nürnberg, 2000). Als Gegenstand wählt Willing das Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina, dessen Sammlung von weit über 600 volkssprachigen Handschriften als größte deutsche Frauenkloster-Bibliothek des späten Mittelalters gilt. Die Bestände, die das gesamte Spektrum der geistlichen Literatur repräsentieren, kamen zum größten Teil nach dem Anschluß des Klosters an die oberdeutsche Observanzbewegung des Dominikanerordens im Jahr 1428 zusammen. So ist es berechtigt, von einer ›Reformbibliothek‹ zu sprechen, doch thematisiert Willing auch das bekannte Phänomen, daß der Konvent bereits vor der Reform reich mit Büchern ausgestattet war.

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Aufgrund der sehr guten Überlieferung – mehr als die Hälfte der Klosterbibliothek ist in der Stadtbibliothek Nürnberg erhalten, viele weitere Handschriften sind in aller Welt verstreut – und des Vorhandenseins mehrerer bestens edierter und oft untersuchter Bibliothekskataloge und Tischlesungsverzeichnisse steht diese ebenso spektakuläre wie singuläre Sammlung seit langem im Mittelpunkt der forschenden Aufmerksamkeit. Mehr noch: Es war wohl vor allem die Überlieferung aus St. Katharina, welche zuerst den Blick auf den Zusammenhang von Literatur und Ordensreform gelenkt hat. Jedoch hat allein die schiere Menge des zu sichtenden Materials bisher eine umfassende Analyse der Bibliothek vereitelt. Daher ist jede Einlassung auch zu Teilbeständen willkommen, wobei die besonderen Umstände des Einzelfalls St. Katharina allerdings stets zu reflektieren sind. Das Kloster wurde nämlich schon von den Reformern und anderen Zeitgenossen als Modell eines observanten Konvents schlechthin angesehen und als solches besonders gefördert.

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»Gemeinsamer Gegenstand der [...] ausgewählten Schriften ist das kirchliche Sakrament der Eucharistie« (S. 5). Diese »Gattung geistlicher Literatur« (ebd., doch werden sehr unterschiedliche ›Gattungen‹ bzw. Texttypen behandelt) wurde bisher, so Willing, im Gegensatz etwa zur Mystik von der Forschung vernachlässigt, doch wird dieses einseitige Forschungsinteresse der Bedeutung des Abendmahls im Lebensvollzug des spätmittelalterlichen Menschen nicht gerecht. Daher leuchtet die Auswahl des Themas ›Eucharistie‹ unmittelbar ein. Allein die Menge und Bedeutung der behandelten Texte und Handschriften und ihr rekonstruierbarer Bezug zum Alltagsleben der Nonnen rechtfertigt den gewählten Ausschnitt aus der Überlieferung.

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Gliederung und erster Teil

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Das Buch gliedert sich in zwei Teile: 1. »Ordensreform und Literaturproduktion«, 2. »Ordensreform und Literaturrezeption«. Im ersten, kürzeren Teil (S. 11–67) befaßt sich Willing zunächst mit der dominikanischen Reformbewegung des 15. Jahrhunderts und wendet sich dann einer zentralen Forschungsaufgabe zu: der Bibliothek des Katharinenklosters. Behandelt werden der mittelalterliche Bibliothekskatalog sowie die Provenienzen der Bücher, wobei zwischen dem Bestand vor der Reform, dem Erwerb anläßlich der Reform, den von den neu eintretenden Schwestern eingebrachten Büchern, den vielfältigen Schenkungen und den in St. Katharina selbst geschriebenen Codices zu unterscheiden ist. Es folgen Ausführungen zum Skriptorium und zu weiteren aus dem Kloster überlieferten bibliothekarischen Quellen, das sind vor allem eine Liste privater Bücher der Nonnen sowie die Tischlesungsverzeichnisse. Besonders letztere analysiert Willing sehr sorgfältig. Der im Titel dieses Abschnitts verwendete Begriff ›Literaturproduktion‹ ist allerdings etwas mißverständlich. Gemeint sind vor allem der Bibliotheksaufbau und das Kopieren von Handschriften, nicht so sehr das Entstehen neuer Texte im Kontext der Reform. Das Kapitel bietet einen guten Überblick über den Forschungsstand, steuert auch neue Aspekte zur Geschichte der Bibliothek von St. Katharina bei und kann zukünftigen Studien zu diesem Bereich als solide Referenz dienen.

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Zweiter Teil: Quellenanalysen

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Aufbauend auf diese Vorstudie bietet der zweite Teil »Ordensreform und Literaturrezeption« (S. 71–254) ausführliche Analysen von vier repräsentativen Texten bzw. Textcorpora zur Eucharistie. Behandelt werden das Buch von den sechs Namen des Fronleichnams des (Zisterzienser-)Mönchs von Heilsbronn, die Fronleichnamspredigten des Dominikaners Johannes Tauler, der Eucharistietraktat des Franziskaners Marquard von Lindau und schließlich die Predigten des Nürnberger Dominikaner-Lesemeisters und Klosterreformers Gerhard Comitis. 3 Diese Texte sind z. T. mehrfach in Handschriften aus St. Katharina überliefert und wurden nachweislich als Lesung oder im Predigtvortrag von den Nonnen rezipiert.

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Teil II beginnt mit einer literatur- und theologiegeschichtlichen Begründung der Textauswahl (S. 71–94). In den vier folgenden Kapiteln untersucht Willing das Textcorpus mit besonderem Blick auf das Eucharistieverständnis, das den ausgewählten Schriften zu Grunde liegt. Dabei gelingen ihr zahlreiche wichtige Einzelbeobachtungen und Schlußfolgerungen, die hier nicht im Detail gewürdigt werden können. Hingewiesen sei auf die wichtigsten Untersuchungskriterien: Einerseits wird der Frage nachgegangen, wie die Rezeption dieser Schriften »letztlich in den Dienst der Regelobservanz gestellt werden konnte« (S. 7). Andererseits richtet sich der Blick auf die Problematik der Mystikrezeption. Eucharistische Schriften sind durch ihr Thema ›körperliche Vereinigung mit Gott‹ sozusagen stets ›mystikgefährdet‹, da das geistlich-körperliche Erleben der Kommunion und das mentale Erleben der unio mystica auf das Engste, bei Autoren wie Meister Eckhart sogar untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. S. 269).

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So gelangt Willing über den nur scheinbaren Umweg der Abendmahlsschriften zu einem zentralen Forschungsfeld der Altgermanistik, der deutschsprachigen Mystik, und das Buch bietet dann auch einen Beitrag zur Frage der spätmittelalterlichen Mystikrezeption und -kritik. Das ›close reading‹ und der eingehende Vergleich der zuvor inhaltlich noch kaum beachteten Quellen bringen zutage, daß sowohl der Mönch von Heilsbronn als auch Tauler, Marquard von Lindau und Comitis die spekulative Eckhartsche Mystik und ihre Lehren von Kommunion und unio mystica ablehnen bzw. in inhaltlicher und terminologischer Hinsicht auf die Bedürfnisse aszetischer Lebenspraxis und seelsorgerlicher Arbeit in Frauenklöstern hin revidieren und redigieren. Die Lektürekataloge belegen, daß die von den Reformern approbierten, bearbeiteten oder verfaßten Texte, die Gegenstand der Untersuchung waren, in der gemeinsamen Tischlesungspraxis des Konvents mindestens ebenso präsent waren wie mystische (und auch katechetische) Schriften. Es gelingt der Autorin, durch detaillierte Quellenanalysen den von der Reform angestrebten Weg zu einer orthodoxen, alltagstauglichen Eucharistielehre in seinen exegetischen und überlieferungsgeschichtlichen Einzelschritten nachvollziehbar zu machen. Das ist argumentativ eindrucksvoll und weist nachdrücklich darauf hin, daß die Befolgung orthodoxer Lehren in einem Reform(frauen)kloster dominikanischer Observanz zweifellos eine conditio sine qua non darstellte, zumal in einem Konvent, dem eine Vorbild- und Modellfunktion zugedacht war. Kapitel VI »Literatur und Ordensreform« (S. 255–271) faßt die Ergebnisse noch einmal übersichtlich zusammen.

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Angesichts der durchaus sperrigen Materie verdienen die Belesenheit und die analytische Präzision der Autorin hohe Anerkennung. Der Zusammenhang zwischen Literaturrezeption und -produktion einerseits und dominikanischer Ordensreform andererseits wird hier in einer Tiefe erschlossen, die bisherige Untersuchungen, die sich am Profil einer einzelnen Bibliothek oder an der Überlieferung eines Textes orientieren, nur selten erreicht haben. Man wünscht sich vergleichbare Studien auch für andere Bereiche monastisch-reformierten Lebens, etwa die Beichtpraxis oder die Liturgie.

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Kritik

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Gelegentlich gibt Willing indes der Versuchung nach, ihr Studienobjekt zu verabsolutieren. Dabei verwechselt sie bisweilen die Lektürepraktiken des Nürnberger Konvents mit der Literaturrezeption in ›den‹ Ordensreformen insgesamt. Diese aber stellt sich regional- wie gruppenspezifisch sehr viel differenzierter dar, als es eine solch eng umgrenzte Fallstudie beschreiben kann. Aufgrund der gegenüber den Verhältnissen in St. Katharina oftmals sehr viel schlechteren Überlieferung anderer Konvente oder Ordensverbände verbieten sich Analogieschlüsse. Ein maßvollerer Umgang mit den großen Schlagwörtern ›Literatur‹ und ›Ordensreform‹ hätte überdies gewiß zu ebenso eindrucksvollen Einzelergebnissen geführt. Es ist m. E. wichtiger, neue Informationen über das literarische Leben in St. Katharina und seine historischen Bezüge beizubringen (wie im zweiten Teil mustergültig vorgeführt), als immer wieder an den unbestreitbaren Zusammenhang zwischen Ordensreformen und Literaturverbreitung im 15. Jahrhundert zu erinnern. 4

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Die nach Annahme der Arbeit im Jahr 2000 erschienene Literatur wurde laut Vorwort nur in Einzelfällen berücksichtigt. Leider wird die getroffene Auswahl nicht begründet. Mit dieser Zurückhaltung hat die Autorin sich und uns keinen Gefallen getan, denn die aktuelle Forschungsdiskussion über die Literatur der Frauenklöster ist sehr lebhaft und facettenreich. So wurden einige neue, für bestimmte Aspekte von Willings Studie einschlägige Arbeiten nicht berücksichtigt. 5 Ein ernster Tadel gilt dem Seitenlayout. Autorin und / oder Verlag haben – wohl aus Kostengründen – einen sehr kleinen Schriftgrad gewählt, der die konzentrierte Lektüre (zumal der Fußnoten) zur Qual macht.

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Bei der Erfassung und Auswahl der Quellen wäre bisweilen ein weiter ausgreifendes Vorgehen wünschenswert gewesen, denn die hier geübte Konzentration auf Handschriften der Nürnberger Stadtbibliothek engt den Blick unnötig ein. Dies ist nicht nur als Kritik zu verstehen, sondern auch als Hinweis darauf, daß die Überlieferung aus St. Katharina keineswegs flächendeckend erforscht ist. So verweist Willing mehrmals auf eine bisher nur aus den mittelalterlichen Bibliotheks- und Tischlesungskatalogen (vgl. S. 66) bekannte Handschrift mit der alten Signatur J XIV, die einen Abecedarius enthält, welchen sie gemeinsam mit dem Lucidarius unter den »bekannte[n] mittelalterliche[n] Enzyklopädien« (S. 36) einreiht. Doch sollten mittelalterliche Werktitel niemals ungeprüft heutigen Gattungsschemata zugeordnet werden. Der Codex, der sich seit 1986 unter der Signatur Cgm 8873 in der Bayerischen Staatsbibliothek München befindet, enthält keine Enzyklopädie, sondern (unter anderem) eine umfangreiche, nach theologischen Leitbegriffen abecedarisch angeordnete Schrift, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts von einem anonymen Nürnberger Kartäuser wohl eigens für die Nonnen von St. Katharina angefertigt wurde. Im Prolog dieses Textes werden intensiv die utraquistische hussitische Kommunionslehre und die Frage des Laienkelchs diskutiert – ein Aspekt, der auch für die vorliegende Studie bedeutsam gewesen wäre.

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Fazit

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Doch können diese Kritikpunkte den positiven Gesamteindruck nicht beeinträchtigen. Antje Willings Buch stellt methodisch wie inhaltlich – besonders in bezug auf die Erforschung der Zusammenhänge von Literatur und dominikanischer Reform im 15. Jahrhundert – einen großen Fortschritt dar. Die Autorin hat sich intensiv in die theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Aspekte ihres Themas eingearbeitet, was bei altgermanistischen Dissertationen zur geistlichen Literatur keineswegs die Norm ist, in diesem Fall aber unverzichtbar war und reichen Ertrag gebracht hat. Die Arbeit bereichert nicht nur unsere Kenntnis der Überlieferung aus dem Katharinenkloster, sondern eröffnet auch neue Perspektiven im Hinblick auf die Analyse ähnlicher Texttypen und auf Entwicklungen in anderen Klöstern und Orden.



Anmerkungen

Vgl. z.B. Werner Williams-Krapp: Ordensreform und Ordensliteratur im 15. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 4 (1986/87), S. 41–51; W. W.-K.: Observanzbewegungen, monastische Spiritualität und geistliche Literatur im 15. Jahrhundert. In: IASL 1995, Heft 1, S. 1–15.   zurück
Vgl. z.B. Christoph Roth: Literatur und Klosterreform. Die Bibliothek der Benediktiner von St. Mang zu Füssen im 15. Jahrhundert (Studia Augustana 10) Tübingen: Niemeyer 1997.   zurück
Die Texte des Letztgenannten hat Willing als Vorarbeit zu ihrer Dissertation ediert: Nürnberger Eucharistiepredigten des Gerhard Comitis. Hg. und kommentiert von Antje Willing (Erlanger Studien 128) Jena: Palm & Enke 2003.   zurück
Nicht nachvollziehen kann ich folgende Behauptung: »Die Tatsache allerdings, daß im 15. Jahrhundert selbst kaum neues geistliches Schrifttum entstanden ist [...]« (S. 2) – schon die zahllosen, auch von der Autorin selbst zitierten dominikanischen Reformtexte belegen das Gegenteil. – Einzelne Ausdrücke und stilistische Eigentümlichkeiten finde ich etwas ungelenk: »im ersten Quartal des 15. Jahrhunderts« (S. 13); »die Kopie [gemeint: das Abschreiben, F. E.] von Heiligenlegenden [...] scheint sich weitgehend erschöpft zu haben« (S. 51); »extremste Bestrafung« (S. 91). Druckfehler wie »Dokorvater« (Danksagung im unpaginierten Vorwort) sollten nicht passieren.   zurück
Vgl. z.B. Petra Seegets: Leben und Streben in spätmittelalterlichen Frauenklöstern. In: Berndt Hamm / Thomas Lentes (Hg.): Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis (Spätmittelalter und Reformation NR 15) Tübingen: Mohr Siebeck 2001, S. 24–44. Falk Eisermann: ›Stimulus amoris‹. Inhalt, lateinische Überlieferung, deutsche Übersetzungen, Rezeption (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 118) Tübingen: Niemeyer 2001, S. 404–409. Auch ältere Literatur ist nicht vollständig rezipiert, etwa Marie-Luise Ehrenschwendtner: Das Bildungswesen in Frauenklöstern des Spätmittelalters. Beispiel: Dominikanerinnen. In: Max Liedtke / Gernot Breitschuh (Hg.): Geschichte der Schule in Bayern. Bd. 1: Von den Anfängen bis 1800. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1991, S. 332–348; M.-L. E.: The Use of the Vernacular in the Dominican Convents of Southern Germany. In: Diane Watt (Hg): Medieval Women in their Communities, Cardiff 1997, S. 49–71. Zum Thema vgl. jetzt auch M.-L. E.: Die Bildung der Dominikanerinnen in Süddeutschland vom 13. bis 15. Jahrhundert (Contubernium 60) Stuttgart: Franz Steiner 2004.   zurück