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Reisen als kulturelle Praxis:
Der Reisebericht und die poetische Form

  • Arnd Bauerkämper / Hans Erich Bödeker / Bernhard Struck (Hg.): Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute. Frankfurt / M., New York: Campus 2004. 412 S. Kartoniert. EUR 39,90.
    ISBN: 3-593-37486-2.
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Die Forschung zur historischen Reiseliteratur geht zu großen Teilen auf die Arbeiten von Literaturwissenschaftlern und Historikern zurück und untersucht seit über 20 Jahren den Reisebericht als Quelle von und Schlüssel zu Reisen. Dabei verläuft die Zusammenarbeit der beiden Wissenschaftsbereiche nicht immer reibungslos: Kern des schwelenden Disputs ist die Frage, wie das Verhältnis zwischen Reise und Reisedarstellung aufzufassen ist. Auf der einen Seite gibt es Bestrebungen, den Reisebericht im Sinne einer Autonomieästhetik weitestgehend für ein Werk um des Werkes willen zu erklären und einen Bezug auf eine außersprachliche Wirklichkeit zu negieren. Auf der anderen Seite wird der Reisebericht aber auch als uneingeschränkt nutzbare historische Informationsquelle angesehen und unter Ausklammerung der Literarizität ein isomorphes Verhältnis zwischen Text und »Realität« impliziert. Dabei versteht sich, dass wissenschaftliche Arbeiten zumeist in einem Kontinuum zwischen diesen beiden Extrempositionen anzusiedeln sind, der einen oder anderen Seite aber implizit oder explizit zuneigen.

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In jüngerer Zeit wurden diese Positionen auf der Suche nach Lösungsansätzen verstärkt thematisiert. Ausgehend von Beobachtungen eines Hayden White, eines Clifford Geertz, in Nachfolge der von James Clifford angestoßenen »travelling cultures«-Debatte und dem linguistic turn setzt sich in der historischen Reiseforschung allmählich die Erkenntnis durch, dass dem Reisebericht ein Empiriegehalt zuzusprechen ist, der durch eine den Texten inhärente Literarizität determiniert und unter Umständen sogar durch Fiktionalität eingeschränkt wird. Zunehmend verschiebt sich der Fokus wissenschaftlichen Interesses weg von der historischen Realität hin zu Darstellungs- und Repräsentationsformen eines historischen Rahmens und somit einer Konstruktion von Geschichte.

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Um neueren Ansätzen innerhalb der historischen Reiseberichtsforschung Rechnung zu tragen, veranstaltete das „Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas“ (ZVGE) in Berlin im Juni 2002 eine Tagung mit dem Titel »Reisende, Reisen und Reiseliteratur im europäischen Vergleich«. Der von Arnd Bauerkämper, Hans Erich Bödeker, Bernhard Struck herausgegebene Tagungsband liegt nun unter dem Titel Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute vor und unternimmt den Versuch, durch eine interdisziplinäre Vorgehensweise eine weitergehende Vernetzung von Literatur- und Geschichtswissenschaften vorzunehmen, das theoretische Fundament der historischen Reiseforschung zu erweitern und neue Teilbereiche zu erschließen. Dazu sind 16 ausgewählte Beiträge der internationalen Tagung versammelt worden, die dieser Forderung in unterschiedlichem Maße Rechnung tragen – zwölf Beiträge sind der Geschichtswissenschaft zuzuordnen, drei der Literaturwissenschaft und einer der Medizingeschichte.

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Der theoretische Ansatz

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Um angesichts der wissenschaftsdisziplinären Heterogenität ein Maß an Geschlossenheit zu erreichen, haben die Herausgeber dem Band ein bemerkenswertes und kenntnisreiches Kapitel vorangestellt, in dem die theoretischen Prämissen von »Reisen als kultureller Praxis« fixiert werden und das als theoretischer Fluchtpunkt der Beiträge dient. Aufbauend auf den Erkenntnissen von Michael Maurers Neue Impulse der Reiseforschung (1999) stellen Bauerkämper, Bödeker und Struck vier Aspekte ihres Forschungsansatzes heraus, die in ihrer Gesamtheit Reisen als kulturelle Praxis definieren:

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1. die technisch-pragmatische Dimension des Reisens

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2. der materielle und kulturelle Transfer durch Reisen

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3. die verschiedenen Dimensionen des Kulturkontakts auf Reisen

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4. die Darstellung von Reisen

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Die technisch-pragmatische Dimension bezieht sich auf Reisevorbereitung, Reiseumstände, Reisekosten und Reiserouten und fragt nach Motiven und Anlässen für eine Reise, nach sozialer Klassenzugehörigkeit und Geschlecht der Reisenden. Der zweite Aspekt betrachtet Reisen unter dem Blickwinkel einer Erkenntnisform und fragt nach dem Referenzrahmen von kulturellen Erfahrungen. Wie nimmt der Reisende das Fremde wahr? Die Herausgeber antworten: Nur mit den Kategorien des Eigenen – Fremderfahren ist stets dem Bezugsrahmen des Eigenen verhaftet. Der dritte Punkt beleuchtet Reisen als Kulturkontakt. Dabei führen Kulturbegegnungen zu einem doppelten Effekt, nämlich einmal zu einer Ideologisierung des Fremden, andererseits aber auch zu einem Wandel der Selbstbilder und einer Annäherung zwischen den Kulturen.

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Der vierte Punkt schließlich beschäftigt sich mit der Verschriftlichung von Reiseerlebnissen. Und besonders hier zeigt sich die Stärke des Ansatzes: anstatt eine positivistisch-essentialisierende Position einzunehmen und die »Realität« anhand des Textes rekonstruieren zu wollen, rücken die Herausgeber »die Konstruktion von Wirklichkeit, von Geschichte« (S. 24) in den Mittelpunkt und rekurrieren so nicht auf eine Beschreibung außersprachlicher Wirklichkeit, sondern auf den Reisebericht als das »Produkt historisch variabler, komplexer sprachlicher Verfahren« (S. 24). Zwar stellt sich die Frage, wie erschöpfend sich dieser historische Rahmen, der die Textproduktion bedingt, im Ganzen nachzeichnen lässt. Tatsächlich aber rettet dieser Ansatz den graduellen Empiriegehalt des Reiseberichts, ohne literaturwissenschaftliche Fragestellungen wie Fiktionalität, Intertextualität und Gattungspoetik aus den Augen zu verlieren. Aus der »poetische[n] Geformtheit« (S. 23) des Reiseberichts ergibt sich für die Herausgeber weiterhin eine Konsequenz, die an die dichten Beschreibungen eines Clifford Geertz erinnert: eine Aussage über Reiseberichte lässt sich, so Bauerkämper, Bödeker und Struck, nur auf breiter Quellenbasis und durch »präzise quellenkritische Überlegungen« (S. 24) treffen. Durch die Rückbindung an ein breiteres Quellenkorpus erscheint der Reisebericht nicht als singuläres Zeugnis der Wirklichkeit, sondern als ein vernetztes und in zeitgenössische Kommunikationsprozesse eingebundenes Kunstwerk, das von Leseerwartungen, Publikationsaspekten und literarischen Vorbildern mitbestimmt wird. Der Reisebericht wird in dieser Perspektive zu einer Gattung, die sowohl das prodesse als auch das delectare anstrebt und zieht so die ab dem 18. Jahrhundert zunehmende Nähe zwischen Reisebericht und Romanliteratur mit in Betracht.

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Ein großer Verdienst der Autoren besteht vor allem darin, unterschiedliche theoretische Überlegungen zur Reiseliteratur zu sammeln und zu einem kohärenten Ganzen zu bündeln. Einerseits lassen sich so die einzelnen Aspekte historischer Reiseforschung definieren, andererseits zeigt dieses theoretische System genug Offenheit, um die komplexen Wechselwirkungen der Teilaspekte untereinander aufzuzeigen.

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So gibt es zwar ein kulturelles Grundmuster, das alle Reisenden mitnehmen, aber oftmals führen Fremderfahrungen zu einer Revision dieser kulturellen Konstrukte. Gerade das ist Reisen ja anhängig: Man lernt nicht nur über die fremde, sondern gerade über die eigene Kultur und hinterfragt so kulturelle Gegebenheiten. Auch zwischen der technisch-pragmatischen Dimension und der Raumwahrnehmung besteht eine reziprokes Verhältnis: Einerseits verändern technische Bedingungen wie Eisenbahn oder Flugzeug die Reisegewohnheiten, andererseits führt die Reisegeschwindigkeit zu neuen Wahrnehmungs- und Darstellungsmustern.

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Der vorliegende Band nutzt diesen Forschungsansatz des Reisens als kulturelle Praxis als Fundament, auf dem eine historisierende Perspektivenerweiterung erfolgt. Dabei sind die Beiträge in drei Kapitel gruppiert, und zwar in »Räume und Zeiten des Reisens«, »Wissens- und Kulturtransfer« und »Alteritäten und Identitäten«, die von je einem der Herausgeber mit einem Vorwort versehen worden sind, und über die im Folgenden anhand einiger ausgewählter Beiträge berichtet werden soll.

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Räume und Zeiten des Reisens

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Die in diesem Kapitel versammelten Beiträge untersuchen den Wandel von Raum- und Zeitkonzeptionen anhand der Berichte deutscher Reisender über die baltischen Provinzen Russlands um 1800 (Ulrike Plath), der unterschiedlichen Grenzkonstruktionen Frankreichs und Polens um 1800 (Bernhard Struck), des Balkanbildes in französischer und tschechischer Reiseliteratur (Hana Sobotková), der Raumkonstruktion im britischen fin de siècle (Christian Berkemeier) und der London-Darstellungen in französischer und deutscher Reiseliteratur von 1851–1939 (Hagen Schulz-Forberg). Generell beziehen sich diese Beiträge auf den Prozess des mental mapping, der abhängig von Reisepraxis und kulturellen Rahmenbedingungen die komplexe Inderdependenz von Raum und Zeit dokumentiert und starken Einfluss auf die Konstruktion von Identität und Alterität hat. Dabei geraten nicht die Informationen über die bereisten Räume in das Zentrum des Interesses, sondern die Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen des Reisens selbst.

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So untersucht beispielsweise Bernhard Struck in seinem Beitrag »Vom offenen Raum zum nationalen Territorium« nicht die gouvernementalistischen Steuerungsapparate von Grenzverläufen und -kontrolle, sondern dezidiert die subjektiven Wahrnehmungsmuster von Grenzen anhand von deutschsprachigen Reiseberichten zwischen 1770 und 1860. Die Analyse basiert auf einem großen Korpus an Reiseberichten und vergleicht den Diskurs deutsch-französischer und deutsch-polnischer Grenzüberschreitungen. Dabei lässt sich laut Struck ein Paradigmenwechsel in der Zeit um 1820 dahingehend feststellen, dass die Grenze nicht mehr als ein »räumliches[s] Kontinuum gradueller Abstufung und regionaler Differenzen« (S. 83) gesehen wird, sondern als ein nationalstaatliches Konstrukt mit einer scharfen Grenzform.

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Diesen Wechsel von einer fuzzy boundary mit weichen Übergängen hin zu einer scharfen, klar konturierten und linear-nationalen Grenze zeichnet Struck anhand der Reiseberichte verständlich nach: Ist um 1800 die Grenzüberschreitung kaum oder nur marginal dokumentiert und schildern die Schriften Differenzen als fließende Übergänge und kulturelle Symbiosen, wird die Reise über französische und polnische Grenzen um 1820 zum zentralen Fremderfahrungsprozess. Der Rhein wird in diesen Darstellungen zum national aufgeladenen Bollwerk gegen Frankreich.

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Aus drei Gründen kann Strucks Ansatz als exemplarisch für das Paradigma des Reisens als kulturelle Praxis angesehen werden: Erstens benutzt er ein breit angelegtes Quellenkorpus, zum zweiten stellt er seine Untersuchung in einen diachronen Zusammenhang und untersucht zwei nationalstaatliche Grenzkonstrukte. Zum dritten fokussiert er seinen Beitrag auf die Wahrnehmung von Reisenden und geht nicht von einer Wahrheit im essentialistisch-positivistischen Sinne aus, sondern versucht, das Konstrukt eines historischen Rahmens nachzuzeichnen. Die Stärken einer solchen Argumentation liegen auf der Hand, da man mit dieser Verschiebung auf die subjektive Wahrnehmungsebene Raum für logische und historische Divergenzen schaffen kann, die die Validität der Ergebnisse aber nicht in Abrede stellen.

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Wissens- und Kulturtransfer

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Mit dem Forschungskonzept ›Kulturtransfer‹ beschäftigt sich das zweite Kapitel des Bandes. Hier wird der Reisebericht als »zentrales Medium des Transfers von Wissen und Information« (S. 163) von der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert betrachtet und in Zusammenhang mit transnationalen und interkulturellen Kommunikationsprozessen gebracht. Reisende als Vermittler von Kultur werden betrachtet anhand von Jesuitenmissionaren in Asien in der Frühen Neuzeit (Julia Lederle), der Fürstenreise als Transfersystem (Joachim Rees), Repliken gegen sozialkritisch-aufklärerische Reisende (Françoise Knopper), Reisen russischer Studenten nach Westeuropa im späten 18. Jahrhundert und deren Veränderung zu »Aristokraten-Wissenschaftlern« (Alexandra Bekasova) und Reisen von Psychiatern im 19. Jahrhundert (Thomas Müller).

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Obwohl Bernhard Struck in seiner Einleitung darauf verweist, dass ob der Vielschichtigkeit und Komplexität von Kulturtransfer kaum mehr als »die Analyse von qualitativen, eng begrenzten Fallstudien« (S. 166) zu erwarten sei, bleiben einige Beiträge hinter den hohen Erwartungen des Theoriekapitels zurück, z.B. Alexandra Bekasova, die in einem nahezu theoriefreien Ansatz zwar den Einfluss westeuropäischer Universitäten auf russische Studenten anhand einiger Fallbeispiele nachweisen kann, jedoch den Nachweis einer Beeinflussung dieser kulturellen Multiplikatoren zu einem Teil schuldig bleibt.

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Dagegen gehen Joachim Rees’ Überlegungen zur Fürstenreise in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über die von Struck zugestandene Leistungsfähigkeit des Konzepts Kulturtransfer hinaus. In seinem Beitrag »Die Fürstenreise als Transfersystem: Formen und Wandlungen im Alten Reich, 1740–1800« betont Rees vor allem den Gruppencharakter von Fürstenreisen. Neben dem von der Forschung meist als zentral betrachteten Fürsten waren eine Vielzahl von bürgerlichen Fachleuten mit auf der Reise, die einen nicht unerheblichen Anteil an dem Prozess des Wissenstransfers hatten. So fanden sich neben den Angehörigen des Dienerstandes Bibliothekare, Musiker, Gärtner, Mediziner und Architekten im Gefolge. Die Fürstenreise wurde somit zum »Mobilitätsvehikel bürgerlicher Fachleute« (S. 214).

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Auch Rees’ systematische Überlegungen zu den Funktionselementen dieses Transfersystems offenbaren Interessantes; aufbauend auf dem Grundsatz der Gruppenreise unterstreicht er die fruchtbare Verbindung von »adeligem Statusvorteil« und »fachlicher Kompetenz« (S. 209), da dadurch der Zugang zu vielen Wissensbereichen erleichtert wurde. Weiterhin wirkte sich diese auch auf einen verstärkten personellen und materiellen Transfer aus mit weiteren »institutionelle[n] Folgewirkungen« (S. 213) und Bildungseinrichtungen.

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Alteritäten und Identitäten

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Mit dem Konzept des Fremden, dem Eigenen und dem Vermittlungsraum zwischen den beiden Entitäten beschäftigt sich schließlich das dritte Kapitel. Der Frage, wie das Fremde in der Reiseliteratur konzeptualisiert wird, gehen sechs Autoren nach und beschäftigen sich mit Ansätzen zur Erforschung europäischer Stereotype (Gilles Bertrand), dem Bild des katholischen Deutschland in britischen Reiseberichten des 18. Jahrhunderts (Frauke Geyken), dem Europabild in englischen Reiseführern von 1836–1900 (Antoni Maczak), kulturellen Mustern und Stereotypen in deutscher Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts (Gabriele Dürbeck), der Konstruktion von Weiblichkeit in Reiseberichten zu Galizien um 1900 (Dietlind Hüchtker) und deutscher postkolonialer Literatur (Paul Michael Lützeler).

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Interessant ist unter anderem Dietlind Hüchtkers Beitrag. Er geht der in der Reiseliteratur lange vernachlässigten gender-Perspektive nach und stellt grundsätzliche Überlegungen an, wie Geschlecht als Analysekategorie genutzt werden kann, ohne es zu normieren bzw. zu essentialisieren. Anhand von zwei Reiseberichten über Galizien – einer von Bertha Pappenheim, Begründerin der jüdischen Frauenbewegung in Deutschland, der andere von Saul Raphael Landau, Gründer des sozialistischen Zionismus in Wien – kritisiert Hüchtker den Begriff eines strikt »weiblichen Schreibens« und stellt fest, dass die Suche nach geschlechtsspezifischen Unterschieden essentialisierend ist und eine ahistorische Konstanz impliziert. Stattdessen manifestiert sich Differenz in dem unterschiedlichen »Gebrauch« von Geschlecht, das je nach den Zielen der Autoren und Autorinnen bewusst eingesetzt wird. In Papenbergs und Landaus Fall wird Galizien ähnlich konstruiert, beide unterscheiden sich allerdings in der Konstruktion ihrer Geschlechterrolle. Eine Ausweitung dieser Arbeit über die angegebenen Quellen hinaus wäre wünschenswert, zumal Hüchtker selbst betont, zunächst primär an der methodischen Reflexion interessiert zu sein: »[E]s geht mir nicht um einen empirischen Nachweis meiner Thesen« (S. 376).

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In Anlehnung an Edward Saids wohl bekanntes Konzept des orientalism nutzt Gabriele Dürbeck den Begriff des Ozeanismus, um die verschiedenen Funktionen von Stereotypen in der Südseeliteratur des 19. Jahrhunderts aufzuzeigen. Dürbeck konzentriert sich nicht auf die Erfahrungen der Reisenden in der fremden Welt, sondern auf die »Strategien der Darstellung« (S. 249 f.) und dem damit verbundenen historischen Kontext. Diese Fragestellung weg von einer Authentizität des Textes und hin zu den Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen des Reisens exemplifiziert Dürbeck anhand von drei Beispielen, nämlich den Reisetexten Adelbert von Chamissos, Karl Sempers und Otto Ehlers’. In den drei Texten zeichnet Dürbeck einen Paradigmenwechsel von der aufklärerischen Position eines egalitären Humanismus hin zu national motivierter Kolonialpropaganda nach. Diese These bindet sie einerseits in die aktuellen Debatten der Postcolonial Studies und andererseits in die Stereotypenforschung ein. Dabei zeigt sich, wie ergiebig eine nach diesen Prämissen ausgerichtete Reiseliteraturforschung sein kann, die nach den Funktionen kolonialer Konstrukte und Stereotypen fragt. Trotz der oberflächlichen Konstanz von Stereotypen weist Dürbeck einen Wandel in der Tiefenstruktur nach, in der Stereotypen als Zivilisationskritik, als Idealisierung eines Naturzustandes und als kolonialistisch motivierte Attraktivitätssteigerung fungieren.

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Fazit

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Dieser Sammelband ist ein wichtiger Schritt auf der Suche nach den Regelhaftigkeiten, die historischen Formen des Reisens innewohnen. Obwohl einige Beiträge hinter den theoretischen Prämissen der gelungenen Einleitung zurückbleiben und sich bemühen, dass »tatsächliche Fremderleben« (S. 48) in den Mittelpunkt zu rücken, geraten in den besten Beiträgen die Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen des Reisens ins Zentrum des Interesses. Trotz eines Untersuchungszeitraums von über 200 Jahren und einer hohen Spezialisierung einzelner Beiträge wirkt der Band durch die jeweiligen kurzen Einleitungen zu den drei Kapiteln kohärent und größtenteils geschlossen. Der Fokus des Forschungsinteresses liegt auf der Rekonstruktion eines historischen Referenzrahmens des Reiseberichts, verschließt sich aber nicht der Literarizität der Quellen und schafft so eine gemeinsame Untersuchungsbasis, von der aus weitere Untersuchungen des Reiseberichts wünschenswert wären. Schließlich können sich die Herausgeber zu Gute halten, durch ihre systematische Betrachtung von Reise als kultureller Praxis einem heterogenen und vielschichtigen Forschungsfeld einen ordnenden Impuls gegeben zu haben.