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Zwischen Ode und Originalität: Der O-Ton

  • Harun Maye / Cornelius Reiber / Nikolaus Wegmann (Hg.): Original / Ton. Zur Mediengeschichte des O-Tons. Mit Hörbeispielen auf CD. (Kommunikation audiovisuell 34) Konstanz: UVK 2007. IV, 408 S. Paperback. EUR (D) 39,00.
    ISBN: 978-3-89669-446-1.
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Vorgeschichten

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Worte machen manchmal erstaunliche Karrieren. Die Geschichte des Wortes Originalton liegt noch im Dunkeln, aber es dürfte Originalton oder O-Ton gegeben haben, seit es Hörfunk gibt. Doch erst in den 1970er Jahren wurde im Umfeld des Neuen Hörspieles aus dem Wort ein Label. Damals begannen Schriftsteller erstmals die neuen (und bisher vor allem Reportern vorbehaltenen) mobilen Aufnahmegeräte zu nutzen, ihre Möglichkeiten zu diskutieren und aus Tonbandaufnahmen Kunst zu machen: O-Ton-Hörspiele. Paul Wührs legendäres Hörspiel Preislied (1972) steht ebenso für diese neue, publizistisch gut begleitete 1 Radiokunst wie etwa Rolf Dieter Brinkmanns Mikrophon-Experimente für den WDR oder die Features von Peter Leonhard Braun. O-Ton, das bedeutete in der Regel, dass in den Radioproduktionen keine Schauspieler sprachen, sondern irgendwie »Betroffene« (was, en passant, auch billiger war), oder dass die Aufnahmen nicht mehr (nur) aus dem Studio kamen, sondern aus der ›wirklichen‹ Welt. Dann verschwand der Terminus O-Ton wieder aus den Kunstdebatten.

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Trotz unterschiedlicher O-Ton-Methoden ist mittlerweile unbestritten, dass das Original-Ton-Hörspiel (der schriftlichen Notierung geht die akustische Fixierung voraus) grundsätzlich keinen größeren Wert aufweist als das Nicht-Original-Ton-Hörspiel. 2
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Wer in den 1990er Jahren etwa in Tageszeitungen die Abkürzung O-Ton nutzte, musste sie in der Regel schon wieder erläutern.

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Die Veränderung der Radioprogramme von primär wortorientierten zu stärker akustikorientierten, formatierten und digital produzierten Angeboten seit Mitte der 1980er Jahre brachte den O-Ton gerade außerhalb der Kulturprogramme in Mode. Vor allem die neu entstandenen Privatradios setzten auf Nachrichten mit Originaltönen und machten sie so vermeintlich abwechslungsreicher und authentischer, dann reicherten auch die öffentlich-rechtlichen Sender ihre reinen Wortnachrichten mit O-Tönen an 3 – heute gibt es kaum noch Nachrichten ohne O-Ton. Und auch das fast schon vergessene kritische O-Ton-Hörspiel der 1970er Jahre entwickelte sich vor allem beim Hessischen Rundfunk zum dokumentierenden Originalton-Hörspiel (etwa über 1989), dann gar zum großen Originalton-Radiotag (oft inklusive der käuflichen CD-Ausgabe). 1992 versuchte Jürgen Geers unter dem Titel Originalton erste »Überlegungen zur Geschichte und Formensprache einer dokumentarischen Hörfunkästhetik« – nicht zufällig gerade auch als Hörspielsendung. 4 Der O-Ton und die O-Ton-Diskussion blieben vor allem ans Radio gebunden.

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Medienkulturelle Neufokussierung

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Erst die Digitalisierung der Vertriebswege brachte den Originalton massenhaft auch in andere Medien. Der boomende Hörbuchmarkt machte auch den O-Ton vom Radio unabhängig, das Internet machte Audiodateien einfach verbreitbar und zum Bestandteil fast jeder Zeitungsseite im Internet, die Digitalisierung der Archive erleichterte den Zugang zu alten, aufgezeichneten O-Tönen – und nun wurde erstmals auch der Original-Ton für neue wissenschaftliche und vor allem für medienkulturwissenschaftliche Fragestellungen interessant. Was ist ein O-Ton? Was ist ein Originalton im Film? Wie wurden Originaltöne aufgezeichnet, als es noch keine akustischen Speichermedien gab?

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»Was man Stand der Forschung nennt« (S. 9), so betonen die Herausgeber des hier annoncierten Sammelbands Zur Mediengeschichte des O-Tons im Vorwort, gibt es beim Thema »Originalton« nicht. Es gibt höchstens »journalistisches Fach- und Lehrwissen« (S. 9) vor allem aus dem Hörfunkbereich. »Der O-Ton ist erstaunlich unerforscht«, schreibt auch Oliver Jungen (S. 52). Aber selbst im Bereich der Radioforschung sind die Begrifflichkeiten nicht eindeutig: »Was ein O-Ton ist, ist in der Praxis nicht klar, in der Theorie kaum ein Thema«, notiert Jürg Häusermann (S. 25) – und auch der Sammelband Original / Ton ändert an den eher privaten Färbungen des Terminus O-Ton wenig. Er dokumentiert 19 »sehr heterogene« (S. 9) Beiträge, die 2003 auf einer gleichnamigen Potsdamer Tagung gehalten wurden. Der Band, in dem die in den 1970er Jahren geborenen Autoren dominieren, ist ein Appetizer, der den O-Ton zwischen »Körperstimme« (S. 19) und technisch konserviertem Produkt erstmals auszuloten versucht. Er versucht zu erkunden, was ohne den Terminus O-Ton »vielleicht nicht sagbar ist« (S. 11).

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Von 1200 bis heute

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»Begriff, Geschichte, Wert«, »Radio«, »Film«, »Literatur« und »Archiv« sind die fünf Kapitel des Sammelbandes überschrieben. Das Spektrum reicht vom originalen Ton des 12. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, von der historischen Analyse bis zur Interpretation einzelner Autoren oder Werke, vom hochspekulativen Essay bis zur eher handwerklichen Projektbeschreibung. Zum Originalton gehören in diesem Band also nicht nur die technisch reproduzierten O-Töne, sondern auch »Stimmen, Töne oder Geräusche als Originale« (S. 11). »Der Originalton«, so erläutern die Herausgeber ihr Interesse an der »katachresischen Form« (S. 11) eher offen, »bezeichnet einen positiv herausgehobenen Ort innerhalb komplexer medialer Verhältnisse« (S 10, Hervorhebung im Original), er stellt kein »weiteres Einzelmedium« (S. 10) dar. Und er formuliert ein »Kommunikationsparadox« (S. 11): Als Original muss er einmalig, als ›Ton‹ wiederum technisch reproduzierbar sein. Angesichts der großen Zeiträume wird der Begriff Originalton also sehr offen und manchmal fast schon aphoristisch genutzt. Mal steht er für den originalen Ton, dann für Original / Ton, ›Originalton‹, ›O-Ton‹ oder einfach nur O-Ton.

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Am Anfang des Originaltons (als originaler Ton) stand offenbar der fehlende Ton. Gott gibt es nicht im Originalton, selbst die Bibel ist stumm – und da im Mittelalter »das Hören in der Regel dem Sehen bevorzugt« wurde (S. 261), suchten frühe Mystiker wie Bernhard von Clarivaux nach anderen Wegen zum originalen Ton. Später waren es die modernen Dichter, die sich um eine »literarische Form originaler Töne« (S. 165) bemühten. In einem aufregenden Beitrag erzählt Harun Maye von der »Kulturtechnik der ›Sprechung‹« (S. 167), die Friedrich Gottlieb Klopstock im 18. Jahrhundert entwarf. Diese »phonozentristische Wirkungsästhetik« (S. 182) wurde in einigen zeitgenössischen Lesegesellschaften realisiert, machte »die Buchstaben zu Tönen« (S. 167) und führte offenbar zu mancher »hermeneutischen Wunderheilung« (S. 180) bei den Zuhörern. Nicht nur Klopstock nutzte die Technik in seinen Dichterlesungen erfolgreich – und galt (auch privat) als außerordentlicher Vorleser seiner Texte; der O-Ton war bei Klopstock eher »der Ode Ton« (S. 170), ausgestattet mit einer neuen Authentizität. Studentenzirkel trafen sich, nur um Klopstock zu lesen: »Man mietete ein Gesellschaftszimmer wo man reihum Klopstock rezitierte, sich umarmte und Küsse tauschte (Richard Alewyn)« (S. 175).

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Die medienkulturelle Orientierung am »Original / Ton« ermöglicht also neue ›Blicke‹ in unbekannte Vergangenheiten und neue Anschlussmöglichkeiten – zumal sich Dichterlesungen ja bis heute (erfolgreich) erhalten haben und sogar relativ früh vom Hörfunk auch aufgezeichnet wurden. Doch es ist überraschend, dass weder Literatur- noch Medienwissenschaft bisher diese intermediale Nutzung von Literatur aufgearbeitet haben. »Eine Geschichte der modernen Dichterlesungen zumal der seit 1950 liegt nicht vor« (S. 195) schriebt Matthias Bickenbach – und beschreibt exemplarisch die Poetik der »Sprachinstallation« bei Thomas Kling (1950–2005) – eine neuformulierte Form der Dichterlesung durch ihre intermediale Ausweitung. Erfreulicherweise ist auf der beigelegten, quasi akustisch illustrierenden CD Kling auch im O-Ton zu hören, so dass Bickenbachs Analyse umgehend mit dem Originalton vergleichen werden kann. Insgesamt 34 Originaltöne sind auf der CD festgehalten – vom Hörspielausschnitt über die Dichterlesung bis zur historischen Reportage. Eine auch akustisch orientierte Medienwissenschaft wird ohne solche O-Ton-Manifestationen nicht auskommen können.

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Gespensterfilm

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Setzt man den Focus stärker auf den Originalton, dann wird sehr rasch deutlich, wie weit die Terminologien in den verschiedenen Kultur- und Medienwissenschaften voneinander entfernt sind. Originalton etwa bezeichnete für den Film bisher vor allem die Differenz zur Synchronstimme. Deutlich wird aber auch, wie viel durch die Nichtbeachtung von »Original / Ton« bisher entgangen sein könnte. Die Filmwissenschaft etwa hat – folgt man der Analyse von Ralf Forster – die »den (Bild)Medien inhärenten Töne bisher sträflich vernachlässigt« (S. 147). Forster zeigt dann auch, wie sich offenbar sehr früh und gegen alle avantgardistischen Ambitionen in den Werbefilmen nach 1929 der »bildkongruente […] Soundeinsatz« (S. 157) durchsetzte, Musik und »vermeintliche O-Töne« (S. 153) vor allem zur Stützung der Bilder eingesetzt wurden. Eine Ursache dafür war offenbar die »noch ungenügende Akustik der in den Kinos installierten Tontechnik« (S. 153) – und so beschränkte man sich lieber auf die atmosphärische Untermalung des Visuellen. Heute ist das längst anders. Dolby Digital oder Sony Dynamic Digital Sound (SDDS) sind seit den 1990er Jahren Standard und sorgen für die »perfekte auditive Formatierung des Kinohörens« (S. 153) – und zumindest im modernen Gespensterfilm (so eine höchst überraschende und folgenreiche Beobachtung von Arno Meteling) »verschieben sich die Gewaltverhältnisse zunehmend auf die Tonspur« (S. 135). Die »Quelle des Tons wird visuell im Dunkeln« (S. 143) gelassen. Eine technikgeschichtlich nicht uninteressante Angelegenheit. Der O-Ton, so Meteling, sollte gerade im Zusammenhang mit dem Telefon mit seinen unsichtbaren Stimmen und einer Mediengeschichte des Dämonischen diskutiert werden.

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Nachrichten-O-Ton

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Während die medienkulturell orientierten Beiträge eher theoretisch und mit Bezug auf Nietzsche, Serres oder Derrida angelegt sind, problematisiert Jürg Häusermann den O-Ton ganz pragmatisch. Er zeigt – mit vielen illustrierenden Beispielen auf der CD – wie O-Töne für das Radio erst aufgenommen, geschnitten, eingebettet werden müssen und welche vielfältigen Probleme dabei entstehen können. Denn der Radio- und vor allem der Nachrichten-O-Ton ist bei weitem nicht einfach authentisch. Ganz im Gegenteil. Für Radiojournalisten ist der O-Ton »prinzipiell manipulierbares, bearbeitbares Material« (S. 37), für den Hörer ist es in der Regel authentisch.

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Hinzuweisen ist schließlich auf Beiträge über die von Wilhelm Doegen (1877–1967) initiierte Langplattensammlung mit Stimmen und Musik von Kriegsgefangenen sowie auf einen instruktiven Beitrag von Karlheinz Kleinbach über die Bedeutung von Signalen für die Menschen im noch montan-industriellen Ruhrgebiet. Damals wurden weite Teile des Bergarbeiterlebens mit akustischen Signalen koordiniert. Mit diesen Beiträgen wird der engere medienwissenschaftliche Bereich weit ins Sozialgeschichtliche und Alltagsakustische ausdehnt.

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Resümee

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Original / Ton ist eine Textsammlung, die sehr Heterogenes miteinander verbindet – und doch sehr deutlich zeigt, wie stark vermeintlich authentische Medienprodukte technisch produziert und bearbeitet sind. Ob der Terminus Originalton auch für das Mittelalter oder das 19. Jahrhundert tragfähig ist, wird man diskutieren können (und müssen). Aber der Band macht immer wieder deutlich, welche Bedeutung das Akustische im Allgemeinen und der Originalton im Besonderen an sehr unerwarteten Orten für die Literatur- und Medienwissenschaft haben können. Eine anregende Sammlung.

 
 

Anmerkungen

Siehe etwa den von Klaus Schöning herausgegebenen Band: Neues Hörspiel O-Ton. Frankfurt/M: Suhrkamp 1974.   zurück
Klaus Schöning: Der Autor als Produzent. In: Schöning (siehe Anm. 1), S. 26.   zurück
Jürgen Horsch / Josef Ohler / Dietz Schwiesau: Radio-Nachrichten. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis. München: List 1994, S. 110 ff.    zurück
Jürgen Geers: Originalton. Überlegungen zur Geschichte und Formensprache einer dokumentarischen Hörfunkform. Hörspiel-Manuskript. (Quelle: Hörspiel-Manuskript des Hessischen Rundfunks. Frankfurt/M. 1992) URL: http://www.mediaculture-online.de/Autoren-A-Z.253+M5a9c71d6d86.0.html (Letzter Zugriff: 05.11.2007).   zurück