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In den Fängen des Gesetzes?

  • Monika Fludernik / Greta Olson (Hg.): In the Grip of the Law. Trials, Prisons and the Space between. Frankfurt / M.: Peter Lang 2004. LIV, 292 S. 3 s/w Abb. Paperback. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 3-631-52455-2.
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Jurismania

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Man kennt die großen Prozesse um Schadensersatz in Millionenhöhe und das Phänomen der nordamerikanischen Jurismania, wie Paul F. Campos – mit dem Untertitel The Madness of American Law – die »hypertrophy of the urge to regulate« bezeichnet. 1 Wie die Herausgeberinnen der vorliegenden Sammlung einleitend zeigen, gibt es eine zweite Art von Jurismania, nämlich die »Prisonization of American Society [...] policies of ›no tolerance‹ law enforcement, rising conviction rates and surging figures of incarceration« (S. xiii). Freilich ist das nichts Neues; das zeigen die Beiträge, die sich historisch mit den Aspekten Gefängnis (Teil I) und Gerichtsverfahren (Teil II) beschäftigen. Während die gelegentlich zitierte Aussage des Juristen Robert M. Cover – »[...] judges deal pain and death« (zit. S. xli) – die lange Zeit vorherrschende Perspektive von oben andeutet, handelt es sich hier in einer Reihe von Beiträgen eher um »history from below«, die sich in der historischen Kriminalitätsforschung wie in den Literatur- und Kulturwissenschaften nach Michel Foucaults Surveiller et punir (1975) oder den Beiträgen zu Albion’s Fatal Tree (1975) nun langsam etabliert. 2

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Die Einleitung des Bandes, der auf einen ESSE-Workshop 2002 zurückgeht, 3 führt den Leser u.a. in die nordamerikanische Forschung ein – allerdings fast nur der Juristen. Die Vertreter der Diskussion um law and literature bzw. law in literature fragen primär nach dem Nutzen für Ausbildung und Praxis. Der politisch konservative Richter und Rechtsprofessor Richard A. Posner trennt, vereinfacht gesagt, zwischen rechts- und literaturwissenschaftlichen Interessen: Rhetorisch könne man von der »hohen Literatur« lernen, aber wegen der literaturwissenschaftlichen Methodik trügen »Law-and-Literature Studies« nichts zur Lösung juristischer Probleme bei, verleiteten eher zu unwissenschaftlicher Politisierung, »fostering empathy for [the despised, the downtrodden etc.] to encourage legal reform along egalitarian or even revolutionary lines« (zit. S. xxxv). Der Begründer der interdisziplinären Zeitschrift Cardozo Studies in Law and Literature Richard Weisberg rückt dagegen Literatur, ohne jedoch die Kanonisierungs- und Hegemonialaspekte zu problematisieren, in die Funktion einer »Lehrmeisterin«: »Literature teaches us what social science cannot, because literature is the best source (outside ourselves) of sense and sensibility« (zit. S. xxxvi).

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Deutsche Forschungen werden eher am Rande erwähnt (S. xxxix), beschränkt auf Arbeiten von Jörg Schönert, Joachim Linder und anderen (Literatur und Kriminalität, 1983; Erzählte Kriminalität, 1991) oder das die Zirkulation rechtskultureller Normen, Meinungen, Einstellungen thematisierende Teilprojekt Böker im Rahmen des Dresdner SFB 537.

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Die theoretischen Positionen von
In the Grip of the Law

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Die Beiträger des Sammelbandes sind vorwiegend europäische Literaturwissenschaftler/Innen, die an ihre Gegenstände literatur- bzw. kulturwissenschaftliche Fragen stellen und nach den Implikationen literarischer Texte für kulturelle Praktiken fragen: »Rather than seeing the ›reflection‹ of law in literature, contributors treat primary texts as vehicles for cultural production and exchange« (S. xlvi). Statt sich auf kanonisierte Texte und Gattungen zu beschränken, werden hagiographische Dokumente, autobiographische Literatur, Gefängnisfilme oder Gerichtsdramen untersucht. Obwohl der ›Geist‹ Foucaults, so heißt es in der Einleitung, über allen Essays schwebt, soll der Autor von Überwachen und Strafen doch eher ›supplementiert‹ werden

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by a series of studies that enquire into the representation of criminality and imprisonment and into their discursive functions and ideological commitments. [...] Our conviction is not only that legal texts and frameworks depend on language, whether in their textuality or their speech act function, but that literature participates in ideological and discursive moves that invoke the norms and traditions of legal practices and that literary discourse may be complicit in creating images of exclusion, even while it at the same time allows for the subversive undermining of these very norms and traditions. (S. xlviii)
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Die Beiträge sind allesamt in höchstem Maße kompetent und gut lesbar. Allerdings bleiben wegen der historischen Breite des Bandes offene Fragen. Wenn man über trial, prison und law als Phänomene eines Zeitraums von fünf Jahrhunderten und verschiedenen Rechtskulturen spricht, dann müssen die Konzepte, wenn sie nicht eingangs präzise historisch verortet sind, notwendigerweise mehrdeutig werden. Wir wissen etwa aus den Forschungen von Ignatieff (1978), Evans (1982), Bender (1987) sowie von Beiträgern zur Oxford History of the Prison: The Practice of Punishment in Western Society (1995) oder zum Band Colonial and Postcolonial Incarceration (2001), daß es eine Vielzahl von Institutionen gegeben hat und noch gibt, die mit dem Begriff prison bezeichnet werden, obwohl sie sich historisch und strukturfunktionalistisch deutlich unterscheiden. 4 Das gleiche gilt für die Institution des trial, mit der sich anglo-amerikanische Rechtshistoriker von Langbaum (1978) bis Gaskill (2000) oder King (2000) intensiv beschäftigt haben. 5 Neuerdings sind im übrigen die Old Bailey Proceedings – Verhandlungsprotokolle von über 100.000 Strafverfahren des Zeitraums 1674 bis 1834 – maschinenlesbar in einer Online-Edition als Quellenmaterial verfügbar. 6

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Im Hinblick auf die Begrifflichkeit hat sicherlich Malcolm Gaskill mit der These recht, »[that we] have widespread agreement on how the criminal law operated; the larger problem of why it operated as it did remains open to debate. Central here is the question of what the law actually meant«. 7 Trotz allem erfährt aber der Leser des vorliegenden Bandes manches erhellend Neue über Recht und Gesetz aus der Perspektive derer, die sich »in the grip of the law« befanden und befinden.

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Häresie-Verfahren

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In Kapitel 5 des dritten Buches der Commentaries on the Laws of England (1765–69) erläutert William Blackstone die sog. courts ecclesiastical, die mit Heinrich VIII. als Oberhaupt der anglikanischen Kirche nicht mehr Rom, sondern dem britischen Monarchen unterstellt und einer »large-scale renegotiation in the boundaries between the Catholic Church and the British state« unterworfen wurden, inklusive der nunmehr staatlich sanktionierten Sodomie und Häresie. 8 Thomas Lederer, der eine Reihe von Häresie-Verfahren untersucht, weist zu Recht darauf hin, daß die Prozesse generell politisch motiviert waren. Die Darstellung solcher Gerichtsverfahren in protestantischen wie katholischen hagiographischen Quellen weisen trotz aller Unterschiede Gemeinsamkeiten auf: Angeklagte werden zu Märtyrerhelden stilisiert, die Vertreter des Staates erscheinen als Sünder (Lederer sieht eine doppelte Inversion fidelisperfidus). Allerdings werden die religiös stilisierten Texte (vgl. S. 35) nicht mit den Prozeßakten verglichen, was etwa im Falle der politisch motivierten Quaker-Prozesse nach 1660 politische Lücken und Einseitigkeiten herauszuarbeiten erlaubt. 9 Interessant ist der Hinweis auf einen Autor, der das vielfach als Rückgrat des britischen Rechtssystems bezeichnete trial by jury-Prozedere als normannischen Import bezeichnet (ein früher Vertreter der sog. »Norman Yoke«-These). 10

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Hochverrat, Piraterie, Courtroom Drama

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Greta Olson analysiert in ihrem Beitrag exemplarisch Texte Shakespeares, in denen der Zuschauer Zeuge tatsächlicher oder implizit-imaginärer Gerichtsverfahren wird. In allen Fällen (Dramen wie The Merchant of Venice oder The Winter’s Tale bleiben allerdings ausgespart) geht es um die Problematisierung von Autorität, ohne daß sich die Verfasserin mit historischen Bezügen auseinandersetzte (vgl. dazu S. 60, Anm. 60). Das hätte allerdings eine Diskussion rechtsphilosophischer, rechtshistorischer und zensurgeschichtlicher Aspekte erfordert. 11

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Beatrix Hesse diskutiert analog dazu Gerichtsdramen des 20. Jahrhunderts, versucht ihre Ergebnisse aber mit rechtskulturellen Entwicklungen zu korrelieren. Auf eine primär affirmative Präsentation von Gerichtsverfahren während der dreißiger Jahre folge ein stärker ausgeprägter Skeptizismus gegenüber Rechtsinstitutionen (A. Christies Witness for the Prosecution, 1953); während der »neokonservativen« 1980er und 1990er Jahre bemerke man zwar eine Rückkehr zum naturalistischen Courtroom Drama, aber auch zu gesellschaftskritischen Diskussionen (D. Hares Murmuring Judges, 1991; A. Weskers The Merchant, 1976, oder T. Eagletons Oscar Wilde-Stück Saint Oscar, 1989, finden jedoch keine Erwähnung). 12

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Das Ineinander von Ökonomie, Politik und Recht wird in Anna-Christina Giovanopoulos’ Untersuchung der Prozesse gegen den berühmten Kapitän Kidd thematisiert, der als privateer begann (die Regierung autorisierte ihn, Handelsschiffe feindlicher Nationen aufzubringen), aber als Pirat am Galgen endete. Theoretisch galt zwar Gleichheit vor dem Gesetz (»rule of law«), aber, wie schon Howard Nenner zeigen konnte, praktizierte man das in den politischen Auseinandersetzungen so, daß eigentlich nur der Schein des Rechts (»colour of law«) gewahrt wurde. 13 Wichtig ist aber, daß die im Kidd-Prozeß repräsentierten rechtskulturellen Werte im Medium von Verbrecherbiographien auch in der äußeren Rechtskultur zirkulieren. Wenn Ch. Johnson in seiner General History of the Robberies & Murders of the Most Notorious Pirates (1724) bemerkt, Kidd sei mit Prozeß und Hinrichtung zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen und Straßenballaden avanciert, 14 bleibt uns die Autorin allerdings die Belege für einen solchen Transfer »in ballads and popular literature« (S. 20) schuldig.

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William Godwin und
die Hochverratsprozesse von 1794

[17] 

Zwei weitere Studien des Trial-Teils (Houswitschka und Kayman) widmen sich einer Krisenperiode der britischen Geschichte. Im Kontext der Französischen Revolution und der Diskussion möglicher Folgen schreibt William Godwin in einer Zeit zunehmender politischer Hysterie zwischen Februar 1793 und Mai 1794 den das britische Rechtssystem fundamental kritisierenden Roman Things as they Are; or, The Adventures of Caleb Williams (veröffentlicht am 28. Mai 1794, wenige Tage nach der Suspendierung der Habeas Corpus-Akte). Das ist der Zeitpunkt, da die Vertreter der radikaldemokratischen Opposition verhaftet und des Hochverrats angeklagt werden; sie sind allerdings gewillt, wie Johne Horne Tooke betont, »to resist argument by argument, reason by reason, legal means by legal means, force by force«. 15 Bereits vor Beginn des Verfahrens kritisiert Godwin mit dem Artikel Cursory Strictures die Anklageschrift, die den Begriff des constructive treason politisiert. Obwohl die Angeklagten freigesprochen werden, schreibt Godwin in seinem in der zweiten Auflage von 1796 publizierten und auf den 29. Oktober 1795 datierten Vorwort zu Caleb Williams von der Angst der Buchhändler vor politischer Verfolgung: »Terror was the order of the day; and it was feared that even the humble novelist might be shown to be constructively [sic] a traitor«. 16

[18] 

Christoph Houswitschka sieht in der Kritik der Opposition an der Anklage eine narratio, die die auf Konspirationsängsten basierenden Rechtsfiktionen der Kronanwälte unterlaufen und auf die innere Rechtskultur einwirken soll, so wie die Regierung sich ihrerseits literarisch-»imaginativer« Mittel bedient, um ihre kulturelle Hegemonie zu konservieren. Mit Texten aller Art, in denen die Opposition juristische Wissensbestände in der äußeren Rechtskultur verfügbar macht, kann sie dem Konzept der demokratischen Partizipation eine breitere Basis geben; auf diese Weise wird in der Folgezeit auch die innere Rechtskultur modifiziert und reformiert (S. 119).

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Martin A. Kayman zufolge problematisiert und destabilisiert Godwins Caleb Williams das Verhältnis von Recht und Literatur. Das geschehe durch die Überlagerung von romanhafter und juristischer narratio, die auf das Ziel gerichtet sei, Calebs ehemaligen Arbeitgeber Falkland wegen Mordes vor Gericht zu bringen: »[...] Caleb Williams appears in fact as an account of the genesis of itself as a response to a genre narrative [i.e., the Newgate calendar structure] which, at the same time, doubles as a legal indictment – literature, in a word, becoming law [sic] by claiming to escape the contingencies and partialities of genre« (S. 88). Die zweifellos ingeniöse These vom »Vergessen« des Genrespezifischen im quasi »genrefreien«, weil »wissenschaftlichen« Rechtsdiskurs, 17 der in Calebs »Anklageschrift« aber schließlich wieder in die »irreducible fictionality and its lawless instabilities of ending, genre and title« (S. 89) und damit in Instabilität abgleite, scheint mir jedoch überzogen. Die Behauptung »literature [...] becom[es] law« läßt sich interpretatorisch am und im Text nicht belegen. Selbst die Schlußsequenzen sind keine Anklageschrift, sondern haben die Funktion eines »example what sort of evils are entailed upon mankind by society as it is at present constituted«. 18

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Verlies, Schuldgefängnis, reformiertes Gefängnis

[21] 

In der 1691 für den Buchhändler Moses Pitt gedruckten Schrift The Cry of the Oppressed, auf die bereits John Bender in Imagining the Penitentiary (1987) hingewiesen hatte und der sich Frank Lauterbach in seiner Untersuchung zu Gefängnis-Autobiographien zuwendet, ist von den auf unbestimmte Zeit festgehaltenen Schuldnern als »poor Shrubs« die Rede, »that sit in Shades below, in Prisons, nay in Dungeons«. 19 Das Nebeneinander von prison und dungeon deutet das Problem an, das sich zwangläufig bei der Analyse von Texten aus mehreren Jahrhunderten ergibt. In England wurden Kerker oder Burgverliese (dungeons) mit mittelalterlicher Vergangenheit und kontinentaler Willkürherrschaft assoziiert; 20 Verliese gab es auf der Opernbühne, aber nicht realiter. 21

[22] 

Gefängnisse waren privatwirtschaftliche Unternehmen, und deshalb gab es auch eine Vielzahl von Häusern mit unterschiedlichen Funktionen und Strukturen. Daniel Defoe zählt für London 26 public goals und weit über einhundert tolerated prisons, darunter 119 sog. Sponging Houses, fünfzehn Mad-Houses und drei Pest-Houses. Tim Hitchcock hat gerade in einer materialreichen Studie die verwirrende Vielfalt solcher Institutionen aufgezeigt, die aus der Sicht »von unten« das Potential für unterschiedlichste physisch-mentale Erfahrungen waren. 22 Der Begriff des Gefängnisses ist also sehr weit gefaßt. Defoe fügt hinzu:

[23] 
All these private houses of confinement are pretended to be little purgatories, between prison and liberty, places of advantage for keeping prisoners at their own request, till they can get friends to deliver them, and so avoid going into public prisons; though in some of them, the extortion is such, and the accomodation so bad, that men choose to be carried away directly. 23
[24] 

Und Alexander Smith zufolge war Newgate »a dismal prison [...] a place of calamity, [...] an habitation of misery, a confused Chaos, [...] a bottomless pit of violence, and a Tower of Babel, where all are speakers and no hearers«. 24 Die Gefängniserfahrungen umschreibende Bildlichkeit ist also heterogen, ein Aspekt, den man bei der Lektüre von Lauterbachs und Fluderniks Bildlichkeitsanalyse (siehe unten) bedenken sollte.

[25] 

Mit dem Penitentiary Act von 1779 veränderte sich erneut die Funktion von Gefängnissen entscheidend, sie dienten nicht mehr primär vorübergehender Einsperrung (vor Gerichtsverfahren bzw. öffentlicher Hinrichtung), sondern der mentalen Reformierung, dem »Plastischmachen durch Disziplinierung«, so ein Zeitgenosse: »It is not that the faculty of volition is enfeebled, but that the bad influence by which the will has been previously actuated is withdrawn or abated and the will is bent in its direction; it is broken in its resistance to virtue«. 25

[26] 

Autobiographische Gefängnisberichte

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Den autobiographischen Gefängnisbericht (die einprägsame Metapher eines »errand into the wilderness« deutet religiöse Implikationen an) kann man ohne Zweifel mit Lauterbach als »discursive icon« bezeichnen, »which establishes and maintains a variety of cultural hegemonies that are produced and manipulated in and through acts of narrative representation« (S. 128). Die Frage ist aber, ob das gleicherweise für jede Art von Text bzw. Gefängnis gelten kann, »where the need for social self-assertion or strategic self-positioning is felt with particular urgency and the prison’s symbolic value as a cultural icon is exploited most explicitly« (S. 128). The Cry of the Oppressed (1691), Lauterbachs erster Text, ist ein vom Buchhändler Pitt 26 zusammengestelltes Pamphlet, in dem Schuldner aus allen Teilen des Landes (in der Regel unterzeichnen mehrere Personen) an Unterhaus, Friedensrichter oder Privatpersonen appellieren, um auf die Willkürzustände aufmerksam zu machen. Eine solche Petitionssammlung (daß es sich darum handelt, wird gelegentlich erwähnt) hat ihren primären Stellenwert im Kontext entstehender Öffentlichkeit. 27 Zwar monieren Titelblatt und weitere Passagen im Sinne Lauterbachs die gemeinsame Einsperrung mit »Murderers, Felons, and Cutpurses« (etwa S. 17), aber man kann nicht unbedingt von autobiographischen Strukturen etwa im Sinne der puritanischen »spiritual autobiographies« ausgehen. 28 Dennoch überzeugen die generellen Schlußfolgerungen: Insassen beschaffen sich im Gefängnis durch Abgrenzung von anderen Einsitzenden symbolisches Kapitel, reproduzieren dabei aber die gängigen gesamtgesellschaftlichen Markierungen. 29

[28] 

Narrative Gefängnismetaphorik

[29] 

Monika Fludernik, die historisch zwischen verschiedenen Gefängnistypen differenziert, analysiert literarische Gefängnisbilder, »to provide a rough preliminary list of associations or connotations of the carceral institution and experience in literary texts« (S. 146). In den von ihr analysierten Texten evoziert die Gefängnismetaphorik erstaunlicherweise (?) nicht das historisch Spezifische, sondern akzentuiert »general situations of confinement, restraint and oppression« (S. 158). Fluderniks Untersuchung ist Teil eines work in progress, müßte jedoch auch Texte von Autoren in den Blick nehmen, die nicht der literarischen Elite angehören. Möglicherweise wäre dann der Befund über das Zeitenthobene der Bilder zu revidieren.

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Das Gefängnis bei Charles Dickens

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Harry E. Shaw beschäftigt sich mit zwei auf Richardson und Fielding zurückgeführte Traditionen, an die Dickens anschließt. Fieldings Gefängnis sei, so Shaw, »always an extension, and usually a concentration, of the truths that underlie normal life« (S. 171), während Richardson die Diskontinuität von Gefängnis und Realität betont. Dickens orientiere sich an beiden Paradigmen (»the guilt / everyday life axis« und die »guilt / transcendence axis«). Ein Vergleich von Scotts The Heart of Mid-Lothian (1818) mit Dickens’ Little Dorrit (1855–57) dokumentiert für Shaw zudem unterschiedliche Historisierungen der Institution.

[32] 

Auch Carol Colatrellas Studie beschäftigt sich mit Little Dorrit. Gefangenschaft und Unschuld seien bei Dickens so eng miteinander verwoben, »that no one can be completely free of transgressions in a corrupt society« (S. 197). Die Beispiele unschuldiger Gefangener seien »means of understanding criminality, particularly representing cultural anxieties about who ought to be judged criminal and how criminals ought to be punished« (S. 185). Wer Dickens’ geradezu enthusiastische Artikel über die Polizei in seiner Zeitschrift Household Words kennt, wird freilich fragen, wie sich diese Ergebnisse mit »The Modern Science of Thief-Taking« oder »A Detective Police Party« (1850) vereinbaren lassen.

[33] 

Das Bentham / Foucault-Paradigma
in der zeitgenössischen Erzählliteratur

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Heidi Slettedahl Macpherson zeigt, wie Texte Angela Carters, Margaret Atwoods und Sarah Waters’ das Panopticon-Modell Benthams und Foucaults anzitieren, es aber zugleich unterlaufen: »What these writers do [...] is subvert the hierarchical notion of the prisoners as powerless, the authorities as powerful« (S. 205). Wie Macpherson im Anschluß an Laura Mulveys auf Lacan basierendem Konzept des »male gaze« zeigt, findet eine gender-spezifische Umkehrung statt: »[...] each of these texts foregrounds the gaze as a powerful medium of control [...]. What each of these texts also does [...] is ensure that the prisoners exert control through the gaze, by reflecting back or reflecting upon those who think that they hold the power« (S. 219).

[35] 

Der postmoderne Roman und der Gefängnisfilm

[36] 

Jacqueline Berben-Masi beschäftigt sich mit Percy Everetts postmodern-parodistischem Roman Glyph (1999), »a humorous critique of the institutionalized discrimination of African-American men in American society and its penal system« (S. 223). Die literatur- und kulturwissenschaftlich überzeugende, aber gedanklich komplexe Analyse muß man selbst lesen.

[37] 

Jan Alber hat 30 Gefängnisfilme untersucht (seit den zwanziger Jahren gibt es ca. 600). Fluderniks narratologisches Konzept der »experientiality« aufgreifend, zeigt Alber, in welchem Maße Gefängnisfilme den (Foucaultschen) Aspekt der Disziplinierung des Körpers ins Bild umsetzen. Da ihn u.a. die eigenartige Wirkung solcher (angeblich plot-loser) Filme auf den Zuschauer interessiert, muß er zunächst filmtheoretische Fragen klären. Allerdings fehlt es an stichhaltigen Begründungen dafür, daß der Gefängnisfilm generell keinen plot aufweist. 30 Andererseits formuliert er das Konzept des »filmischen Erzählers« theoretisch überzeugend um: »Films [...] are mimetically performed and cinema audiences narrativize them by means of the ›natural‹ VIEWING frame, the ›real world‹ schema of perception« (S. 48).

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Der Blick nach Südafrika

[39] 

Monika Fludernik wendet sich zum Schluß südafrikanischen Gefängnismemoiren (Robben Island) zu, »that [...] uncover the colonial subtext of the apartheid state by revealing the prison regime on the island to be equivalent to a type of modern-day slavery« (S. 272). Man wüschte sich im Anschluß daran eine Untersuchung des Dokumentardramas Guantanamo (Tricycle Theatre, London, 2004): Nicht nur, daß der Schluß des Stückes mit der Mahnung endet »Most [pisoners] are from countries with even less power than Britain to influence events. They are being held indefinitely«; auch das John Donne-Zitat »No man is an Island« deutet die Reichweite der im gesamten Band vorzüglich dokumentierten Verrechtlichungstendenzen an, deren Subjekte allzu häufig durch den Blick von oben in Vergessenheit geraten. 31 Trotz der angedeuteten historisch-konzeptuellen Probleme bringt aber die Konzentration auf zwei Bereiche – Gefängnis und Verfahren – beträchtlichen wissenschaftlichen Gewinn.

[40] 

Quellenverweise: Probleme und Anregung

[41] 

Bekanntlich sind Internet-Angaben nicht immer zuverlässig. Das trifft im vorliegenden Falle zu auf Kaymans Quelle für die Verbrecherbiographie Eugene Arams (S. 103). Der von der Tarlton Law Library (University of Texas at Austin) im Rahmen der Law in Populare Culture Collection zur Verfügung gestellte E-text ist neuerdings unter anderer Adresse zu finden: http://tarlton.law.utexas.edu/lpop/etext/newgate3/aram.htm. Als Vorlage diente der Tarlton Law Library ein die Quellen allerdings nicht identifizierender Nachdruck in J.L. Raynor / G.T. Crook (Hg.): The Complete Newgate Calendar (5 vols. London: Privately printed for the Navarre Society 1926). Warum Kayman für die Aram-Biographie 1760 als Datum nennt, bleibt unklar: erste Berichte erschienen 1759. 32 Das Material wurde dann modifiziert übernommen in das Bloody Register (1764), in Villettes The Annals of Newgate (1776), W. Jacksons The New and Complete Newgate Calendar (1795) sowie in The Newgate Calendar (1824–26) von A. Knapp und W. Baldwin: Es wäre ratsam, in solchen Fällen auch die gedruckte(n) Vorlage(n) zu nennen.



Anmerkungen

Paul F. Campos: Jurismania. The Madness of American Law. New York: Oxford University Press 1998, S. 81.   zurück
Douglas Hay et al. (Hg.): Albion's Fatal Tree. Crime and Society in Eighteenth-Century England. London: Allen Lane 1975. Vgl. Hitchcock, Anm. 6 und 22.   zurück
European Society for the Study of English. Die ESSE-Home Page: http://www.essenglish.org.   zurück
Zum Gefängnis: Michael Ignatieff: A Just Measure of Pain. The Penitentiary in the Industrial Revolution, 1750–1850. New York: Pantheon Books 1978; Robin Evans: The Fabrication of Virtue. English Prison Architecture 1750–1840. New York: Cambridge University Press 1982; Norval Morris / David J. Rothman (Hg.): The Oxford History of the Prison. The Practice of Punishment in Western Society. New York: Oxford University Press 1995; Graeme Harper (Hg.): Colonial and Post-Colonial Incarceration. New York: Continuum 2001.   zurück
Zum Gerichtsverfahren: John Langbein: The Criminal Trial before the Lawyers. In: The University of Chicago Law Journal 45 (1978), S. 263–316; J. L.: Shaping the Eighteenth-Century Criminal Trial. A View from the Ryder Sources. In: The University of Chicago Law Review 50 (1983), S. 1–136. Vgl. auch Uwe Böker: Literatur, Kriminalität und Rechtskultur. Ein Forschungsbericht. In: Uwe Böker / Christoph Houswitschka (Hg.): Literatur, Kriminalität und Rechtskultur im 17. und 18. Jahrhundert. Essen: Die Blaue Eule 1996, S. 11–35; Peter King: Crime, Justice, and Discretion in England 1740–1820. Oxford, UK / New York: Oxford University Press 2000; Malcolm Gaskill: Crime and Mentalities in Early Modern England. Cambridge, UK / New York: Cambridge University Press 2000.   zurück
The Proceedings of the Old Bailey-online (Zeitraum 1674 bis 1834): Project Directors: Tim Hitchcock and Robert Shoemaker. The Humanities Research Institute, University of Sheffield and the Higher Education Digitisation Service, University of Hertfordshire. Version 4.0. December 2004. http://www.oldbaileyonline.org/ (7.4.2005).    zurück
Gaskill (Anm. 5), S. 19.   zurück
Vgl. Ed Cohen: Legislating the Norm. From Sodomy to Gross Indecency. In: The South Atlantic Quarterly 88 (1989), S. 181–217.   zurück
Vgl. Uwe Böker: Institutionalised Rules of Discourse and the Court Room as a Site of the Public Sphere. In: Uwe Böker / Julie Hibbard (Hg.): Sites of Discourse – Public and Private Spheres – Legal Culture. Amsterdam: Rodopi 2002, S. 35–66.    zurück
10 
Zur Einordnung vgl. Uwe Böker: Angelsächsische Geltungsgeschichten der frühen Neuzeit. Die Legitimierung der Ancient Constitution und das Prinzip der Rule of Law. In: Gert Melville / Hans Vorländer (Hg.): Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Köln: Böhlau 2002, S. 203–241.   zurück
11 
Vgl. etwa Giorgio Agamben: Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life. Transl. D. Heller-Roazen. Stanford: Stanford University Press 1998; und Ernest H. Kantorowicz: The King's Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology. Princeton: Princeton University Press 1957.   zurück
12 
Vgl. auch Lucia Krämer: Of Doormats and Iced Champagne. The Wilde Trials in Fictional Biography, sowie Anja Müller-Muth: Writing ›Wilde‹. The Importance of Re-Presenting Oscar Wilde in Fin-de-Millénaire Drama in English. In: Uwe Böker / Richard Corballis / Julie Hibbard (Hg.): The Importance of Reinventing Oscar. Versions of Wilde during the Last 100 Years. Amsterdam: Rodopi 2002.   zurück
13 
Vgl. Howard Nenner: By Colour of Law. Legal Culture and Constitutional Politics in England, 1660–1689. Chicago: University of Chicago Press 1977.   zurück
14 
Charles Johnson: A General History of the Robberies & Murders of the Most Notorious Pirates. With an introduction and commentary by David Cordingly. London: Conway 2002, S. 346.   zurück
15 
John Horne Tooke: The Prison Diary (16 May-22 November 1794). Ed. with introduction and notes by A.V. Beedell and A.D. Harvey. Leeds: Leeds Philosophical and Literary Society 1995, S. 32.   zurück
16 
William Godwin: Caleb Williams. Ed. with introduction by David McCracken. London: Oxford University Press 1970, S. 2.   zurück
17 
Kayman bezieht sich auf Peter Goodrich: Law in the Courts of Love. London / New York: Routledge 1996. Es ist aber zu bezweifeln, daß Godwin seinem keineswegs idealen Helden eine solche Abstraktionsleistung zutraut. Angesichts der Realität der Gerichtsverfahren um 1800 scheint mir die These vom »denial of [the legal discourse's] own existence as a genre of writing« kaum applizierbar.   zurück
18 
Caleb Williams, S. 1 f. Zwar ist der Titel in der Standard Novels Ausgabe von 1831 auf Caleb Williams verkürzt; angesichts der Eingriffe des Verlegers Bentley in die Texte dieser Reihe scheint es mir aber nicht gerechtfertigt, aus der Verkürzung eine Fokussierung auf Falkland abzuleiten. Zu Bentleys Praktiken vgl. Royal A. Gettmann: A Victorian Publisher. A Study of the Bentley Papers. Cambridge: At the University Press 1960, S. 46 ff.   zurück
19 
The Cry of the Oppressed. Being A True and Tragical Account [...]. London: Printed for Moses Pitt 1691, S. 2.   zurück
20 
Vgl. zum Sprachgebrauch Uwe Böker: The Prison and the Penitentiary as Sites of Public Counter-Discourse. In: Uwe Böker / Julie Hibbard (Anm. 9), S. 211–248.    zurück
21 
Evans (Anm. 4), S. 82.   zurück
22 
Tim Hitchcock: Down and Out in Eighteenth-Century London. Hambledon / London: o.V. 2004, S. 162–176.   zurück
23 
Daniel Defoe: A Tour through the Whole Island of Great Britain. Abridged and ed. with introduction and notes by Pat Rogers. Harmondsworth: Penguin [Orig. ed. 1724–27], S. 322.   zurück
24 
Alexander Smith: A Complete History of the Lives and Robberies of the Most Notorious Highwaymen [...]. 5th ed. 1719. Ed. by Arthur L. Hayward. London: Routledge 1926, S. 108.    zurück
25 
Evans (Anm. 4), S. 387.   zurück
26 
Pitt hat die Petitionen zusammengestellt und seine eigene Geschichte als The Case of Moses Pitt, Bookseller, angehängt, einen Bericht über eigene geschäftliche Aktivitäten.   zurück
27 
Vgl. David Zaret: Origins of Democratic Culture. Printing, Petitions, and the Public Sphere in Early-Modern England. Princeton, N. J.: Princeton University Press 2000.   zurück
28 
Zum »incessant questioning and second-guessing« der »spiritiual autobiographies« vgl. J. Paul Hunter: Before Novels. The Cultural Contexts of Eighteenth Century Fiction. New York: Norton 1990, S. 45–46. – Die Bemerkung auf dem reißerischen Titelblatt (»some of them being not only Iron'd, and Lodg'd with Hogs, Felons, and Condemned Persons«) und der Stich mit der Legende »Debtors and Condem'd Criminals Lod'g together« (S. 61) scheinen Lauterbachs Bemerkung über Kriminelle, »linked, without further commentary, to the jail hogs!« (S. 130), zu bestätigen. In Halifax wurden im Gefängnishof Hunde und Schweine mit Innereien aus dem Schlachthaus gefüttert.   zurück
29 
Dies wird besonderes deutlich im Falle von viktorianischen Gefängnisberichten, in denen die Grenzziehungen die Stereotype reproduzieren, die seit der ersten Hälfte des Jahrhunderts in die Berichte über das Londoner East End eingehen. Vgl. F. S. Schwarzbach: Terra Incognita – An Image of the City in English Literature, 1820–1855. In: Prose Studies 5 (1982), S. 61–84.   zurück
30 
Alber: »[...] prison films tend to marginalize plot and instead focus on the crucial position of the prison subject as the victim of penal practices« (S. 246). Andererseits geht Alber immer wieder auf Handlungssequenzen ein, die im Sinne neuerer Modelle der Handlungsanalyse im Anschluß an die possible worlds-Theorie durchaus als plot-haltig zu bezeichen sind; vgl. Jan-Philipp Busse: Zur Analyse der Handlung. In: Peter Wenzel (Hg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Tier: Wissenschaftlicher Verlag 2004, S. 33 ff.   zurück
31 
Victoria Brittain / Gillian Slovo: Guantanamo. ›Honour Bound to Defend Freedom‹ taken from Spoken Evidence. London: Oberon Books 2004.   zurück
32 
Vgl. die Bibliographie in Lincoln B. Faller: Turned to Account. The Forms and Functions of Criminal Biography in Late Seventeenth- and Early Eighteenth-Century England. Cambridge: Cambridge University Press 1987, S. 322.   zurück