Stefanie Stockhorst

Der Dreißigjährige Krieg
als sprachbildende Kraft




  • Nicola Kaminski: EX BELLO ARS oder Ursprung der »Deutschen Poeterey«. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2004. 588 S. 33 s/w Abb. Kartoniert. EUR 58,00.
    ISBN: 3-8253-1564-9.


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Poetologische Barockforschung
im Aufwind

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Selbst breit erforschte Themenfelder können kaum jemals als erledigt und abgeschlossen gelten, eigentlich noch nicht einmal als wirklich bekannt. Vielmehr gewinnen sie phasenweise immer wieder neue Aktualität, denn die Gegenstände verändern sich im Licht der an sie herangetragenen Fragestellungen, Methoden und Vorverständnisse. Dies gilt in besonderem Maße für die Barockpoetik, die Gottsched im Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730 / 51) vermeintlich endgültig inventarisiert und weitgehend verworfen hatte. Literaturgeschichtlich machte seine Abwertung Schule: Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde dem Zeitalter der Regelpoetik zwar mit unterschiedlichen Gründen, aber allemal in solider Verkennung der zugrundeliegenden Dichtungsauffassung Artifizialität und stilistische Überfrachtung, Blutleere und Regeltreue sowie auch Mangel an Originalität vorgeworfen. 1

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Derartigen Vorurteilen entzogen die rhetorischen Zugänge der 70er Jahre mit ihren historisierenden Hinweisen auf zeitgenössische Darstellungs- und Wirkungsintentionen nachhaltig ihre Grundlage. 2 In jüngster Zeit setzt eine weitere Welle von Studien zur barocken Dichtungslehre ein, in der sich wiederum nicht weniger als eine grundlegende Neuorientierung andeutet: Es geht da um das Verhältnis von Norm und Abweichung, 3 um die Frage nach Normierungsdefiziten und gewollten Spielräumen, 4 um die Rolle von furor 5 und poetischer Lizenz 6 und um die nicht-triadische Gattungssystematik des 17. Jahrhunderts. 7

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Bringt der Krieg
die Musen zum Schweigen?

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Der vorliegende Band, der die »Geburt der ›Deutschen Poeterey‹ nicht aus dem Geist, sondern aus der politischen und militärischen Wirklichkeit des Dreißgjährigen Krieges« (S. 9) analysiert, stellt einen nicht nur im quantitativen Sinne schwergewichtigen Beitrag zur wiederaufgeflammten Debatte um die Barockpoetik dar. Dieses Anliegen mag auf den ersten Blick überraschen, denn Krieg und Kunst erscheinen als kaum vereinbare Ausdrucksformen menschlicher Bedürfnislagen. Wenn 1617 mit den Fruchtbringern die erste der sogenannten ›Sprachgesellschaften‹ gegründet wurde und im Folgejahr der Prager Fenstersturz eine Ära europaweiter kriegerischer Auseinandersetzungen auslöste, liegt es nahe zu vermuten, daß die barocke Dichtungsreform im Zeichen des Krieges stand, vor allem, so möchte man weiter vermuten, durch sie behindert wurde. Leuchtet es aus heutiger Sicht auf die Literaturgeschichte nicht unmittelbar ein, wenn Adam Olearius in der Vorrede zu Oswald Belings posthum gedruckten Verdeutscheten Waldliedern (1649) erklärt, er hätte nach einer bereits etliche Jahre zurückliegenden Begegnung mit Martin Opitz gern selbst eine Vergil-Übersetzung unternommen, »wenn nicht das bald darauff erfolgtete Kriegswesen / (so vnser liebes Leipzig vmbgab vnd einnam) vnsere Musen hätte schweigen vnd wanderen heissen«? 8

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(Re-)Konstruktion der Reformpoetik
auf der kriegerischen Weltbühne

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Äußerungen wie diese müssen allerdings nach Kaminski als ganz und gar untypisch gelten, wenn sie eine »›Verrückung‹ des Blicks auf die deutsche Barockliteratur« diagnostiziert, »deren Wirksamkeit bis heute ungebrochen ist: der fraglose Konsens, daß die spät genug zum Vorschein gekommene Blüte einer ambitionierten muttersprachlichen Kunstdichtung schon bald unter den Verwüstungen des ›Deutschen Krieges‹ verschüttet worden sei oder doch jedenfalls merklich verkümmert« (S. 546). Um das Zustandekommen dieser »Verrückung des Blicks« möglichst vorurteilsfrei zu rekonstruieren, verpflichtet sich Kaminskis Studie auf einen radikal historisierenden Zugang: »Leitend für die Darstellung ist demnach – ungeachtet geschichtlichen ›Mehrwissens‹ – eine strikt an den Horizont des je im Zentrum stehenden Textes (seines Produzenten sowie der zeitgenössischen Erstrezipienten) sich bindende synchrone Perspektive, deren terminus ante quem jeweils durch die Kapitelöffnende Jahreszahl markiert ist.« (S. 10).

[8] 

Ästhetisierung
der wissenschaftlichen Monographie

[9] 

Die historischen Tiefenbohrungen fokussieren kapitelweise folgende acht Leittexte: Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624), Andrea Alciatos Sinnbild Ex bello pax aus dem Emblematum liber (1531), Georg Rodolf Weckherlins Triumf (1616 / 41), Martin Opitz’ Laudes Martis (1635), Andreas Gryphius’ Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes (1636) und Horribilicribrifax Teutsch (1648 / 663), Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Trutz Simplex (1670) und schließlich Justus Georg Schottels Horrendum Bellum Grammaticale (1673). Im Sinne eines Spiels im Spiel – Kaminski bemüht zur Erklärung ihrer kunstvollen Kapitelarchitektur den Gryphschen Begriff der »inneren Bühne« (vgl. S. 9 f.) aus dem Carolus Stuardus (1649 / 63) – werden die Analysen jeweils ein- oder mehrmals unterbrochen durch kürzere Vor- und Rückblicke auf kontrastierende Texte.

[10] 

Die zwar hochgradig, aber keineswegs in störender Weise artistische Faktur des Bandes greift außerdem die Gliederung von Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624) wieder auf, denn hier wie dort gibt es eine Einteilung in acht Kapitel sowie eine Vorrede und einen Beschluß dieses Buches. Kaminski spielt in letzterem mit den Formulierungen, die Opitz seinem Werk an gleicher Stelle zum Schutz mit auf den Weg gibt. Auch sonst überwindet Kaminskis Dispositionsschema die Gattungskonventionen des deutschen Gelehrtenschrifttums, denn die akademische Pflichtübung eines isolierten Forschungs- und Methodenkapitels entfällt zugunsten von philologisch durchweg grundsoliden, facettenreichen Detailstudien, in denen die begrifflich präzise Auseinandersetzung mit einschlägiger Forschung genau dort erfolgt, wo es argumentativ nötig ist.

[11] 

Krieg als verschüttetes
Paradigma des Barock

[12] 

Insgesamt muß hier eine anspruchsvolle Neuerscheinung vermerkt werden, deren sprachlich dichte und inhaltlich komplexe Belegführungen mit zahlreichen überraschenden Einsichten aufwarten. Die vielschichtigen Überlegungen des Bandes machen eines deutlich: Der historische Nexus zwischen der deutschen Barockliteratur und dem Dreißigjährigen Krieg läßt sich zureichend weder erklären mit einer Obstruktion der Kunst durch den Krieg noch durch eine trotzige Persistenz der Kunst unter den Bedingungen des Krieges. Vielmehr würden, so Kaminski, etliche Texte in ihrer spezifischen Eigenart sowie nicht zuletzt auch die merkwürdige Erfolgsgeschichte des in nur fünf Tagen von dem erst 26jährigen Opitz aufgesetzten Buches von der Deutschen Poeterey überhaupt erst ermöglicht durch das Zusammentreffen muttersprachlicher Ambitionen in der Kunstdichtung mit den europaweiten militärischen Auseinandersetzungen. Allerdings, so erfährt man weiter, läßt sich spätestens seit den 1660er Jahren eine literarische »Emanzipation vom militärgeschichtlichen Substrat des Dreißigjährigen Krieges« (S. 546) feststellen. Durch diesen Vorgang der literarischen Entmilitarisierung, die von Gottsched paradigmatisch zementiert wurde, geriet die gleichsam katalysatorische Funktion des Krieges in der Dichtungsreform, die Kaminski in archäologischer Kleinstarbeit luzide nachweist, in Vergessenheit.


Dr. Stefanie Stockhorst
Universität Augsburg
Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte
Universitätsstraße 10
DE - 86159 Augsburg

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Ins Netz gestellt am 18.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Dirk Niefanger. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Stefanie Stockhorst: Der Dreißigjährige Krieg als sprachbildende Kraft. (Rezension über: Nicola Kaminski: EX BELLO ARS oder Ursprung der »Deutschen Poeterey«. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2004.)
In: IASLonline [18.12.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1039>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Vgl. im Überblick Wilfried Barner (Hg.): Der literarische Barockbegriff (Wege der Forschung 358) Darmstadt: Wiss. Buchges. 1975.   zurück
Vgl. Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition (Rhetorik-Forschungen 2) 3., erg. Aufl., Tübingen: Niemeyer 1991 (EA 1966); Renate Hildebrandt-Günther: Antike Rhetorik und deutsche literarische Theorie im 17. Jahrhundert. Marburg: Elwert 1966; Klaus Dockhorn: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne (Respublica Literaria 2) Bad Homburg: Gehlen 1968; Ludwig Fischer: Gebundene Rede, Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland (Studien zur deutschen Literatur 10) Tübingen: Niemeyer 1968; Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen: Niemeyer 1970.   zurück
Vgl. Harald Fricke: Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst. München: Beck 2000; ders.: Norm und Abweichung – Gesetz und Freiheit. Probleme der Verallgemeinerbarkeit in Poetik und Ästhetik. In: Hendrik Birus (Hg.): Germanistik und Komparatistik. Akten des XVI. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1993 (Germanistische Symposien Berichtsbände 16) Stuttgart: Metzler 1995, S. 506–527; sowie ders.: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur (Beck’sche Elementarbücher) München: Beck 1981. – Obwohl oftmals epigonal auch Andreas Härter: Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel (Figuren 8) München: Fink 2000.    zurück
Vgl. Wilfried Barner: Spielräume. Was Poetik und Rhetorik nicht lehren. In: Hartmut Laufhütte (Hg.): Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Bd. 1 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 35) Wiesbaden: Harrassowitz 2000, S. 33–67; sowie Jörg Wesche: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit (Studien zur deutschen Literatur 173) Tübingen: Niemeyer 2004. Für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in den gerade im Erscheinen befindlichen Band danke ich dem Verfasser.   zurück
Dietmar Till: Affirmation und Subversion. Zum Verhältnis von ›platonischen‹ und ›rhetorischen‹ Elementen in der frühneuzeitlichen Poetik. In: Zeitsprünge 4 (2002), S. 181–210.   zurück
Vgl. Conrad Wiedemann: ›Dispositio‹ und dichterische Freiheit im Barock. In: Walter Haug / Burghart Wachinger (Hg.): Innovation und Originalität (Fortuna vitrea 9) Tübingen: Niemeyer 1993, S. 239–250; Stefanie Stockhorst: Die dispositio in der Barockpoetik als Fall der licentia? Zur Frage der dispositionellen Defizite in den praecepta und ihrer Kompensation. In: Euphorion 98 (2004), S. 323–346.   zurück
Vgl. Stefan Trappen: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre (Beihefte zum Euphorion 40) Heidelberg: Winter 2001, bes. S. 78–90; vgl. auch den materialreichen systemtheoretischen Beschreibungsversuch der frühneuzeitlichen Poetik bei Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas (Communicatio 28) Tübingen: Niemeyer 2001.   zurück
Adam Olearius: Widmungsvorrede Dvrchleuchtiger / Hochgeborner Fürst / Gnädiger Herr. In: Oswald Beling: Verdeutschete Waldlieder / Oder 10. Hirten Gespräche Des allerfürtrefflichsten Lateinisch. Poeten Virg. Marons / In Deutsche Verse übersetzet […]. Schleswig 1649, hier S. 4.   zurück