IASLonline

»Hätte Mme de Staël den Kantischen Text genau gelesen ...«

Julia von Rosen über Germaine de Staëls Kantinterpretation in De l'Allemagne

  • Julia von Rosen: Kulturtransfer als Diskurstransformation. Die Kantische Ästhetik in der Interpretation Mme de Staëls. (Studia Romanica 120) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2004. II, 306 S. Kartoniert. EUR (D) 36,00.
    ISBN: 3-8253-1642-4.
[1] 

Forschungslage und Fragestellung

[2] 

In ihrer 2003 verteidigten Göttinger Dissertation widmet sich Julia von Rosen einem Problem, das die Staëlforschung schon eingehend beschäftigt hat. Die außerordentliche, internationale Wirksamkeit des in Mme de Staëls De l’Allemagne entwickelten Deutschlandbilds, in dem Kant eine prominente Stelle einnimmt, hat die Frage nahegelegt, welche Rolle der Staëlsche Kant in der französischen und internationalen Kantrezeption spielt und auf welche Weise die Ideen des Königsberger Philosophen in der kulturessayistischen Darstellung seiner berühmten Interpretin wiedergegeben werden.

[3] 

Julia von Rosen legt den Akzent nun weniger auf die Untersuchung der Wirkung von Mme de Staëls Kantlektüre als auf die mehr oder minder adäquate Wiedergabe der Kantischen Positionen in De l’Allemagne und auf das, was sie als »Diskurstransformation« bezeichnet. Hinter diesem Begriff verbirgt sich vor allem die folgende Feststellung:

[4] 
Aus dem nüchtern-abstrakten philosophischen Original der Kritik der Urteilskraft wird in De l’Allemagne ein von subjektiven Stellungnahmen der Autorin durchzogener, romantisch inspirierter Text, in dem das Streben nach kultureller Wirksamkeit und lebenspraktischer Bedeutung philosophischer Ideen deutlich im Vordergrund steht (S. 9–10, ähnlich auch S. 293).
[5] 

Diese nicht wirklich überraschende Beobachtung war auch das Resultat der meisten bislang vorliegenden Arbeiten zur Kantrezeption Mme de Staëls. André Monchoux hatte denn auch bereits 1966 vorgeschlagen, ihre Darstellung eher als »curiosité historique« zu betrachten, die mehr über die »vibrante personnalité« der Autorin aussage als über Kant 1 .

[6] 

Auch Julia von Rosen scheint diese Meinung zu teilen, wenn sie eingangs sehr deutlich betont, De l’Allemagne könne nicht im »strengen Sinne als ›philosophischer‹ Text bezeichnet werden: Weder liegt eine übergreifende philosophische Fragestellung zugrunde, noch arbeitet die Autorin mit streng definierten Begriffen; weder läßt sich eine theoretische Kohärenz feststellen, noch folgt die Entwicklung ihrer Gedanken einer durchgehend argumentativen und analytischen Struktur« (S. 13).

[7] 

Doch zieht von Rosen aus dieser durchaus zutreffenden Einschätzung nicht die Konsequenz, den Blick stärker auf die einzelnen Instanzen im Transferprozeß zu richten, sondern unterstellt unausgesprochen immer wieder eher einen Übersetzungsvorgang, wie die oben zitierte Formulierung von der Kritik der Urteilskraft als »Original« (S. 9) für den Staëlschen Text bereits impliziert. Offensichtlich von dieser Vorstellung geleitet, konzentriert sie sich in ihrer Studie weitgehend auf eine nicht leicht zu begründende immanente Lektüre der beiden Texte.

[8] 

Kant und Staël
in der Französischen Revolution

[9] 

Gegen einen Zugang, der auf eine zeithistorische Verortung von Mme de Staëls Kantlektüre verzichtet, spricht die ausgesprochen politische Rezeption, die Kants Werk in Frankreich erfuhr. Der Kant gewidmete Artikel des Dictionnaire critique de la Révolution française von Furet und Ozouf und die Studie von François Azouvi und Dominique Bourel über die französische Kantrezeption zwischen 1788 und 1804 2 belegen die weitreichende Begeisterung für einen gewiß falsch verstandenen, aber eben eminent politisch gelesenen Kant, von dessen Schrift Zum ewigen Frieden (1795), die 1796 in französischer Übersetzung vorlag, man sich gar eine Anleitung zur Beendigung des Bürgerkriegs versprach. Da Mme de Staël sich in derselben Zeit in De l’influence des passions sur le bonheur des individus et des nations (1796) mit genau diesen Fragen beschäftigte, während ihr Freund Benjamin Constant 1797 gar in eine direkte Polemik mit Kant eintrat, muß eine Lektüre der Staëlschen Kantinterpretation, die diesen Vorlauf ausblendet und sich auf das in De l’Allemagne Ausgeführte beschränkt, unvollständig bleiben. Dabei wäre, wenn überhaupt, gerade hier die »lebenspraktisch[e] Bedeutung philosophischer Ideen« zu suchen gewesen, die Mme de Staël mit ihrer »Diskurstransformation« bezweckte.

[10] 

Ästhetik bei Mme de Staël

[11] 

Nach einer knappen Einleitung (S. 7–21) folgt in einem ersten Schritt eine Gegenüberstellung der »Ästhetik-Modelle« Kants und Mme de Staëls (S. 23–124), wobei von Rosen bei der Untersuchung zentraler ästhetischer Termini im Staëlschen Œuvre (»beaux-arts«, »art«, »goût«, »génie«, »imagination«, »admiration« oder »enthousiasme«) eine »extrem weite und flexible Verwendung« der Begriffe (S. 68) und mangelnde »sachliche Kohärenz« (S. 73) konstatiert. Warum diese Erkenntnis, die doch in der Einleitung bereits deutlich formuliert worden war (S. 13), nun nach jeder eingehenden Analyse der Staëlschen Terminologie in neuen Variationen wiederholt wird, ist nicht klar. Es drängt sich leider der Eindruck auf, daß die zugrundeliegende Fragestellung zu diesen Redundanzen zwingt, da eine Systematik des Unsystematischen eben kaum über 300 Seiten tragfähig ist.

[12] 

Dazu kommt, daß die Autorin, wenn es darum geht, die literarhistorischen Dimensionen des in der Arbeit untersuchten Rezeptionsprozesses zu beleuchten, sich sehr bedeckt hält. So weist sie im Zusammenhang mit Mme de Staëls Stil- und Sprachauffassung auf die in der Tat sehr erhellenden Staëlschen Urteile über die Sprache der Jakobiner hin, die sie oft als Begründung für ihren Abscheu vor Abstrakta und Neologismen anführt. Gegen den Staëlschen Vorwurf, die Jakobiner benutzten ihre Begriffe manipulativ, wendet von Rosen nun zu Recht ein, es »ließe sich gegen Mme de Staëls stilistische Konzeption und Verfahren ebenfalls der Vorwurf der Manipulation erheben, wenn man insbesondere die extrem suggestiv aufgeladene Funktion des Gefühls bedenkt« (S. 156). Da aber Mme de Staël »das Gefühl als rationales Vermögen betrachtet, dessen Erkenntnisfähigkeit lediglich an eine andere Form als der Verstand gebunden ist«, sei dieser Vorwurf »aus Mme de Staëls Sicht« unberechtigt. Und aus der Sicht der Autorin? »Je nachdem, ob man diese Prämisse akzeptiert oder einen anderen Gefühlsbegriff vertritt, kommt der Staëlschen Position mehr oder weniger Plausibilität zu« (S. 156).

[13] 

Grenzen einer immanenten Lektüre

[14] 

Ein Beispiel für die argumentativen Schwierigkeiten, in die man mit einer Lektüre gerät, die die Wege ausblendet, auf denen Mme de Staël zu ihren Kant-Kenntnissen gelangt ist, findet sich im Kant gewidmeten Kapitel des dritten Teils (S. 231–252). Es geht hier um die ja nicht unerhebliche Frage, wie Mme de Staël den kategorischen Imperativ beurteilt und darstellt. Von Rosen schreibt zu einer Stelle in Kapitel 14 des dritten Teils von De l’Allemagne (»Du principe de la morale dans la nouvelle philosophie allemande«), Mme de Staël beziehe »sehr deutlich und ausdrücklich Stellung gegen Kant, indem sie das Prinzip des kategorischen Imperativs, das sie nur implizit erwähnt, ablehnt« (S. 251). Als Beleg dafür, daß Mme de Staël den Begriff dennoch kannte, auch wenn sie ihn an der Stelle vermeidet, dient eine Notiz Karl August Böttigers, der in Erinnerung an ein Gespräch mit der prominenten Weimar-Besucherin geschrieben hatte: »Sie erklärte sich für das stoische kantische Prinzip des kategorischen Imperativs mit der größten Lebhaftigkeit und knüpfte daran alle ihre Ideen von Vervollkommnungsfähigkeit und Fortdauer des Denkenden in uns!« (S. 251). Damit ist zwar belegt, daß sie den Begriff kannte, aber gerade nicht, daß sie ihn ablehnte. Wie geht das zusammen?

[15] 

Julia von Rosen zitiert die betreffende Stelle folgendermaßen:

[16] 
L’opinion de Kant sur la véracité en est un exemple, il la considère comme la base de toute morale. [...] Il prétend qu’il ne faut jamais se permettre dans aucune circonstance particulière ce qui ne sauroit être admis comme loi générale; mais dans cette occasion il oublie qu’on pourroit faire une loi générale de ne sacrifier la vérité qu’à une autre vertu, car dès que l’intérêt personnel est écarté d’une question les sophismes ne sont plus à craindre, et la conscience prononce sur toutes choses avec l’équité. (S. 252) 3
[17] 

Auf was sich die Deixis von »cette occasion« bezieht, wird aus dem Zitat nicht ersichtlich, da der Bezug in den Auslassungszeichen verschwunden ist. Schlägt man die Stelle in De l’Allemagne nach, wird der Bezug klar:»Kant a porté le respect pour la vérité jusqu’au point de ne pas permettre qu’on la trahît, lors même qu’un scélérat viendroit vous demander si votre ami qu’il poursuit est caché dans votre maison«. Der Kommentar von De l’Allemagne erwähnt an der Stelle auch, daß sich die Anspielung auf eine Episode aus der Terreur bezieht, als Mathieu de Montmorency sich im Haus Mme de Staëls in der schwedischen Botschaft versteckt hielt.

[18] 

Die Debatte um das Lügenverbot

[19] 

Es handelt sich hier um das sogenannte Lügenverbot, zu dem sich Benjamin Constant mit eben diesem Beispiel des politisch Verfolgten in seiner bereits erwähnten Schrift von 1797 (Des réactions politiques) geäußert hatte. Kant hatte noch im September 1797 in den Berlinischen Blättern auf Constant geantwortet und damit eine ausführliche Lettre sur la philosophie de Kant im Magasin encyclopédique hervorgerufen, deren Verfasser der ehemalige Konventsabgeordnete Jean-Joseph Mounier war 4 . Für die Klärung der Frage, wie Mme de Staël den kategorischen Imperativ beurteilt, wäre dieser Zusammenhang von recht großem Interesse, zumal er auch wieder den unmittelbar politischen Hintergrund ihrer und der ersten französischen Kantlektüre im allgemeinen verdeutlicht, aber das sieht die Autorin anders: »Diese Quellen nachzuzeichnen, ist nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit, aber da diese nachweislich von prägender Bedeutung für die intellektuelle Entwicklung Mme de Staëls gewesen sind, dürfen sie in diesem Kontext nicht unerwähnt bleiben« (S. 252). Mit der bloßen Erwähnung ist es aber offenkundig nicht getan.

[20] 

Zur Bedeutung
der Vermittlungsinstanzen

[21] 

Wenn nämlich die 1814 publizierte Kant-Darstellung noch so deutliche Spuren der Diskussionen der späten 1790er Jahre und der Positionen Constants aufweist, verdient die Rekonstruktion dieser Spuren mehr Aufmerksamkeit. Julia von Rosen stellt aber gerade gegen Ende ihrer Arbeit das Verhältnis von Mme de Staëls Text zu dem Kants als das der französischen Bearbeitung zu einem deutschen »Orginal« (so S. 262, 272, 275, 294) dar und verleiht Mme de Staël aus dieser Sicht schlechte Noten: »nicht hinreichend präzise« (S. 266), »relative Vagheit« (S. 266), »keinerlei Übereinstimmungen« (S. 269), »weicht in doppelter Hinsicht von ihrem Original ab« (S. 272), »inhaltlich problematisch« (S. 275), bis hin zu dem Ausruf: »Hätte Mme de Staël den Kantischen Text genau gelesen [...]«(S. 278). Aber Julia von Rosen weiß doch, wie sie auch mit Axel Blaeschke ausführt (S. 255–256), daß Mme de Staël den Kantischen Text eben nicht genau gelesen hat, daß man nicht einmal mit Gewißheit sagen kann, in welcher Form sie ihn überhaupt gelesen hat und ob für sie die Erinnerung an Gespräche über Kant und die Lektüre französischer, italienischer und anderer Zusammenfassungen der Kantischen Philosophie nicht über weite Strecken an die Stelle der Beschäftigung mit dem »Original« getreten ist.

[22] 

Fazit

[23] 

Es ist bedauerlich, daß man scharfe Urteile nun gerade an einem Punkt geboten bekommt, den die Autorin mit ihrer eingangs ausgeführten, berechtigten Relativierung des philosophischen Gehalts der Staëlschen Kantkapitel bereits selber zu einem Nebenschauplatz erklärt hatte. Daß eine gewinnbringende Untersuchung in der Fortsetzung der Arbeit von Azouvi und Bourel für den Zeitraum ab 1804 liegen könnte, hatte von Rosen ebenfalls bereits in der Einleitung angedeutet (19–20), allerdings nur, um sich dann so weit wie möglich von deren Fragestellungen zu entfernen. Da das aber nicht vollständig möglich ist, müssen dann deren Erkenntnisse zu den eigentlichen Transferprozessen wiederholt über Exkurse nachgetragen werden (S. 184–194; 215–219). So hat man abschließend den verwirrenden Eindruck, daß hier wider besseres Wissen einer Frage nachgegangen wird, an deren potentiellen Ertrag die Autorin selber nur bedingt glaubt.



Anmerkungen

André Monchoux: Madame de Staël interprète de Kant. In: Revue d’histoire littéraire de la France 66 (1966), S. 71–84, hier S. 84. Es ist angesichts der zentralen Aussage von Monchoux’ Artikel nicht ganz korrekt, ihm vorzuwerfen, er überprüfe nicht, »inwieweit Mme de Staëls Aussagen auch konsistent sind« (so die Autorin S. 232), da er deutlich macht, daß es Mme de Staël darum nicht geht und nicht gehen kann.   zurück
François Azouvi / Dominique Bourel: De Königsberg à Paris. La réception de Kant en France (1788–1804). Paris: Vrin 1991.   zurück
In der Ausgabe Pange / Balayé Bd. IV, 1959, S. 323–324.   zurück
Vgl. Azouvi / Bourel [Anm. 2], S. 95–104.   zurück