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NS-Wissenschaftspolitik in Biographien

  • Michael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 6) Heidelberg: Synchron 2004. 216 S. Gebunden. EUR (D) 34,80.
    ISBN: 3-935025-68-8.
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Wissenschafts- und Universitätsgeschichte sind für die Verortung von Forschung und Lehre unverzichtbar. Akademische Arbeit findet nicht im Elfenbeinturm, sondern in einem konkreten gesellschaftlichen Kontext statt, der für ihre Ergebnisse relevant ist. Wie sehr dies insbesondere für das ›Dritte Reich‹ gilt, hat die starke Rezeption des Internationale(n) Germanistenlexikon im Jahr 2003 / 04 gezeigt. 1 Gerade der Wissenschaftspolitik kommt besondere Bedeutung für den institutionellen und personellen Rahmen wissenschaftlicher Arbeit in den Jahren 1933 bis 1945 zu. Das Verdienst, die führenden Personen der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik jetzt gründlich biographisch erfasst zu haben, hat sich der Berliner Historiker Michael Grüttner erarbeitet.

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Grüttner ist ein ausgewiesener Kenner der nationalsozialistischen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Mit seiner Habilitationsschrift über Studenten im Dritten Reich und weiteren Veröffentlichungen zur Wissenschaft zwischen 1933 und 1945 hat er nachhaltig dazu beigetragen, unseren Kenntnisstand zu erhöhen. 2 Im Rahmen seiner jahrelangen Forschungen in Archiven und Bibliotheken hat er umfangreiche biographische Informationen zusammengetragen, die er jetzt in einem ansprechend gestalteten und gut zu nutzenden Band präsentiert. Erstmals entsteht so ein Nachschlagewerk zu den Viten einflussreicher (Hochschul-)Politiker und Wissenschaftler im Nationalsozialismus.

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Vollständig aufgenommen wurden:

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• die Rektoren der Universitäten und Technischen Hochschulen aus den Jahren 1933 bis 1945 einschließlich der nach 1938 annektierten Hochschulen. Berücksichtigt wurden dabei auch die Rektoren, die schon vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten in ihr Amt gewählt worden waren

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• die Gaudozentenbundführer und Dozentenbundführer – somit die wichtigsten Funktionäre des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes auf regionaler und lokaler Ebene, sofern sie an Universitäten oder Technischen Hochschulen tätig waren

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• die Leiter der 1933 / 34 gegründeten »Dozentenschaften« der jeweiligen Universitäten und Technischen Hochschulen, die ein wichtiger Faktor bei der Gleichschaltung der Hochschulen darstellten. Ab 1936 war die Leitung der Dozentenschaft in der Regel in Personalunion mit der Dozentenbundführung verbunden

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• die Vorsitzenden bzw. Reichsführer des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes und der Deutschen Studentenschaft seit der Kontrolle durch Nationalsozialisten, also ab 1931

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• die Vorstandsmitglieder des Verbandes der Deutschen Hochschulen

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• die Vertrauensleute der Hochschulkommission der NSDAP, die ab Januar 1934 an den Medizinischen Fakultäten ernannt wurden

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• die Präsidenten und Generalsekretäre der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.

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Berücksichtigt wurden in Auswahl unter Berücksichtigung ihrer wissenschaftspolitischen Relevanz ebenfalls:

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• die Kultusminister der Länder, sofern sie für die Wissenschaftspolitik zuständig waren, und die bedeutenden Hochschulreferenten in der Ministerialbürokratie der Länder

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• die einflussreichsten Wissenschaftspolitiker des Reichserziehungsministeriums, also die Leiter und wichtigsten Referenten des Amtes Wissenschaft

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• die wichtigsten Gaustudenten(bund)führer

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• die wichtigsten Funktionäre der Reichsdozentenführung

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• das Leitungspersonal der Deutschen Forschungsgemeinschaft

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• das Leitungspersonal des 1937 gegründeten Reichsforschungsrates, insbesondere die Fachspartenleiter

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• die wichtigsten Wissenschaftspolitiker des Amtes Rosenberg, besonders von Rosenbergs Amt Wissenschaft

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• die einflussreichsten Wissenschaftspolitiker der SS, gerade im SD und in der SS-Forschungsgemeinschaft »Ahnenerbe«

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• die wichtigsten, an Hochschulen aktiven Funktionäre des NS-Lehrerbundes, der allerdings nur in den ersten Jahren nach der Machtübertragung hochschulpolitisch einflussreich war

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• wichtige Wissenschaftler, die eine politisch signifikante Rolle gespielt haben. Besonders berücksichtigte Grüttner dabei neue, vom Regime geförderte Fächer, wie die Rassenhygiene.

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570 Kurzbiographien hat Michael Grüttner nach diesen Kriterien zusammengestellt. Die einzelnen Artikel sind chronologisch strukturiert und bieten Name, Geburtsdatum, Geburtsort, Beruf des Vaters, Konfession, Ausbildung, berufliche Laufbahn, Mitgliedschaft in politischen Parteien oder Organisationen und in studentischen Verbindungen, politische Positionen in Staat und Partei, Angaben zur Militärzeit, Todesdatum und Todesort. Sofern Informationen vorlagen sind Mitgliedschaft in der NSDAP, der SA oder der SS – hier mit dem höchsten Rang – genannt.

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Erschreckend deutlich wird bei der Lektüre, dass die Karrieren von nationalsozialistischen Wissenschaftlern nach 1945 – vor allem in der Bundesrepublik – weiterliefen. So wurde der Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, Otmar Freiherr von Verschuer (1896–1969), trotz seiner Menschenversuche in Konzentrationslagern, 1951 ordentlicher Professor für Humangenetik an der Universität Münster und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie (S. 177). Der Germanist Hans Ernst Schneider (1909–1999) war im ›Dritten Reich‹ zeitweise hauptamtlicher Referent im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS sowie SS-Hauptsturmführer. Seit 1945 lebte er unter dem falschen Namen Hans Schwerte und wurde hochgeehrter Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte sowie Rektor in Aachen (S. 152 f). Auch diejenigen, die nach 1945 nicht mehr an einer deutschen Universität lehren konnten, waren nicht nur finanziell bestens gestellt, sondern konnten auch auf anderen Ebenen Einfluss ausüben. Der Hamburger Rektor und Wissenschaftspolitiker, der Historiker (Gustav) Adolf Rein (1885–1979), z.B. war Präsident der Ranke-Gesellschaft und Mitherausgeber der Fachzeitschrift »Das Historisch-Politische Buch« (S. 136).

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Grüttner selbst bedauert, dass aufgrund der Quellenlage und der für einen einzelnen nur schwierig zu bewältigenden Arbeit Lücken in den Biographien für die Zeit nach 1945 bestehen. Gerade die unmittelbare Nachkriegszeit wird in zugänglichen Informationen oft verschwiegen oder durch eine nicht den Tatsachen entsprechende Kontinuitätsbehauptung verdeckt. Auch fehlt es an Angaben zur Parteimitgliedschaft nach 1945. Nur bei wenigen wird deutlich, wo nationalsozialistische Wissenschaftler ihre politische Heimat in der Bundesrepublik fanden. Der Historiker Ernst Anrich (1906–2001) beispielsweise, schon 1930 / 31 NSDAP-Mitglied und von 1940 bis 1943 Dekan der Philosophischen Fakultät in Straßburg sowie 1949 Gründer der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, war von 1960 bis 1964 Stadtverordneter der CDU in Darmstadt und von 1966 bis 1975 Mitglied, von 1971 bis 1975 stellvertretender Vorsitzender der NPD, als deren Chefideologe er zeitweise galt (S. 15). Hier wären weitere, systematische Forschungen unbedingt wünschenswert.

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Zusammenfassend hat Michael Grüttner ein sehr verdienstvolles Nachschlagewerk vorgelegt, das als Standardwerk mit solide recherchierten Informationen gelten kann. Doch darüber hinaus ist es auch ein Lesebuch, das zum Blättern wie zum kontinuierlichen Lesen einlädt.



Anmerkungen

Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. 3 Bde. Hg. und eingeleitet von Christoph König. Bearb. von Birgit Wägenbaur zusammen mit Andrea Frindt, Hanne Knickmann, Volker Michel, Angela Renthal und Karla Rommel. Berlin / New York: Walter de Gruyter 2003. Aus der intensiven Debatte seien hier folgende Beiträge genannt: Jochen Hörisch: An ihren Werken sollt ihr sie erkennen. Das »Internationale Germanistenlexikon 1800–1950«. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 303 vom 31.12.2003, S. 37; Götz Aly: Was wusste Walter Jens? Wahrscheinlich geschah seine Aufnahme in die NSDAP ohne eigene Kenntnis. Rekonstruktionen einer akademischen Jugend. In: Die Zeit Nr. 4 vom 15.1.2004, S. 35; Hans-Harald Müller: Ein Magazin voller Geschichten zur deutschen Philologie. Das »Internationale Germanistenlexikon« und das Leben. Eine Veranschaulichung. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 50 vom 1.3.2004, S. 14; Reinhard Mielitz: Hat sich die Partei wirklich unmerklich und still die »junge Elite« einverleibt? Zur Diskussion über die NSDAP-Mitgliedschaft namhafter Nachkriegsgermanisten. In: Exil. Forschung – Erkenntnisse – Ergebnisse 23 (2004), Nr.2, S. 94–95.   zurück
Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich. Paderborn 1995; M.G.: Wissenschaft. In: Wolfgang Benz u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. 4. Aufl. München 2001, S. 135–153; John Connelly / M.G.: Zwischen Autonomie und Anpassung. Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Paderborn 2003.    zurück