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Der Zwiespalt der Moderne

England zwischen Freiheit und Aristokratismus

  • Tilman Fischer: Reiseziel England. Ein Beitrag zur Poetik der Reisebeschreibung und zur Topik der Moderne (1830-1870). (Philologische Studien und Quellen 184) Berlin: Erich Schmidt 2004. 757 S. Kartoniert. EUR (D) 64,00.
    ISBN: 3-503-07907-6.
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Tilman Fischer hat mit Reiseziel England ein gewichtiges Buch vorgelegt. Britischem Understatement und damit dem Untersuchungsgegenstand folgend trägt die Arbeit den bescheiden anmutenden Untertitel Ein Beitrag zur Poetik der Reisebeschreibung und zur Topik der Moderne (1830–1870). Gut 750 Seiten sind jedoch weit mehr als nur ein Beitrag. Zumal es sich eigentlich um zwei Bücher handelt. Denn der erste Teil von etwa 340 Seiten widmet sich der Gattungsgeschichte der belletristischen Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts. Der zweite Teil, in dem das eigentliche Reiseziel, England, aus deutscher Perspektive behandelt wird, geht über die engere literaturwissenschaftliche Betrachtung hinaus, da zentral die Geschichte Englands und Deutschlands in den Jahrzehnten um 1850 ins Blickfeld gerät. Die Studie ist schon deshalb mehr als ein Beitrag, da sie aus einer äußerst breiten Quellenbasis schöpft, die nicht weniger als den Anspruch auf Vollständigkeit für den gewählten Zeitraum erhebt (S. 42).

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Zum Stand der
Reiseliteraturforschung

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Etwa in den frühen 1980er Jahren setzte eine bis heute nicht abreißende, reichhaltige Reiseliteraturforschung ein. Zeitlich konzentriert sich diese auf die Zeit des späten 18., allenfalls noch auf die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, da die Zeit um 1800 gemeinhin als die Hochphase des Reiseberichts gilt. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts ist darüber hinaus bislang verhältnismäßig wenig bearbeitet worden. Insofern liefert die Studie mit der Konzentration auf die Zeit zwischen 1830 und 1870 einen wichtigen Kontrapunkt.

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Ein weiteres Charakteristikum der Reiseforschung liegt in der weitgehenden Arbeitsteilung zwischen Literaturwissenschaftlern, die sich nicht selten auf einzelne Fallstudien konzentrieren, auf der einen Seite, und Historikern, die sich in vielen Fällen eher der materiellen Reisekultur widmen, auf der anderen. Tilman Fischer gelingt es, diese Arbeitsteilung an vielen Stellen, vor allem im zweiten, stärker historisch angelegten Teil seiner Arbeit, auf überzeugende Weise zu durchbrechen. Zwar folgt der Autor mit dem zentralen Anliegen einer Gattungsanalyse seiner Herkunftsdisziplin, der Literaturwissenschaft. Aber die Dissertation profitiert von der offenbar fruchtbaren interdisziplinären Atmosphäre des Paderborner Graduiertenkollegs »Reiseliteratur und Kulturanthropologie«, denn Tilman Fischer entnimmt viele Anregungen aus den Nachbardisziplinen wie Soziologie, Ethnologie oder Geschichtswissenschaft. Namentlich stehen hier Autoren wie Pierre Bourdieu, Clifford Geertz, Roger Chartier oder Michael Harbsmeier Pate, um nur einige zu nennen (S. 21 f.).

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Theoretische Ansatzpunkte

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An Bourdieu anknüpfend argumentiert Tilman Fischer für eine kulturelle Entgrenzung der Reiseliteratur. Aus der Sicht des Historikers wird überzeugend für eine möglichst breite und repräsentative Quellenbasis argumentiert, die weit über die genannten literaturwissenschaftlichen Studien hinausgeht. Denn nur eine möglichst breite Quellengrundlage erlaubt es, über den einzelnen Bericht hinaus Fragen nach gesellschaftlichen Praktiken, kollektiven Verarbeitungs- und Deutungsmustern von Realität zu beantworten. Die Quellengrundlage besteht aus etwa 80 deutschsprachigen, zwischen 1830 und 1870 publizierten Reiseberichten. Die Pole bilden dabei ein Bericht von Heinrich Heine aus dem Jahr 1827 und Theodor Fontanes Aus England und Jenseits des Tweed von 1860.

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Untersuchungsgegenstand
belletristische Reiseliteratur

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Das erschlossene Quellenkorpus wird als »belletristische[n] Reisebeschreibung« bezeichnet, um es von der wissenschaftlich-gelehrten Reiseliteratur abzugrenzen (S. 34). Etwa die Hälfte der Berichte hat allein England zum Reiseziel, die übrigen behandeln darüber hinaus andere europäische Reiseziele oder schließen Schottland und Wales ein. Über die deutschsprachigen Englandberichte hinaus hat Tilman Fischer eine beeindruckende Fülle an zeitgenössischen Quellen von Lexika über Hand- bis hin zu Fachbüchern zu den Themen Reisen und England erschlossen.

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Die Reisetexte, die teilweise in das 18. Jahrhundert zurückreichen, um so eine längere Zeitspanne für den als langsam konstatierten Wandel der Gattung (S. 29) zu erfassen, ergeben insgesamt nicht weniger als 240 Texte. Allein diese Arbeit fordert Respekt und der Anspruch auf Vollständigkeit ist kaum in Abrede zu stellen. Für das Verfassen einer Dissertation bringt ein solch umfangreiches Corpus – zumal an Quellen wie Reiseberichten, die zum Zitieren wie wenige andere geeignet sind – auch große Probleme mit sich. Um eines der Probleme vorab zu nennen: Die Arbeit ist schlicht zu lang und an vielen Stellen redundant, da zu verliebt in die zwar illustrativen, aber oft zu ausgiebig zitierten Quellen.

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Das Aufbrechen eingefahrener
Epochenabgrenzungen

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Eine der Stärken des Buches besteht zweifelsohne darin, dass der Autor eine Reihe in der Reiseforschung eingefahrener Einsichten wenn nicht widerlegen, so doch relativieren kann. Denn zumindest für die deutsche Berichterstattung über England lag der oft zitierte zeitliche Bruch der Reiseberichtsproduktion nicht vor oder um 1850, sondern in diesem Fall erst gegen Ende des Untersuchungszeitraumes, als die Reiseberichterstattung über England stark zurückging, da der Blick in die Moderne sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auf die USA richtete (S. 62, 655). Gleichzeitig, so das gut begründete Argument, endet hier eine Epoche, indem die Reiseliteratur über 1870 hinaus nicht mehr den maßgeblichen Stellenwert eines Wissen vermittelnden Mediums besitzt, neue, vor allem touristische Reiseformen entstehen und damit schließlich die Reise selbst ihre soziale Distinktion für das gehobene Bürgertum verliert.

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Ziel der Arbeit ist es, »die spezifische Leistung einer Textsorte«, der belletristischen Reisebeschreibung, »ihr Funktionieren und ihre Funktion sowie ihren literarischen Charakter durchsichtig« (S. 125 f.) zu machen. Um dieses Ziel zu erreichen, geht der Autor oft interessante und teilweise innovative Wege.

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»Poetik der Reisebeschreibung
im 19. Jahrhundert«

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Der erste von zwei Teilen behandelt die »Poetik der Reisebeschreibung im 19. Jahrhundert«, in dem der Einzeltext und dessen gesellschaftliche Funktion aus der Gattung heraus verstehbar gemacht werden soll. In einem ersten Kapitel widmet Fischer sich dem Publikum, Verlagen, Reiserouten und -formen, den Autoren und ihren Schreibweisen sowie Grenzformen der Gattung wie ethnographischen Beschreibungen oder Reisehandbüchern. Das zweite Kapitel zu »Status des Reisenden und der Reisebeschreibung« greift Aspekte wie die bürgerliche Reisetheorie des 19. Jahrhunderts, Reisebeschreibungen als sozial begrenzte Quellengattung, den Beginn des Tourismus, Kritik an der Gattung in der Wahrnehmung der Zeitgenossen auf. Zum letzten Punkt werden vor allem Rezensionen herangezogen, um so zeitgenössische Maßstäbe der Qualität, ästhetische Anforderungen und Publikumsgeschmack zu analysieren.

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Das dritte Kapitel zu »Gattungsbewußtsein und Selbstreflexion bei den Schreibenden« widmet sich zunächst Paratexten wie den Vorworten der Berichte, die oft als Werbung oder zu Zwecken der Legitimierung genutzt wurden. Weitere Aspekte behandeln die Gefahr der Langeweile bei einem Anspruch auf Originalität und Unterhaltung, die »Rhetorik des Wahrhaftigen« (S. 254 f.) durch Augenschein und Strategien der Beglaubigung und schließlich das Problem der Darstellung der Wahrnehmung zwischen Wirklichkeit und Ästhetisierung. Das den ersten Teil abschließende Kapitel liefert ein knappes, aber noch immer gut 30 Seiten umfassendes Resümee, das unter anderem versucht, die belletristische Reisebeschreibung zwischen Imagologie, Stereotypenforschung und Sozialgeschichte zu verorten.

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Reiseziel England

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Knapp 400 Seiten, ein in vielen Aspekten eigenständiges Buch, das der Gattung gewidmet und damit nicht englandspezifisch ist, wie Fischer wiederholt selbst einräumt, muss der Leser durchmessen, bis er zu dem gelangt, was der Titel des Buches ankündigt: dem »Reiseziel England«, das im zweiten Teil unter dem Stichwort der »Topik der Moderne« behandelt wird. Erneut sind es vier Kapitel, die aufeinander aufbauen. Ein kurzes, einleitendes Kapitel gibt einen knappen Abriss zur Historiographie über England, erläutert den Untersuchungszeitraum als »Phase im europäischen Modernisierungsprozess« (S. 393–395) und stellt England im »Spiegel der zeitgenössischen Konversationslexika« (S. 398–407) vor.

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Von den drei folgenden Kapiteln, die sich in weiten Teilen der Metropole London widmen, ist das zu »Englandcharakteristik und Zeitdiagnose« das vielleicht originellste. Es beschreibt England respektive die Hauptstadt in räumlichen und zeitlichen Dimensionen des 19. Jahrhunderts. In den Reisetexten stets wiederkehrend, also topisch, wird die Insel in Superlativen beschrieben. Gleichzeitig steht England für den Mittelpunkt einer sich im 19. Jahrhundert globalisierenden Welt, mit London und hier wiederum der City of London als »Herzen der ganzen Welt«, so ein Reisender im Jahr 1837 (S. 410). In der Analyse der temporalen Ordnungen erweist sich England in den Beschreibungen jedoch als weitaus ambivalenter, indem um die Jahrhundertmitte ein Kulminationspunkt in der Entwicklung Englands überschritten zu sein scheint, auf den Niedergang oder gar Krankheit und Untergang folgen.

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Zwischen Wahrnehmung
und Topik der Moderne

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Das dritte Kapitel umreißt auf knapp 200 Seiten das, was der Titel der Studie längst angekündigt hat, nämlich »Zentrale Themen- und Wahrnehmungsfelder von Modernität«. Hierzu zählen die politische Öffentlichkeit, die Presselandschaft und der englische Parlamentarismus, die vielen Beobachtern um die Jahrhundertmitte als vorbildlich galten. Der Blick der Englandbesucher richtet sich darüber hinaus auf die in England bereits fortgeschrittene Industrialisierung und moderne Produktionsformen, die, was jedoch wenig überraschend ist, überaus heterogen und widersprüchlich beschrieben werden, da die zweite Seite der Medaille der Moderne aus dem weit verbreiteten Elend und der Armut der Arbeiter bestand. Das vierte und abschließende Kapitel fasst wesentliche Ergebnisse noch einmal zusammen.

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Nicht nur, was das Erschließen der Quellen und der Forschungsliteratur zum Thema Reisen angeht, wird Fischer dem Anspruch auf Vollständigkeit gerecht. Auch mit dem hier umrissenen Profil, von der Vielzahl von Fragestellungen zur Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts beinahe alle denkbaren Aspekte behandelt zu haben, darf der Autor Vollständigkeit für sich in Anspruch nehmen. Es bleibt jedoch die Frage, ob es ein kluger Anspruch ist, die Gattung des Reiseberichts allumfassend zu beschreiben und ihr in nahezu jeder denkbaren Beziehung gerecht zu werden.

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Unbestritten bezieht die Arbeit ihre Stärken aus der Tatsache, dass der Autor thesenstark argumentiert und verschiedene Einsichten der Reiseforschung zu relativieren vermag. Überzeugend argumentiert Fischer beispielsweise, dass eine einseitig auf die Reiseberichte von Autorinnen abzielende feministische Interpretation von Reisetexten aufgrund der starken topischen, gattungsspezifischen Merkmale zu kurz greift (S. 31 f.). Gerade die Reiseliteratur des Vormärz galt bislang als ausgesprochen politisiert. Hier jedoch kann Tilman Fischer, der Heinrich Heine und Ludwig Börne eher als Extrempole und Ausnahmen ansieht, zeigen, dass die Gattung – gerade im diachronen Vergleich mit Berichten aus dem späten 18. Jahrhundert – einen Wandel der Wertehierarchie durchlief: der Anspruch auf Bildung verschob sich hin zu Vergnügen und Unterhaltung, so dass die Gattung weniger politisiert war als gemeinhin angenommen (S. 157).

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Nicht nur zeitlich geht die Arbeit über den angekündigten Untersuchungsgegenstand hinaus, auch geographisch wird England immer wieder zugunsten von Vergleichen mit Frankreich oder Italien verlassen. Auch dies gehört zu den Vorzügen der Arbeit. Aus diesen Vergleichen ergibt sich beispielsweise, dass das Reisen und die Wahrnehmungsbereiche in England weit weniger standardisiert waren als in Italien. Interessant ist auch die Beobachtung, dass die Moderne in Form der Eisenbahn kaum neue Räume und Wahrnehmungsbereiche eröffnete, sondern lediglich die zeitliche Distanz verkürzte (S. 72–77).

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Redundanzen

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Neben den genannten Stärken zeigt die Arbeit jedoch eine Reihe von Schwächen. Zunächst wirken die beiden Hauptteile nur lose miteinander verbunden, da beide, die Gattungsgeschichte zu Reisetexten des 19. Jahrhunderts einerseits, die Topik der Moderne Englands aus deutscher Perspektive andererseits, auch für sich allein stehen könnten. Daher führt auch der Titel der Arbeit, »Reiseziel England«, das erst im zweiten Teil explizit zum Zuge kommt, in die Irre.

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Darüber hinaus birgt die Arbeit angesichts ihrer Länge insgesamt zu wenig Überraschendes. Die vor allem im ersten Teil ausführlich dargestellten Kapitel zu den sozialen Trägerschichten der Reiseliteratur, den »sozialen Eliten« (S. 133), die sich vornehmlich aus bildungsbürgerlichen Schichten rekrutierten und gegen den Adel abgrenzten, oder zum Publikum, das sich in sozialer Hinsicht weitgehend mit den Autoren der Berichte deckte (S. 89–91), mögen notwendig sein. Oft sind diese Kapitel in der dargebotenen Ausführlichkeit jedoch redundant, da das Anknüpfen an bereits existierende Forschungen zu Bürgerlichkeit, Lesergeschichte oder zum Reisen um 1800 die Untersuchungsperspektive unnötig ausweitet.

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Ein Grundproblem der Arbeit besteht in der Fülle des Materials, aus dem Tilman Fischer schöpft. Ohne Frage reizt die Quelle Reisebericht zum Zitieren. Aber ein so interessanter Aspekt wie »Langeweile als größte Gefahr« (S. 234) einer auf Unterhaltung angelegten Gattung gerät auf zwanzig Seiten und wegen kaum enden wollender Zitate leider selbst an den Rand der Langeweile (S. 234–254). Bei aller wissenschaftlichen Redlichkeit mit dem Bestreben zur Vollständigkeit und zum Detail, in vielen Kapiteln gelingt es Tilman Fischer nicht, sich nach den notwendigen Belegen für ein beobachtetes Phänomen von den Quellen zu lösen. So stehen Aufwand und vor allem die Länge über weite Strecken nicht im Verhältnis zum Ertrag der Arbeit. Ohne Frage zeigt Tilman Fischer ein hohes Geschick und Gespür für das Reizvolle der Gattung Reisebericht. Vieles jedoch, was neu und innovativ ist, verschwindet in der Menge des dargebotenen Materials und erfordert vom Leser viel Geduld.