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Das Rädchen Kafka im amtlichen Getriebe

  • Franz Kafka: Amtliche Schriften. Hg. von Klaus Hermsdorf und Benno Wagner im Rahmen der von Gerhard Neumann u.a. herausgegebenen Kritischen Ausgabe (Schriften, Tagebücher, Briefe). Mit Materialien auf CD-ROM. Frankfurt / Main: S. Fischer 2004. 1024 S. Leinen. EUR (D) 178,00.
    ISBN: 3-10-038183-1.
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Die 1984 im Akademie Verlag der DDR erschienenen und von Klaus Hermsdorf unter Mitwirkung von Winfried Poßner und Jaromir Loužil herausgegebenen Amtlichen Schriften von Franz Kafka fristeten innerhalb der Literaturwissenschaft ein Schattendasein. Verstreute Erwähnungen blieben meist auf Fußnoten beschränkt, und die vermutlich ausführlichste Auseinandersetzung mit dem Material war dem einleitenden Essay vom Herausgeber selbst vorbehalten. Steht der imposanten, um ein Vielfaches umfangreicheren und ausführlich kommentierten Kafka-Edition im Rahmen der Kritischen Ausgabe (Schriften, Tagebücher, Briefe) ein ähnliches Schicksal bevor? Das vermag erst die Zukunft zu zeigen, doch die Zeichen stehen trotz der im Folgenden noch zu umreißenden Probleme ungleich günstiger als vor gut 20 Jahren.

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Ein Essay zur Einleitung

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Wie die Ausgabe von Kafkas Amtlichen Schriften aus dem Jahr 1984 beginnt auch diejenige aus dem Jahr 2004 mit einem ausführlichen Essay von Klaus Hermsdorf, der »Schreibanlässe und Textformen« zum Thema hat und nach einem eher systematischen Einstieg einen chronologischen Überblick über die Arbeit Kafkas in der Arbeiter- und Unfallversicherungsanstalt (AUVA) gibt. Diese vorangestellte Darstellung steht im Gegensatz zur Praxis der anderen Bände der Kritischen Ausgabe, in denen einer an der Handschrift orientierten und nach bestimmten Vorgaben bearbeiteten Umschrift des Textes der am Text orientierte Apparat und / oder Kommentar nachfolgt. Die Ausnahme von der Regel lässt sich vor allem durch die in vielen Fällen nicht eindeutig zu beantwortende Frage nach dem Autor der Texte rechtfertigen.

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Eine knappe Erläuterung zum Verfahren der Textproduktion und zur Funktion Kafkas in der AUVA hätte indes genügt, um den Leser für eine erste Konfrontation mit den Texten vorzubereiten. Die weiteren Ausführungen zu Schreibanlässen und Textformen hätten dann Teil des Abschnitts »Überlieferung und Kommentar« im Anhang werden können. Durch die fast einhundert Seiten umfassende Einleitung, so informativ und eingängig sie auch sein mag, geraten die Texte selbst allzu sehr in den Hintergrund, zudem kommt es dadurch zu einigen Überschneidungen mit den Erläuterungen im Anhang. Was die angedachte Kürzung des Essays und Integration des Gekürzten in den Abschnitt »Überlieferung und Kommentar« allerdings erschwert hätte, ist der tragische Umstand, dass Klaus Hermsdorf »während der Arbeit an Quellen und Materialien zu dem Band die Fähigkeit verloren ging, sie zu lesen« (S. 1014), und dass er daher der konkreten Mithilfe des zweiten Herausgebers, Benno Wagner, bedurfte, um Begonnenes fortzusetzen. So war es denn auch Wagner vorbehalten, den Abschnitt »Überlieferung und Kommentar« zu verfassen.

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Zum Aufbau

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Die Kafka selbst oder zumindest Kafkas Arbeitsbereich zugerechneten Dokumente werden im Hauptteil des Bandes – aufgeteilt in zwei Gruppen: »Publizierte Texte« und »Schriftsätze« – in chronologischer Reihenfolge und fortlaufender Nummerierung präsentiert. Unter einer Zahl können mehrere in Kleinbuchstaben unterteilte Texte zusammengefasst werden, zum Beispiel unter Punkt 17 »Kriegsheimkehrerfürsorge« zwei Spendenaufrufe in zwei verschiedenen Zeitungen. Außerdem werden häufig unter einer Zahl Abschnitte ein- und desselben Textes durch die Unterteilung in Kleinbuchstaben kenntlich gemacht, zum Beispiel bei den Jahresberichten, die einen Großteil der publizierten Texte ausmachen. Die Textwiedergabe erfolgt, wie im knappen »Editorischen Bericht« formuliert, »weitgehend diplomatisch« (S. 805); Texte der Herausgeber erscheinen im Band kursiv. Zuweilen werden Reproduktionen von Dokumenten oder Dokumentteilen, wie beispielsweise den verwendeten Briefköpfen, wiedergegeben. Zum Abschluss der Schriftsätze unter Punkt 27 »Autographen« sind gleich eine Reihe von Schriftstücken, die Kafka unterzeichnet hat, als Faksimiles präsentiert.

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Nach der Sigelliste im Anhang des Textes folgen hilfreiche »Begriffserklärungen« (S. 798–804). An den dann folgenden zweiseitigen »Editorischen Bericht« schließen die »Erläuterungen zu den tschechischen Versionen der Jahresberichte der Prager AUVA« an, in denen kenntnisreich und kompakt über die Verwendung des Deutschen und Tschechischen in der AUVA informiert wird (S. 807–813). 1 Der von Wagner verfasste Abschnitt zu »Überlieferung und Kommentar« macht den Hauptteil des Anhangs aus. Zu jedem präsentierten Dokument ist in der Überlieferung – meist durch eine bibliographische Angabe – die Herkunft des Textes verzeichnet. Es folgt eine knappe Einordnung »Zur Verfasserschaft«, eine Auflistung der wenigen editorischen Eingriffe und schließlich als Herzstück der »Kommentar«.

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Im Gegensatz zur Kommentierungspraxis der Kritischen Ausgabe handelt es sich dabei um keinen Stellenkommentar, sondern um einen Kommentar, der in beeindruckender Art und Weise, umfassend und elaboriert jedes Dokument in eine Reihe von Kontexten einordnet, sei es ein versicherungsrechtlicher oder -technischer Wissenshorizont, seien es Bezüge zu literarischen Texten Kafkas oder sei es schlicht der pragmatische Kontext, der einen Einblick in den Aufbau und die Aufgabenverteilung der AUVA gewährt.

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Potenziert werden die Informationen zu den Amtlichen Schriften durch eine reiche Sammlung von Materialien auf der beigefügten CD-ROM, die von Umfang und Aufbau wie ein ›Buch im Buch‹ erscheint. Dort lassen sich dann auch als Teil von »Kafkas Personalakte« unter Nummer 49 (die Zählung beginnt neu auf der CD-ROM) die »Briefe Kafkas an die Anstalt« finden, die ein wichtiger und eingängiger Bestandteil der alten Ausgabe der Amtlichen Schriften waren, die aber wegen der Überschneidung mit den Brief-Bänden der Kritischen Ausgabe nicht Eingang fanden in die Dokumenten-Sammlung der Neuausgabe.

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Gefahr der Desorientierung

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Die Gefahr, die mit der perspektivreichen Kommentierungspraxis wie auch mit dem ›Buch im Buch‹ auf der beigefügten CD-ROM einhergeht, ist die Gefahr der Desorientierung oder – etwas plastischer ausgedrückt – der ›Überfütterung‹ der Leserin oder des Lesers mit Informationen. Die komplexen und für die meisten unbekannten verwaltungstechnischen und -rechtlichen Zusammenhänge bedingen es zwar, dass zur verständlichen Erläuterung eines Dokumentes oder Sachverhaltes mehr Kommentar- und Materialtexte vonnöten sind als bei Kafkas Briefen oder Tagebüchern, aber vielleicht hätte gerade dieser Umstand als Grund dafür genommen werden können, dass auf Übersichtlichkeit und Orientierungshilfen ein besonderer Akzent gelegt wird.

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Von der Warte des Rezensenten lässt sich so etwas natürlich leicht einfordern; die Warte des Editors, der diese im Hinblick auf eine Edition widerspenstigen Texte der Öffentlichkeit mit allen nötigen Hintergrundinformationen präsentieren möchte, ist da eine andere. Die Probleme, die im Folgenden noch Thema sein werden, sind eben vor allem anderen Probleme der Texte selbst, welche zudem grundlegende Probleme der Literaturwissenschaft berühren. Nichtsdestotrotz sollten kurz drei kritische Anmerkungen zum Aufbau gestattet sein:

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1. Es kommt zu Überschneidungen zwischen dem einleitenden Essay, dem Kommentar aus dem Anhang und der Sammlung von Materialien auf CD-ROM, so dass sich beim Lesen eine Zerrissenheit herstellt zwischen einem Zurückblättern zum Anfang, einem Nachlesen im Kommentar und einem Stöbern in den elektronisch gespeicherten Materialien.

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2. Der Kommentar hätte möglicherweise etwas knapper konzipiert sein können, obgleich dadurch überaus inspirierende Kommentarabschnitte, von denen einer weiter unten noch vorgestellt werden wird, der Gefahr der Streichung ausgesetzt gewesen wären.

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3. Bei Fragen, die sich bei der Lektüre ergeben und deren Beantwortung im Kommentarteil zu suchen wäre, muss die Leserin oder der Leser so weit zurückblättern, bis die übergeordnete Zahl des Dokuments oder Dokumentkomplexes gefunden wird, um diese Zahl dann im Anhang herauszusuchen. Hier wäre ein kleiner Bruch mit dem üblichen Seitenaufbau der Kritischen Ausgabe im Sinne einer besseren Übersichtlichkeit denkbar gewesen, beispielsweise durch die Bemerkung »Kommentar zu [Seite x bis y]« in der Fußzeile der knapp 170-seitigen Erläuterungen im Abschnitt »Überlieferung und Kommentar«.

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Das Problem der Autorschaft

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Das aufdringlichste Problem, das gleich einem schwer zu greifenden Gespenst durch die Texte und deren Kommentierung geistert, ist das Problem der Autorschaft. Dieses Problem gründet letztlich in der auf komplexen Formen von Arbeitsteilung beruhenden Struktur der AUVA und vor allem in Kafkas Funktion als Konzeptsbeamter. Dessen eigentliche Aufgabe war zwar das ›Verfassen‹ amtlicher Schriften, das ›Verfassen‹ beschränkte sich aber, zumindest formell, »auf die Herstellung von Konzepten, also eines Entwurfs, einer Vorarbeit« (S. 17). Daher fehlt »gerade den qualifizierten Amtsschriften Kafkas, den im Druck erschienenen wie den Akten«, wie Hermsdorf in der Einleitung schreibt, »ein persönlicher Ausweis der Verfasserschaft« (S. 15). Vereinzelt erscheinen die Schriften pseudonym, häufiger – wie die Jahresberichte – anonym; die juridischen Schriftsätze wiederum werden von anderer Hand signiert, sind also ›alternym‹. Dieses Auseinandertreten von Verfasser und Unterzeichner und überhaupt die Einbindung des Schreibens in einen größeren Verwaltungsvorgang hatten eine Entsubjektivierung der schreiberischen, beruflichen Tätigkeit zur Folge. Kafka, der in der AUVA vom 30. Juli 1908 bis zur Frühpensionierung am 1. Juli 1922 beschäftigt war – die letzten Jahre allerdings zumeist aus gesundheitlichen Gründen freigestellt –, »vertrat die Behörde in der Sache, aber nicht als Person« (ebd.). Konsequent und pointiert resümiert Hermsdorf die Beschreibung von Kafkas Funktion innerhalb der AUVA folgendermaßen:

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In der Verwaltungsorganisation war der Konzeptsbeamte »Schriftsteller«, doch kein Autor als Urheber einer individuellen Leistung. Der Ausdruck von Subjektivität, eine der Voraussetzungen des modernen Dichtungsbegriffs, ist in der Textsphäre amtlicher Schriften keine Qualität, sondern eher ein Mangel. (S. 17)
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Genauer betrachtet begegnen sich in der Frage der Autorschaft zwei Probleme, die isoliert betrachtet folgende Auswirkungen für die Edition der Amtlichen Schriften und mögliche daran anschließende Arbeiten haben:

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1. Die Editoren konnten bei der Frage der Verfasserschaft der Texte nicht nach der Unterschrift gehen – gerade am Ende seiner aktiven Beschäftigungszeit hat Kafka Texte unterschrieben, die er möglicherweise gar nicht verfasst hatte –, sondern mussten sich auf Indizien berufen und in vielen Fällen mit Wahrscheinlichkeiten begnügen. Das erschwert natürlich die editorische Arbeit und so ist die Kardinalfrage ›Ist der Text tatsächlich von Kafka?‹ ein ständiges Thema in den Begleittexten der Herausgeber. Demgegenüber können sich Arbeiten, die sich anschließend an die Edition mit Kafkas Amtlichen Schriften beschäftigen, problemlos auf das editorische Urteil einer wahrscheinlichen Verfasserschaft berufen und müssen dadurch nicht ihre möglichen Interpretationen der Texte in Frage stellen.

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2. Das geringere Problem für die Edition, aber größere für anschließende Arbeiten, ist die Frage, inwieweit Kafka überhaupt als Autor im emphatischen Sinne der im Amt verfassten Schriften gelten kann, wenn das Verfasste durch einen Katalog von amtlichen Vorgaben – seien es stilistische oder thematische – sowie durch einen bestimmten von den Bedürfnissen des Amtes her festgelegten Funktionsrahmen bestimmt wird. Von einem freien, selbstbestimmten Arbeiten, wie es gern mit dem Schreiben eines literarischen Autors verbunden wird, kann im Zusammenhang der Amtlichen Schriften höchstens sehr eingeschränkt die Rede sein. Derartige Zweifel an der Souveränität des Autors berühren die grundlegende literaturwissenschaftliche und von einem der Herausgeber, Benno Wagner, in einem Aufsatz bereits eingehend untersuchte Frage nach dem, was einen Autor ausmacht und kennzeichnet. 2

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Das Problem der Textform

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Hermsdorf plädiert in seiner Einleitung zwar dafür, bestimmte Texte wie beispielsweise die vielleicht bekannteste amtliche Schrift Kafkas zur Unfallverhütung bei Holzhobelmaschinen als »›Literatur‹, wenn auch im weitesten Sinn« (S. 12) zu bezeichnen, bei den unzähligen, von Kafka verfassten juristischen Schriftsätzen macht er allerdings schon wieder einen Rückzieher und sieht sie »auch aus dem weitherzigsten Begriff des Literarischen herausfallen« (S. 13). Einen von Kafka verfassten Spendenaufruf ordnet er beispielsweise folgendermaßen ein:

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Der ›Aufruf‹ wäre ein außerordentliches Beispiel einer Konzeptsarbeit im Sinne fremdbestimmter Schreibaufträge, austauschbarer Anforderungen, von Selbstverleugnung, Rollenspiel – jedenfalls nicht Literatur, nicht ›Schreiben‹. (S. 84)
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Die Einordnung exemplifiziert zugleich das Dilemma einer genauen Klassifizierung von Kafkas Texten, denn: Gibt es nicht literarische Texte, die vor allem anderen durch eine bestimmte Form von ›Selbstverleugnung‹ oder die durch ein mehr oder minder kalkuliertes ›Rollenspiel‹ gekennzeichnet sind? Wie die Grenzziehungen zwischen autobiographischen Aufzeichnungen, Briefen und originär literarischen Texten durch die Texte selbst immer wieder in Frage gestellt werden, so auch bei Kafkas Amtlichen Schriften. Der pikante Unterschied zu anderen Schriften ist vielleicht, dass manche im Amt verfassten Texte, da sie so ganz und gar nicht dem landläufigen Bild eines literarischen Textes entsprechen, auf die Frage nach dem, was Literatur zu Literatur macht, viele vermeintlich selbstverständliche Antworten nicht mehr zulassen. Es wäre der Literaturwissenschaft zu wünschen, dass sie sich diesen Befragungen und Verunsicherungen aussetzt, und nicht vorschnell die Texte der Obhut der Verwaltungswissenschaft anempfiehlt, wie in der einen oder anderen Reaktion auf die Neuedition schon geschehen. 3

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Das Problem der Textmasse

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Bereitet die Frage der Verfasserschaft eher den Editoren oder an Editionstheorie Interessierten Schwierigkeiten und die Frage nach der Textform eher denjenigen, welche an die Amtlichen Schriften mit ihren Überlegungen anschließen wollen, so stellt die zu bewältigende Textmasse beide vor Probleme. Wie viel Wissen benötigt der Leser oder die Leserin von versicherungsrechtlichen Zusammenhängen, um beispielsweise den aller Wahrscheinlichkeit nach von Kafka verfassten Text zum Strafprozess gegen Josef Renelt vom 28. Juni 1913 zu verstehen? Dieser Text, der als Dokument 20. g) in die Amtlichen Schriften mit aufgenommen wurde (S. 602–609), beginnt bezeichnenderweise mit einer Auflistung von Materialien, welche der Anstalt bezüglich dieses Falles vorlagen und ist durch eine Reihe von Unterteilungen mit römischen und arabischen Zahlen sowie Kleinbuchstaben in annähernd zwei Dutzend Kleinabschnitte gegliedert. In der Sache geht es um den mehrjährigen Rechtsstreit über die Höhe der vom Steinbruchunternehmer Josef Franz Renelt an die AUVA zu entrichtenden Versicherungsbeiträge. Die AUVA warf Renelt falsche Angaben vor, die eine zu niedrige Festsetzung der Versicherungsbeitrage zur Folge hatte, während es Renelt nach mehreren Rechtsinstanzen und Jahren vermochte, die AUVA mit seinem Vorwurf falscher Berechnungen beziehungsweise Berechnungsgrundlagen bei der Festsetzung der Beiträge weitgehend in die Defensive zu drängen. Wagner vermerkt in seinem Kommentar zum Dokumentkomplex 20 einleitend:

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Diese teilweise Überlagerung eines zivilrechtlichen und eines strafrechtlichen Verfahrens mit aktenmäßig bezeugter Beteiligung Kafkas ermöglicht eine fallbezogene Rekonstruktion des Aufgabenprofils Kafkas innerhalb der AUVA. (S. 918 f.)
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Mit diesem Argument rechtfertigt Wagner einerseits, dass er die anderen mit größter Wahrscheinlichkeit nicht von Kafka verfassten Dokumente 20. a) bis f) und 20. h) mit in den Abschnitt »Schriftsätze« aufgenommen hat; andererseits nimmt er das Exemplarische des Falles zum Anlass, in seinem Kommentar ausführlich die Hintergründe zu beleuchten. Kritiker, die wie der Rezensent selbst bisweilen zur Kürze anhalten möchten, könnten hier auf den Plan gerufen werden und würden in jenem Kommentar doch mindestens ebenso viele Argumente für wie gegen eine größere Knappheit finden.

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Ein Beispiel zum Thema
›Mehr oder Weniger?‹

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So weitschweifig und ausufernd der Kommentar zum Dokumentkomplex 20 auf den ersten Blick erscheint, so interessant und schillernd ist er bei genauerer Betrachtung. So mag nach der Lektüre von acht Seiten Kommentartext Wagners Ankündigung, die gerichtliche Darstellung eines Kontrollbesuchs der AUVA in dem Betrieb des Baumeisters Vinzenz Kruml zusammenhängend wiederzugeben, um die Angst der Kontrolleure vor den Kontrollierten zu erklären, skeptisch beäugt werden. Wer dann allerdings beim Text bleibt, wird aller Zweifel ledig und sieht unmittelbar ein, warum, wie Wagner schreibt, jene Darstellung »fraglos« auch für Kafkas literarische Gestaltungen »inspirierend« gewesen sein muss (S. 927). Als Beweis ein kleiner Ausschnitt aus der gerichtlichen Darstellung:

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Da geriet Kruml in Aufregung und schrie etwa folgende Worte: »Und jetzt gebe ich Ihnen weder die richtigen noch die unrichtigen [Lohnlisten, M. K.] und schauen Sie, daß Sie herauskommen«. Darauf sprang er zum Tisch und wollte sich der Originalverzeichnisse bemächtigen. | Julius Schönfeld schob sie jedoch mit den übrigen Akten vom Tisch und hielt sie fest in der Hand. | Kruml preßte dem Schönfeld von rückwärts die rechte Hand zusammen und riß ihm die Akten vom Tisch und hielt sie fest in der Hand. | Bei dieser Herumzieherei um die Akten trug sowohl Schönfeld als auch Kruml leichtere Verletzungen davon. [...] Karl Brož ermahnte im Laufe des Auftrittes ständig den Baumeister Kruml, er möge sich nicht gewalttätig benehmen und trat ihm in den Weg, damit er den Julius Schönfeld nicht hinaus verfolgen könne. (S. 928)
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Ein durchaus vergleichbarer Kampf um die Aktenhoheit mit einer ähnlichen Personenkonstellation ist in einer von Kafka gestrichenen Stelle aus seinem Romanfragment Das Schloss zu beobachten:

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»Und das Protokoll?« fragte K. »Bleibt in der Tasche« sagte Momus. »Ich wollte es gern ein wenig ansehn« sagte K. und fast unwillkürlich griff er nach der Tasche und hielt sie schon an seinem Ende. »Nein, nein« sagte der Sekretär und entzog sich ihm. »Was tun Sie denn?« sagte die Wirtin und schlug K. leicht über die Hand »Glauben Sie etwa, Sie könnten das was Sie durch Leichtsinn und Hochmut verloren haben, durch Gewalt wiedergewinnen? Böser, schrecklicher Mensch! Hätte denn das Protokoll in Ihrer Hand noch irgendwelchen Wert? Es wäre eine Blume, abgeweidet auf der Wiese.« 4
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Angesichts solcher Lektüreerlebnisse fällt es schwer, die Mahnung zur Kürze auszusprechen; womöglich wäre dann eben jenes wunderbare Gerichtsprotokoll aus einem Seitenarm des Kommentars einer Kürzung zum Opfer gefallen und als abgeweidete Blume auf der schwer zugänglichen Wiese des staatlichen Zentralarchivs in Prag (SÚA) liegen geblieben.

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Die Leserinnen und Leser der Amtlichen Schriften kommen womöglich nicht umhin, den je eigenen Umgang mit dem Problem der großen Menge an Informationen zu finden. Nicht bloß der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass zu dem eben angerissenen Themenkomplex die Materialien beziehungsweise Materialienkomplexe 29 bis 34, die unter der Überschrift »Kafkas Aufgabenbereiche: Die Einreihungsagenda« auf der CD-ROM zu finden sind (S. 564–661), zur weiterführenden Lektüre empfohlen werden können. Letztlich ist die CD-ROM als ›Buch im Buch‹ insofern von großem Wert, als dass eine Vielzahl an Informationen und Materialien, die sich nur schwerlich hätten drucken lassen, einer breiten Öffentlichkeit zum Studium dargeboten werden können.

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Perspektiven

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Im Wesentlichen sind es zwei Gründe, die dafür sprechen, dass der Neuedition der Amtlichen Schriften mehr Beachtung durch die wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Öffentlichkeit geschenkt wird als der alten Edition aus dem Akademie Verlag.

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1. Die Neuedition der Amtlichen Schriften erscheint nicht isoliert als einzelner Band, sondern im Rahmen eines größeren, umfassenden Editionsprojektes, der Kritischen Ausgabe (Schriften, Tagebücher, Briefe), und bekommt dadurch einen gleichberechtigten Platz neben den anderen dort erschienenen Bänden.

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2. In den letzten Jahren hat sich die Literaturwissenschaft vermehrt anderen Disziplinen, die an das im Amt Geschriebene ihre jeweils eigenen Fragestellungen herantragen könnten, geöffnet; damit einhergehend hat die Kulturwissenschaft erheblich an Einfluss gewonnen und mit der Medien- oder Technikgeschichte, für welche die Amtlichen Schriften von besonderem Interesse sein dürften, Wissenschaftszweige hervorgebracht, die wichtige Impulsgeber in den aktuellen Diskursen sind.

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Gerade das Verhältnis von Versicherungswesen und Literatur, das sich bei Kafka genauer studieren ließe, verspricht, dem aktuellen Interesse am Verhältnis von Literatur und Wissen ein neues, interessantes Betätigungsfeld zu liefern. 5 Daneben kann sich aber auch die an der Biographie interessierte Forschung, die gerade ihren dritten Frühling erlebt, über die durch diesen Band geschlossenen Lücken im Arbeitsleben Kafkas freuen und in ihre vom Autor ausgehenden Interpretationen einordnen. Ein Panoptikum denkbarer Anschlussmöglichkeiten an die Amtlichen Schriften bietet nicht zuletzt ein wunderbarer, kleiner Band über Kafkas Fabriken aus der Marbacher Magazin-Reihe. 6

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Fazit

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Trotz oder auch gerade wegen der umrissenen Probleme, an denen sich die Edition abzuarbeiten hatte, gebührt den Editoren für ihre Leistung höchste Anerkennung. Jahrelange Recherchen liegen dem beeindruckenden Band zugrunde. Die Menge der über die bloße Texterschließung hinausgehenden, von den Herausgebern erworbenen und präsentierten Kompetenzen im Aufbau von Verwaltungsstrukturen, im Versicherungsrecht und noch einigen anderen benachbarten Bereichen ist überwältigend. Kein rechtlicher Zusammenhang – mag er auch noch so komplex sein – kann sich vor der eingängigen Darstellung und souveränen Beurteilung durch die Editoren sicher fühlen. Es ist dem Band zu wünschen, dass möglichst viele Arbeiten an das dort Präsentierte anschließen, so dass die Amtlichen Schriften zu einem unverzichtbaren Rädchen im Wissenschaftsgetriebe werden.



Anmerkungen

Vor kurzem ist eine Monographie erschienen, die detailliert der Frage nachgeht, in welchem Verhältnis Kafka zur tschechischen Sprache stand und welche Sprachkompetenzen bei ihm anzunehmen wären. Im Vorwort dankt der Verfasser, der Bohemist Marek Nekula, ausdrücklich dem Mitherausgeber der Amtlichen Schriften, Benno Wagner, mit dem er »Wissen und Material ausgetauscht« habe (Vgl. Marek Nekula: Franz Kafkas Sprachen: »... in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes ...«. Tübingen: Niemeyer 2003, S. XII).   zurück
Wagner zeigt in dem Artikel zu den hier behandelten Problemen und vor allem zum Problem der Autorschaft überzeugende Lösungsansätze auf. So rezipiert er von Foucault die produktive Verschiebung vom ›Autor-Subjekt‹ zur ›Autor-Funktion‹ und kann daran anschließend Kafkas berufliche Arbeit als integralen Bestandteil »eines komplexen, durch keinerlei ›Persönlichkeit‹ totalisierten Netzwerks von Schreibtechniken und -praktiken« ansehen (vgl. Benno Wagner: »Beglaubigungssorgen«. Zur Problematik von Verfasserschaft, Autorschaft und Werkintegration im Rahmen der Amtlichen Schriften Franz Kafkas. In: Editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 17 / 2003 (hg. von Bodo Plachta und Winfried Woesler), S. 155–169, hier S. 162.   zurück
Vgl. bspw. die Rezension »Viel Ärger mit den Holzkurzwarenerzeugungen. Franz Kafkas amtliche Schriften in kritischer Edition sind ein Fall für Verwaltungswissenschaftler« von Andreas Dorschel in der Süddeutschen Zeitung vom 7. Juli 2004. Dorschel stellt indes den Wert der Schriften für die Literaturwissenschaft nicht in Frage, sondern plädiert für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der Literatur- mit der Verwaltungswissenschaft.   zurück
Vgl. Franz Kafka: Das Schloss. Apparatband. Hg. von Malcolm Pasley (†). In: Franz Kafka. Kritische Ausgabe (Schriften, Tagebücher, Briefe). Hg. von Gerhard Neumann u.a. Frankfurt / Main: S. Fischer 19833, S. 271 f.   zurück
Auch zu diesem Bereich hat Wagner eine empfehlenswerte Veröffentlichung vorzuweisen (Benno Wagner: »Die Welt geht ihren Gang, und Du machst Deine Fahrt.« Zur Problematik des ›normalen Lebens‹ bei Franz Kafka (Anhang: Interview mit Ursula Wandl, ReIntra). In: Annette Keck / Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen. Bielefeld: Transcript 2001, S. 211–234). Zur Veranschaulichung für das aktuelle Interesse an Übergängen von der Literatur zu anderen Wissensbereichen sei kurz auf drei beispielhafte Monographien hinweisen (Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen: Wallstein 2002; Andreas B. Kilcher: Mathesis und Poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000. München: Fink 2003; Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich, Berlin: Diaphanes 20042).   zurück
Kafkas Fabriken. Bearbeitet von Hans-Gerd Koch und Klaus Wagenbach (Marbacher Magazin 100 / 2002. Hg. von Ulrich Ott) Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 20032.   zurück