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Attraktion und Repulsion kulturwissenschaftlicher Ansätze

Dynamiken in der Frühneuzeitforschung

  • Kathrin Stegbauer / Herfried Vögel / Michael Waltenberger (Hg.): Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung. Beiträge zur Identität der Germanistik. Berlin: Erich Schmidt 2004. 182 S. Kartoniert. EUR 29,80.
    ISBN: 3-503-07902-5.
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Das Fehlen einer akademischen Streitkultur in Deutschland ist oft beklagt worden. Der seit Jahren anhaltenden Debatte über das Für und Wider einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Literaturwissenschaft könnte diese trigger-Funktion in exemplarischer Weise zukommen. Scheinbar lässt sich über kein anderes Thema so trefflich streiten! Dies gilt besonders für die germanistische Philologie hierzulande, die sich ihm in zahllosen Publikationen, auf nationalen wie internationalen Germanistik-Tagen mit großer Beharrlichkeit widmet. Und das Thema ist, wie das jüngst erschienene Buch über Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung zeigt, noch immer virulent.

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Die Einleitung, alle fünf Beiträge sowie eines der zwei kürzeren Statements des Bandes entstammen der Feder von Lehrenden und Emeriti der philologischen Fakultät der LMU München, mithin einem Kreis von Forschern, der einer solchen kulturwissenschaftlichen Reform bisher eher kritisch gegenüber stand. Entsprechend fällt auch das Fazit des vorliegenden Buches aus. Die Beiträge zeichnen sich weniger durch Programmatik als durch einen kritisch-konstruktiven, bisweilen auch leicht spöttischen Gestus aus. Allein die Einleitung der drei Herausgeber setzt deutlichere, teils als programmatisch zu bezeichnende Akzente.

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Als Leitbegriffe einer zu befürwortenden kulturwissenschaftlichen Orientierung der Literaturwissenschaft kommen nach Ansicht von Kathrin Stegbauer, Herfried Vögel und Michael Waltenberger besonders drei Kategorien in Frage: »Textualität, Medialität und Literarizität« (S. 13). Allen drei Konzepten ist eigen, dass sie in den spezifischen Kompetenzbereich der Philologien fallen und somit keine importierten Konzepte sind, sondern sich eher als Exportschlager erweisen könnten – und sollten. 1

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Textualität der Kultur?

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Besonders das kulturwissenschaftliche Postulat einer basalen ›Textualität der Kultur‹ steht in der Zielscheibe der Kritik. Die Herausgeber fordern kritisch dazu auf, die »Textförmigkeit kultureller Phänomene weder objektiv noch konzeptionell« vorauszusetzen, sondern stattdessen »die historisch spezifischen Formen der Textualisierung kultureller Dispositionen in der schriftlichen Überlieferung bzw. im diskursiven ›Archiv‹ einer Epoche« (S. 12) zu fokussieren. Sie schlagen vor, »das Changement zwischen eigentlicher und metaphorischer Textualität der Kultur« (S. 21) nicht zu verwischen, sondern in der konkreten Analyse immer wieder zu thematisieren und kritisch zu reflektieren.

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Darüber hinaus plädieren sie dafür, nicht länger einer Argumentation des Abbruchs und der diversen Wenden (lingustic, iconic, performative turn) das Wort zu reden, sondern ein »Mindestmaß an disziplinärer Kontinuität der Wissensproduktion« (S. 8) zu bewahren. Dafür bietet sich in der europäischen Literaturgeschichte die Epoche der Frühen Neuzeit wie keine andere an. Sie wurde hier nicht nur als historischer Fokus gewählt, weil der mit dem vorliegenden Band zu feiernde Jubilar Wolfgang Harms sich ihrer Erforschung über viele Jahrzehnte gewidmet hat, sondern auch aufgrund der Beobachtung, dass sich hier eine besonders irritierende Diskrepanz zwischen kulturhistorischer Praxis und kulturtheoretischer Programmatik feststellen lässt. Dies betont besonders Friedrich Vollhardt in seinem Beitrag (»Kulturwissenschaft. Wiederholte Orientierungsversuche«, S. 29–48). Überdies ist sie auch diejenige Epoche, anhand derer methodische Leitfiguren wie Michel Foucault und Stephen Greenblatt ihre Konzepte entwickelten.

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Der Romanist Rainer Warning knöpft sich in seiner Abhandlung (»Shakespeares Komödie als Heterotopie. Auswege aus dem New Historicism«, S. 71–90) mehrere Essays Greenblatts vor und zeigt mit desillusionierender Schärfe deren Ungenauigkeiten und Unstimmigkeiten auf. Es geht Warning aber weniger um eine Generalabrechnung mit dem New Historicism, als vielmehr um eine Neukonturierung und Präzisierung. Dem von Greenblatt geprägten Begriff »diskursiver Einbettung« (embedding) eines Textes in sein kulturelles Diskursfeld stellt er sein Konzept »konterdiskursiver Ausbettung« (S. 90) gegenüber. Darunter versteht er die Distanzierung ästhetischer Diskurse aus ihrem epistemischen Kontext, um ihren eigenen diskursiven Regeln, zum Beispiel denen der Gattung, zu folgen.

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Veranschaulicht wird die Dialektik von Affirmation und Distanzierung anhand von Shakespeares Komödie Twelfth Night, Or What You Will (1602), beziehungsweise von Greenblatts kontextualisierender ›Lektüre‹ des Dramas. Warning nun diagnostiziert eine »nur schwer nachvollziehbare Selbstverleugnung eines Philologen« (S. 81), der es versäumt, auf die basale theaterhistorische und literaturwissenschaftliche Kategorie der Komödie überhaupt hinzuweisen. Die Komik der Handlung um das cross-dressing Violas werde nicht primär durch die von Greenblatt herangezogenen zeitgenössischen medizinischen Diskurse über Sexualität und Geschlechtlichkeit problematisiert, sondern durch den von diesem gänzlich übergangenen »dunklen Gegenpol« (S. 82), den um die Figur des Malvolio kreisenden zweiten Handlungsstrang. Die »Aversion gegen das Ästhetische« (S. 71), wie sie laut Warning die gesamte Theoriedebatte seit den 1960er Jahren prägt, zeige sich hier in ihrer eklatantesten Form.

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Zeichen und Präsenz

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Für den Eigen- und Mehrwert des Literarischen plädiert auch Peter Strohschneider, der sich in seinem innovativen Beitrag der Verschränkung von Kulturalität und Textualität in der sogenannten Kreuzinsel-Episode der Continuatio (1669) von Grimmelshausens Simplicissimus-Roman zuwendet (»Kultur und Text. Drei Kapitel zur Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi, mit systematischen Zwischenstücken«, S. 91–131). Er interpretiert Simplicii Transformation der gesamten insularen Welt in Texte als »rudimentäre Kultur-Geschichte« (S. 94) und bemerkt die »eigentümliche Konvergenz dieses frühneuzeitlichen Kulturmodells mit aktuellen Kultur- und literaturwissenschaftlichen Debatten« (S. 98).

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In Abgrenzung zu dekonstruktivistischen Ansätzen (Wiethölter 2 ) und solchen des New Historicism beharrt Strohschneider darauf, dass es erstens wichtige nichtdiskursive Elemente in literarischen Texten gibt und dass diese zweitens noch lange nicht als bloße ›Natur‹ kategorisierbar sind. Kultur, wie sie exemplarisch in Grimmelshausens Werk erscheint, ist daher nicht pauschal als Text zu beschreiben. Sie stelle »vielmehr ein komplexes Gefüge natürlicher und kultureller, textueller und nicht-textueller Sachverhalte« (S. 117) dar. Überdies operiere die von Simplicius geschaffene ›Kultur‹ beständig mit der Unterscheidung von »bedeutungstragenden medialen und unmittelbar magisch wirkmächtigen Artefakten« (S. 116). Solche magischen Artefakte sind in der barocken Welt insbesondere religiöse Zeichen, wie Kreuze, die in ihrer ›Zeichenhaftigkeit‹ eben nicht aufgehen. Als »Korrekturbewegung zum linguistic turn« (S. 118) betont Strohschneider daher, unter Bezugnahme auf rezente Theoriedebatten, Momente der nicht-zeichenhaften Präsenz, Gegenständlichkeit und Verkörperung.

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Die Texte von Warning und Strohschneider sind die materialnächsten und daher aufschlussreichsten Beiträge des Bandes. Die anderen drei Abhandlungen sind eher überblickshaft; sie fassen wichtige Positionen zusammen, stellen Theoriezusammenhänge dar und bestimmen eigene Standorte. Mit Friedrich Vollhardt, Jan-Dirk Müller und Gerhard Neumann sind hier aber renommierte Autoren vertreten, die in der kulturwissenschaftlichen Debatte schon lange präsent sind, so dass ihre Argumente zum Teil schon andernorts ausformuliert wurden und informierten Leser/innen bekannt sein dürften. Für Einsteiger/innen in diese Diskussion können sie doch durchaus hilfreich sein.

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Heterogene Perspektiven

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Friedrich Vollhardts Beitrag setzt sich konkret mit der Frühneuzeitforschung auseinander und kommt daher dem Anspruch des Bandes besonders entgegen. Er kann zahlreiche Felder nennen, in denen die Forschung bereits »vergleichbare kulturwissenschaftliche Fragestellungen, Schwerpunkte und Verfahrensweisen integriert und Ergebnisse vorgelegt hat«, von denen »die Erneuerer des Faches kaum Notiz [...] genommen haben« (S. 33). In einigen polemischen Passagen, gerichtet gegen kulturwissenschaftliche Überfliegerei und den ihr attribuierten »Dilettantismus« (S. 29), versäumt er es leider, auf etablierte Binnendifferenzierungen innerhalb des Feldes hinzuweisen, etwa zwischen der Kulturwissenschaft als eigenem Fach im Unterschied zu kulturwissenschaftlichen Methoden innerhalb der Philologien. 3

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Der Aufsatz von Jan-Dirk Müller (»Medialität. Frühe Neuzeit und Medienwandel«, S. 49–70) stellt eine der drei von den Herausgebern benannten zentralen Kategorien in den Mittelpunkt. Medialität umfasse ihm zufolge Fragen der Kommunikationsstrukturen, der Zeichentypen und -verwendung sowie der Positionen der Kommunikationspartner. Müller wendet sich gegen den »fahrlässig laxe[n] Sprachgebrauch [...], der den Begriff ›Medium‹ letztlich auf alle Zeichenträger anwendet« (S. 53) und beschränkt sich in seinen Ausführungen auf technische Medien, insbesondere den frühneuzeitlichen Buchdruck. Entgegen dem »Präsenz-Phantasma« (S. 52) einiger Theoretiker möchte er die zunehmende Mediatisierung zwar als Distanzierung vom Körper, nicht aber als Verlust beschreiben. Im letzten Abschnitt des Beitrags erörtert er am Beispiel von Sebastian Brandts Narrenschiff (1494) das Für und Wider einer frühneuzeitlichen Diskursanalyse der »Narrheit«, mit besonderem Blick auf mediale und funktionale Aspekte.

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Kaum auf die Frühe Neuzeit bezogen ist Gerhard Neumanns kulturtheoretischer Beitrag (»Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Ein Entwurf«, S. 131–160). In einzelnen Abschnitten (S. 134–52) befasst er sich mit den folgenden Fragestellungen: »Kultur als Text«, »Kultursemiologie«, »Linguistic turn – corporal turn – cultural poetics«, »Ritual und Theater«, »Geschichte der Wahrnehmung: Gender – das Eigene im Fremden – Erkennungs-Szene« und »Zeichen«. Diese zunächst etwas disparat wirkenden Felder werden mit Blick auf ihre Bedeutung für die Literaturwissenschaft diskutiert. Im abschließenden Entwurf zukünftiger Aufgaben beharrt Neumann – in deutlicher Differenz zu Warning – auf dem Anspruch, »Literatur nicht als lebenswelt-ferne Provinz im Reich der Kultur zu etablieren, sondern als ein Element im Spiel der Semantisierung des Materiell-Leiblichen selbst zu erweisen« (S. 159). Eine Abkoppelung des Ästhetischen von der lebensweltlichen und historischen Erfahrung hält er daher für fatal.

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So belegt die Heterogenität des vorliegenden Bandes aufs Anschaulichste, dass der Disput um die »Identität der Germanistik« 4 zwischen Rephilologisierung und Erweiterung des Faches auch nach dem großen germanistischen DFG-Symposion von 2003 5 noch an kein befriedigendes Ende gelangt ist. Aber sie belegt zugleich, wie notwendig es ist, sich mit den Prämissen des cultural turn dezidiert und vorurteilsfrei auseinander zu setzen.



Anmerkungen

Zur Begrifflichkeit von Theorieimport und -export siehe Jan-Dirk Müller: Überlegungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 46.4 (1999), S. 574–585, hier S. 576.   zurück
Der Aufsatz ist wesentlich eine kritische Auseinandersetzung mit Wiethölters Deutung der Kreuzinsel-Episode; vgl. Waltraud Wiethölter: ›Baltanderst Lehr und Kunst‹. Zur Allegorie des Allegorischen in Grimmelshausens ›Simplicissimus Teutsch‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), S. 45–65.   zurück
Vgl. hierzu Hartmut Böhme / Klaus Scherpe: Einleitung. In: H. B. / K. S. (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek 1996, S. 7–24, hier S. 10–13; Manfred Engel: Kulturwissenschaft/en – Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft – kulturgeschichtliche Kulturwissenschaft. In: KulturPoetik 1.1 (2001), S. 8–36, hier S. 9; Claudia Benthien / Hans Rudolf Velten: Einleitung. In: C. B. / H. R. V. (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek 2002, S. 7–34, hier S. 11–16.   zurück
So die Formulierung im Untertitel des vorliegenden Bandes.    zurück
Vgl. Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilogisierung oder Erweiterung? Germanistisches DFG-Symposion 2003 (Germanistische Symposien Berichtsbände 26). Stuttgart / Weimar 2004.   zurück