Uwe Schütte

Dichtung als Dienst für die Opfer der Geschichte
und als literarischer Nach-Ruf an die Toten




  • Marcus Kreikebaum: Heiner Müllers Gedichte. Bielefeld: Aisthesis 2003. 399 S. 2 s/w Abb. Kartoniert. EUR 44,80.
    ISBN: 3-89528-385-1.


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Umfang und Bedeutung von Heiner Müllers lyrischer Produktion, ähnlich wie der literarische Stellenwert seiner Prosatexte, wurden bis zum Erscheinen der von Frank Hörnigk besorgten Frankfurter Werkausgabe im Suhrkamp Verlag nicht wirklich erkannt. Beide Textsorten »variieren Problemstellungen der Dramen, stellen für sich genommen aber auch einen in seiner ästhetischen Eigenständigkeit lange unterschätzen Teilbereich des literarischen Gesamtwerks dar«, urteilt Eke. 1 Jüngere Darstellungen von Müllers Gesamtwerk wie die von Eke oder Lehman / Primavesi 2 sind jedoch wichtige Schritte zu einer Revidierung der Vernachlässigung von Gedichten und Prosatexten gegangen, wie auch in letzter Zeit aufschlussreiche Analysen zur Lyrik publiziert wurden. 3

[2] 

Marcus Kreikebaums konzis betitelte Studie Heiner Müllers Gedichte ist daher keineswegs der erste rein auf die Lyrik ausgerichtete Kommentar, wenngleich sie sich vom Ansatz her von zuvor erschienenen Studien unterscheidet. 4 Müllers Aufforderung an seine Editoren, mit dem Prinzip ›brutaler Chronologie‹ vorzugehen, verbindet Kreikebaum mit dem Versuch einer Rekonstruktion der zwischentextlichen Beziehungen zu eigenen und fremden Texten. »Mit einer Ausnahme«, so Kreikebaum, »werden hier diejenigen Gedichte, die Müller zu Lebzeiten veröffentlichte, in ihrer chronologischen Reihenfolge untersucht. Diese Vorgehensweise bietet den Vorteil, Müllers eigene Einschätzung des Textes sowie seine Ordnungs- und Montageprinzipien anhand der von ihm zusammengestellten Werkblöcke genau verfolgen zu können« (S. 15).

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Berliner Ausgabe als Grundlage

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Kreikebaums Kommentar der Gedichte Müllers setzt an einem Schwachpunkt der Frankfurter Ausgabe an, nämlich den fehlenden Hinweisen auf die chronologische beziehungsweise kontextuelle Stellung der Gedichte im Rahmen der Zyklen, Reihen oder dramatischen Bearbeitungen in der Berliner Ausgabe des Rotbuch Verlags, in deren Rahmen Müller seine Lyrik (im Westen) öffentlich machte. Nachdem Kreikebaum in einem kurzen Einleitungskapitel den Forschungsstand referiert und kurze, an Theoriekomplexen von Genette und Bloom orientierte methodologische Überlegungen anstellt, erfolgen im nächsten, mit rund 230 Seiten den Hauptteil der Studie repräsentierenden Kapitel die Analysen der Gedichte in der Reihenfolge ihrer ersten Veröffentlichung in der Berliner Ausgabe.

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Wichtig ist Kreikebaum nicht nur die chronologische Publikationsabfolge der Gedichte, sondern vor allem der spezifische Kontext, in denen sie jeweils in den einzelnen Bänden der Berliner Ausgabe erschienen.

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Dabei lassen sich insbesondere die ersten fünf Bänder der Rotbuchausgabe als fortgesetzte Versuche einer ästhetischen Vermittlung von Zeit und Zeiterfahrung betrachten. Müller behandelte seine Texte und Gedichte wie ein dramatisches Material, indem er sie in ein dialogisches Spannungsverhältnis zu anderen Texten und Materialien setzte. (S. 60)
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Den Abschluss des Bands bildet eine leider wenig hilfreiche Bibliographie, welche ohne sinnvolle Ordnungskriterien Zeitungsrezensionen aus der taz zusammen würfelt mit einzeln aufgelisteten Beiträgen aus Sammelbänden, nebst Angaben zu Monografien und unveröffentlichten Qualifikationsarbeiten aus den Siebzigern.

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Die Behandlung der Gedichte
im intermedialen Kontext

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In den einzelnen Bänden der Berliner Ausgabe vermischte Müller auf jeweils unterschiedliche Weise alte und neue Texte, benutzte Bilder oder journalistische Meldungen als Illustration und verknüpfte Texte unterschiedlicher Gattungen miteinander. Die Gedichtreihen und -zyklen werden daher von Kreikebaum »sowohl im Bezug auf ihre Positionierung innerhalb eines Bandes als auch auf ihre wechselseitige Kommentierung und Kontrastierung gelesen« (S. 61 f).

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Das jeweilige Umfeld der Präsentation der Gedichte lenkte sowohl deren Rezeption, wie es auch Interpretationsmöglichkeiten bereitstellt, die in der Frankfurter Ausgabe zwangsläufig absent bleiben. Sinnvollerweise versteift sich Kreikebaum nicht auf platte Editionskritik, sondern lenkt durch sein Vorgehen auf indirekte Weise die Aufmerksamkeit auf den von der Forschung vernachlässigten Aspekt, dass es zu den ursächlichen Aspekten der unabgeschlossenen, prozessualen Poetik Müllers gehört, dass sein Werk in zwei Ausgaben vorliegt, die beide auf ihre Weise philologische Mängel aufweisen, jedoch zusammen oder zumindest parallel gelesen werden müssen, um der Komplexität des Müller’schen Œuvres gerecht zu werden.

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Kreikebaum trifft eine sinnvolle Auswahl relevanter Gedichte, anstatt einem fehlgeleiteten positivistischen Drang zum Gesamtkommentar zu erliegen. Gedichtgruppen, wie etwa die »Lektionen« in Geschichten aus der Produktion 1 oder die Reihe »ABC« in Germania Tod in Berlin, werden zwar in ihrer Stellung in dem jeweiligen Band beschrieben und kommentiert, detaillierte Einzelanalysen erfolgen aber nur dann und dort, wo dies auch wirklich sinnvoll ist, was den Fokus auf das Wesentliche lenkt und den Erkenntnisgewinn der Studie erheblich steigert.

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Das Problem der
Gattungszuordnung bei Müller

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Korrekt und sinnvoll geht Kreikebaum auch das unvermeidliche methodologische Problem der Gattungszuweisung bestimmter strittiger Texte von Müller an. So gehört es ja zum großen Verdienst seiner Literatur, dass er sich nie sonderlich um Gattungskonventionen geschert hat, weshalb das Kopfzerbrechen über eine Zuordnung seinen Editoren und Kommentatoren überlassen bleibt. Kreikebaum hält weisen Abstand von wenig ertragreichen Scheingefechten innerhalb der Müller-Philologie, deren Protagonisten gleich den Frauen in Brechts Kaukasischem Kreidekreis bestimmte Texte Müllers gewaltsam in die eine oder andere Gattung zu ziehen versuchen.

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So veranstaltet Kreikebaum etwa anhand von Schotterbeck und Todesanzeige keine haarspalterische Diskussion um deren ästhetische Stellung zwischen Prosa und Lyrik, 5 sondern betrachtet die Texte pragmatischer Weise als Prosagedichte, um ausgehend von diesem ambivalenten Textverständnis sowohl eine inhaltliche Analyse als auch eine gewinnbringende Einordnung in das Gesamtwerk zu unternehmen. Dabei verweist er etwa auf die Beziehungen, die zwischen Schotterbeck und dem Drama Germania Tod in Berlin herrschen beziehungsweise setzt Todesanzeige in Bezug zum Gedicht Gestern an einem sonnigen Nachmittag, da sich beide Texte mit dem Selbstmord von Inge Müller auseinandersetzen, diskutiert aber auch Ginka Tscholakowas Die Maske des Schweigens, eine 1975 veröffentlichte Reaktion auf Todesanzeige, in der Müller im Namen der toten Frau massiv angegriffen wird.

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Auch das Medeaspiel, »die äußerst knappe Beschreibung eines pantomimischen Rollenspiels vor dem Hintergrund dreier Projektionen« (S. 116), behandelt Kreikebaum, dem erklärten Wunsche Müllers folgend, als ein Gedicht, das er einer ›offenen‹, intertextuellen Lesart unterzieht, die akzeptiert, dass »hier nicht nur die einzelnen Lektüren, Fragmente und Textsorten miteinander kommunizieren, sondern darüber hinaus auch verschiedene ästhetische Gattungen, wie Pantomime, Tanz, Poesie und Prosa« (S. 122).

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Zwei Lyriker, ein Ehepaar

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Hervorzuheben ist die feinfühlige Art und Weise, in der Kreikebaum die Verbindungen der Lyrik Müllers zu den Gedichten seiner Frau Inge Müller behandelt. Ähnlich wie im Falle von Uwe Johnson handelt es sich bei der Kommentierung der biografischen Beziehung zwischen Heiner und Inge Müller um eine problematische Grauzone, da vielleicht noch gewisse Aspekte des Privatlebens von Schriftstellern, kaum aber das Privatleben ihrer Partner in den Bereich des Erkenntnisinteresses der Literaturwissenschaft gehören. 6 Manche der Intrusionen und Urteile, die über die Ehen von Johnson, Müller und anderen Paaren von germanistischer Seite geäußert wurden, sind eine Schande für die Zunft. 7

[18] 

Im Falle von Heiner und Inge Müller liegt insofern ein Sonderfall vor, als beide Ehepartner Schriftsteller waren und anfänglich in gemeinsamen literarischen Projekten tätig waren. Zumal da beide Autoren als Lyriker hervortraten, war eine Auseinandersetzung mit dem Thema kaum zu vermeiden. Kreikebaum geht dies angemessen an, indem er vor vorschnellen, einseitig wertenden Beurteilungen der unzweifelhaft vorhandenen Problematik der Ehe zurückschreckt, einseitige Parteinahmen für einen der beiden Partner vermeidet und seine Urteile auf objektiv beglaubigten Sachverhalten basieren lässt.

[19] 

Bis zur Publikation der gesammelten Texte Inge Müllers durch Ines Geipel 8 hat die Germanistik in durchaus chauvinistischer Weise den literarischen Rang der Autorin und ihren (direkten wie indirekten) Beitrag zum Werk ihres Gatten unterschätzt. »Der Einfluß von Inge Müller auf das Werk ihres Mannes ist beträchtlich« (S. 55), postuliert Kreikebaum zu Recht. Anhand einer exemplarischen Analyse zweier Gedichte von Heiner und Inge Müller, die beide den Titel Majakowski tragen und sich mit dem sowjetischen Dichter beschäftigen, gelingt es Kreikebaum, das ästhetische Wechselverhältnis zwischen den beiden Schreibpartnern zu Lebzeiten von Inge Müller als einen wechselseitigen Prozess der Nachahmung durch Abgrenzung zu bestimmen.

[20] 

Das nach Inge Müllers Tod entstandene lyrische Werk Heiner Müllers ist laut Kreikebaum durchzogen von intertextuellen Bezügen auf ihre Gedichte.

[21] 
Allerdings handelt es sich dabei weniger um bloße Nachahmung, sondern vielmehr um das bewußte / unbewußte Spiel mit der Wiederholung einer fortgesetzten Verdrängung, der eine Untersuchung der Spuren von Inge Müllers Lyrik in Heiner Müllers Werk weiter nachzugehen hätte. (S. 93)
[22] 

Warum sich Müllers Literatur
nicht als ideologisches
Schlachtfeld eignet

[23] 

Ein ähnlich gelagertes Problem der Müller-Philologie wird ebenfalls von Kreikebaum vermieden, nämlich die offenkundige Parteinahme für den Autor. Damit soll keineswegs einer Ignorierung der politischen Explosionskraft der Texte oder gar einer philologisch inspirierten Neutralisierungskampagne von Müllers Literatur das Wort geredet werden. Ganz im Gegenteil. Wie im Fall von Peter Weiss gilt es, den Autor sehr ernst zu nehmen in seiner radikal sozialistischen Haltung und ihn als Paradigma zu verstehen, an dem die heutige Linke ihre Position kritisch zu schärfen hat. Durch eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Exempel Müllers sollte es, ganz im Sinne seiner eigenen Arbeitsweise, zu einer Aktualisierung der von ihm vorgelegten Analysen und Lösungsvorschläge, nicht aber zu einer reduzierenden Vereinnahmung kommen. Eine sachliche, also im besten Sinne literaturwissenschaftliche Beschäftigung ist daher der größte Dienst, den man sowohl dem Vermächtnis von Heiner Müller als auch dem verbleibenden Rest politisch bewusster Müller-Leser erweisen kann.

[24] 

Die Absenz einer ideologisch überlagerten Wertung der politischen Haltung Müllers ist dementsprechend positiv hervorzuheben, so behandelt Kreikebaum etwa die frühen Nachdichtungen von Stalin-Hymnen in ihrem biografischen Kontext, das heißt Müllers Zwang, sich als 21-Jähriger nach der Republikflucht des Vaters ohne elterliche Unterstützung oder Einkommen durchschlagen zu müssen. Den Umstand, dass Müller die sowohl in ästhetischer wie politischer Hinsicht extrem dürftigen frühen Tendenz-Gedichte zur Publikation freigab, interpretiert Kreikebaum als bewusstes, selbstkritisches Eingeständnis seines jugendlichen Opportunismus und bestimmt die Nachdichtungen »somit als dokumentarisches Material innerhalb des Gesamttextes Müllers« (S. 51).

[25] 

Analog sachlich verläuft auch Kreikebaums Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur, die gegenüber Müller aus politischen Gründen kritisch eingestellt ist; anstatt sich auf die Ebene ideologischer Streitereien zu begeben, werden durch eine sachliche Argumentation manch einseitig verzerrende Auslegungen Müller’scher Texte richtig gestellt. 9

[26] 

Müllers Lyrik
nach dem Ende der DDR

[27] 

Mit dem Ende seines Heimatlandes kam Müller bekanntlich das Material seiner Literatur abhanden. Das durch verschiedene weitere Umstände bedingte (weitgehende) Erlöschen seiner dramatischen Produktion führte jedoch zu einem Aufschwung der lyrischen Produktion. »Nach der Wiedervereinigung bis zu seinem Tod im Dezember 1995 schrieb Heiner Müller fast ausschließlich Gedichte, die er teilweise direkt in seinen zahlreichen Interviews veröffentlichte.« (S. 9) Im zweiten Hauptteil der Untersuchung analysiert Kreikebaum auf etwas über 100 Seiten die von 1989 bis zu Müllers Tod entstandenen Gedichte. Er beginnt mit dem Gedicht- und Bilderzyklus Ausreisen 2/3/4/5, deren Veröffentlichungsjahr in der Frankfurter Ausgabe mit 1992 angegeben wird, obwohl der Zyklus bereits 1989 in Shakespeare Factory 2 erschienen ist – eines der Beispiele dafür, wie »die sich leider als unbefriedigend erweisenden bibliografischen Notizen des 1998 erschienenen Bandes« (S. 10) von Kreikebaum berichtigt werden.

[28] 

Fatalerweise unterlaufen jedoch auch Kreikebaum gravierende Datierungsfehler. So behauptet er, dass die Gedichte der Reihe Fernsehen, eine Montage aus fünf unterschiedlichen Texten, »erstmals 1992 veröffentlicht« (S. 296) wurden, nämlich in dem ersten Gedichtband Müllers, der zu diesem Zeitpunkt im Berliner Alexander-Verlag publiziert wurde. Dies ist jedoch nicht der Fall. 10 Tatsächlich erschien Fernsehen gemeinsam mit weiteren um 1989 / 90 entstandenen Gedichten, wie etwa Leichter Regen auf leichtem Staub (eine Erich Honecker zugeeignete Übersetzung aus dem Chinesischen) oder das Gregor Gysi gewidmete Herz der Finsternis nach Joseph Conrad, erstmals 1990 in dem Bildband Ein Gespenst verlässt Europa. 11

[29] 

In den diesen Texten gewidmeten Gedichtanalysen fällt auf, dass sich in der Studie erstmals eine gewisse Oberflächlichkeit einstellt. So schleicht sich bei dem Vierzeiler Geografie der eklatante Interpretationsfehler ein, in den Versen »Gegenüber der HALLE DES VOLKES / Das Denkmal der toten Indianer« nicht den Palast der Republik und das sich davor befindliche Marx-Engels-Forum mit dem Denkmal der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus zu erkennen. Ein Fehler, der umso bedauerlicher ist, da Geografie ja dem Bildband Ein Gespenst verlässt Europa voran steht, in dem just die Herstellung und Aufstellung des Marx-Engels-Denkmals dokumentiert wird.

[30] 

Notgedrungen oberflächlich fällt die Analyse der beiden wichtigsten lyrischen Texte aus, die Müller ab 1989 verfasst hat, nämlich Mommsens Block und Senecas Tod, die beiden Hauptwerke der Gruppe ›Römische Gedichte‹. Da zu ersterem bereits selbständige Untersuchungen erschienen sind 12 und eine angemessene Analyse dieses komplexen Meisterwerks ohnehin im Rahmen der Studie nicht zu leisten wäre, ist die kursorische Deutung von Mommsens Block kein wirkliches Problem, zumal Kreikebaum sich sinnvoller Weise stärker auf das bisher zu Unrecht eher vernachlässigte Senecas Tod konzentriert, das er auf Müllers tödliche Krebserkrankung bezieht. Müller, so Kreikebaum über Senecas Tod, »theatralisiert die stoische Haltung des Philosophen; sie wird zur letzten Maske eines auf der Bühne sterbenden Ichs« (S. 357). Autor und Philosoph sterben gleichsam coram publico.

[31] 

Brechts Grabinschrift als
Epitaph auf Müller

[32] 

Abgeschlossen wird Kreikebaums Untersuchung mit zwei kurzen, aber höchst interessanten Abschnitten, die sich mit den als ›Abschiedsgedichte‹ klassifizierten lyrischen Texten beschäftigen, durch welche Müller in den letzten Monaten seines Lebens »den Virtus des Sterbens nicht nur in der Literatur suchte, sondern ihn auch künstlerisch nachvollzog, indem er die Erfahrungen während seiner tödlichen Krankheit zum Gegenstand seiner Dichtung und öffentlichen Auftritte machte« (S. 358). Die schmale Werkgruppe der ›Abschiedsgedichte‹ enthält laut Kreikebaum »lyrische Momentaufnahmen, die stark an Brechts Buckower Elegien erinnern« (S. 43).

[33] 

Der Verweis auf Brecht fügt sich ein in die Kreikebaums gesamte Studie durchlaufende, wenngleich nicht konsequent verfolgte These, dass Müllers lyrische Produktion das Gedichtwerk Brechts als hypotextuellen Bezugspunkt benutzte, indem er »das Werk dieses Vorgängers, wie auch aller anderen, einer fortgesetzten Reihe von Umschreibungen und Revisionen unterwarf«, entsprechend der Devise »Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat«, 13 beziehungsweise indem er Brechts Werk »durch seine Fehllektüren vervollständigte, revidierte, kommentierte und in seinem Sinn weiterführte« (S. 45, Hervorhebung im Original).

[34] 

Die Coda von Heiner Müllers Lyrik bildet die bedenkenswerte These, dass ein kurzer Auftritt aus dem posthumen Stück Germania 3. Gespenster am Toten Mann als eigentliches lyrisches Epitaph Müllers gelten muss. Gemeint ist die Szene »Maßnahme 1956«, in der Müller den toten Brecht als körperlose Stimme auftreten lässt, die eine Kontrafaktur des Brecht-Gedichts Ich benötige keinen Grabstein … spricht. 14

[35] 

Der überzeugend argumentierende Abschnitt erläutert zunächst die Details der absurden Plagiatsklage, mit der die Brecht-Erben die Publikation des letzten Stücks aus der Feder des literarischen Erben und Nachfolgers von Brecht zu verhindern suchten, um dann die literarische Komplexität der als Prosopopöie verstehbaren Stelle aufzurollen. Was bei Brecht als durchaus selbstbewusstes Statement über den Wert und die fortdauernde Relevanz seines Lebenswerks erscheint, 15 mutiert bei Müller zu einem eher resignierten Eingeständnis der Niederlage im Angesicht des doppelten Triumphes von tödlicher Krankheit und siegreichem Kapitalismus. 16

[36] 

Indem Müller sein ›letztes Wort‹ in der Stimme Brechts spricht, lässt es sich »als Synekdoche auf Müllers Gesamttext betrachten, dessen grundlegendes Merkmal die Spannung zwischen Eigennamen und (Selbst-)Zitat ist« (S. 380 f.). Wie Kreikebaum abschließend feststellt, »gewinnt Müller seine Originalität paradoxerweise dadurch, daß er sich bewußt zum Medium des Zitats macht und in diesem Prozeß die wesentlichen Erkenntnisse und poetischen Metaphern für das eigene Werk entwickelt« (S. 381).

[37] 

Das utopische Ziel:
Die Auferstehung der Toten

[38] 

Wie Kreikebaums Studie überzeugend demonstriert, ist im lyrischen Gesamtwerk Heiner Müllers, das so lange als Nebenschauplatz seiner literarischen Aktivität galt, der ›ganze‹ Müller enthalten. So wird am Beispiel des Gedichts Bilder, das 1974 erstmals publiziert wurde, aber schon in den fünfziger Jahren entstanden ist, dargelegt, wie »Müllers poetologisches Konzept bereits in den fünfziger Jahren quer zur offiziellen Funktionsbestimmung von Literatur und Kunst in der DDR stand« (S. 99). Müller war von Beginn an ein Lyriker, der seinen eigenen Weg ging und dessen kritische Solidarität zur Idee eines besseren Deutschland keine ästhetischen oder gedanklichen Konzessionen machte.

[39] 

Müllers Lyrik ist getragen von demselben Impetus wie seine Produktion von Drama und Prosa, nämlich dem Versuch eines literarischen Dialogs mit den Toten und dem Wunsch nach einer Befreiung der Toten.

[40] 
An die Stelle der Schöpfungsgeschichte tritt ihr finales Pendant, die Auferstehung der Toten am Tag des Jüngsten Gerichts, das Müller zu einem Sinnbild für die Verwirklichung der kommunistischen Utopie säkularisiert. Diese These vom Kommunismus als ›Befreier der Toten und Lebendigen‹, so Müller in dem Gedicht Fahrt nach Plodiv, entspringt seiner Auffassung der Revolution, die er im Anschluss an Benjamin und Brecht als Erlösung der Toten und Befreiung der Lebenden von der Last der Toten deutet. […] Die ›Befreiung der Toten‹ bedeutet nämlich einerseits die Aussöhnung mit den Opfern, die für eine bessere Zukunft starben, und andererseits das Ausgraben dessen, was mit ihnen an geschichtlicher Hoffnung begraben wurde. (S. 113)
[41] 

Eine womöglich polemische Bemerkung zum Abschluss: Kreikebaums Schreibstil ist durchweg seiner wissenschaftlichen Vorgehensweise angepasst, ohne sich durch irgendwelche Sperenzien beim Leser anzubiedern. Nichtsdestotrotz ist diese im Rahmen eines Frankfurter Graduiertenkollegs als Dissertation entstandene Studie, abgesehen von gewissen vernachlässigbaren Schwächen, auch ein Vergnügen zu lesen. Sie sollte in dieser Hinsicht nicht nur der weiteren Heiner Müller-Forschung zum Vorbild dienen, sondern setzt auch ein Exempel dafür, dass wissenschaftliches Schreiben nicht gleichbedeutend mit anödender Langweiligkeit sein muss – für Forscher wie Rezensenten.


Dr. Uwe Schütte
Aston University
School of Languages and Social Sciences
Aston Triangle
GB - B4 7ET Birmingham

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Ins Netz gestellt am 19.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Uwe Schütte: Dichtung als Dienst für die Opfer der Geschichte und als literarischer Nach-Ruf an die Toten. (Rezension über: Marcus Kreikebaum: Heiner Müllers Gedichte. Bielefeld: Aisthesis 2003.)
In: IASLonline [19.12.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1100>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Stuttgart: Reclam 1999, S. 269.   zurück
Hans-Thies Lehmann / Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2003. Vgl. die Rezension in IASLonline, URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Schuette3476018075_593.html (29.05.2004).   zurück
Hervorzuheben ist Theo Buck: Heiner Müller als Lyriker. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text & Kritik 73. Heiner Müller. Neufassung März 1997, S. 131–155 und insbesondere die Monografie von Katharina Ebrecht: Heiner Müllers Lyrik. Quellen und Vorbilder. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001.   zurück
Was freilich nicht ganz den Umstand rechtfertigt, dass er die verdienstvolle Parallelstudie von Ebrecht völlig unter den Tisch fallen lässt. Zwar ist eine gewisser Grad an Ignorierung anderer Forschungsergebnisse durchaus akzeptabel, doch ein gänzliches Verschweigen grenzt durchaus an wissenschaftliche Unredlichkeit. Ob sich die Absenz von Ebrechts Studie durch einen frühen Redaktionsschluss von Kreikebaums Buch erklären lässt, entzieht sich meiner Kenntnis.   zurück
In der Frankfurter Ausgabe hat Hörnigk beide Texte aus guten Gründen in den Prosaband aufgenommen.   zurück
Man stelle sich zum Vergleich vor, Studierende würden sich für die Partner ihrer Professoren zu interessieren beginnen... So wenig das biografische und persönliche Interesse an Autoren von einem Interesse an ihren Texten zu trennen ist, so sehr verdienen deren Partner einen Schutz ihrer Privatsphäre. Stattdessen sollte sich die Germanistik, insbesondere die feministisch ausgerichtete Strömung in ihr, vielleicht einmal Gedanken machen über den Beitrag, den Ehepartner, d.h. zumeist Frauen, durch Sekretärstätigkeit, Haushaltsführung, Kindererziehung und andere Tätigkeiten für die Entstehung von Literatur leisten, indem man dem schreibenden Partner einen von alltäglichen Sorgen freien Raum zur Ausübung künstlerischer Tätigkeit bereitstellt.   zurück
Vgl. etwa die degoutante Polemik von Hans Dieter Zimmermann: Der Wahnsinn des Jahrhunderts. Die Verantwortung der Schriftsteller in der Politik. Stuttgart: Kohlhammer 1997.   zurück
Inge Müller: Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn. Lyrik, Prosa, Tagebücher. Hg. von Ines Geipel. Berlin: Aufbau 1996.   zurück
Dies betrifft insbesondere Horst Domdey: Produktivkraft Tod. Das Drama Heiner Müllers. Köln: Böhlau 1998.   zurück
10 
Auch Hörnigk gibt ein falsches Veröffentlichungsjahr an, nämlich 1992.   zurück
11 
Heiner Müller: Ein Gespenst verlässt Europa. Fotografien von Sybille Bergmann. Mit einem Nachwort von Peter Voigt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990.   zurück
12 
Vgl. etwa Wolfgang Herbst (Hg.): Die Unschreibbarkeit von Imperien. Theodor Mommsens Römische Kaisergeschichte und Heiner Müllers Echo. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 1995, oder Jutta Schlich: A propos Weltuntergang. Heidelberg: Manutius 1995.   zurück
13 
So Müller in Fatzer + / – Keuner.   zurück
14 
Ausgeführt wird diese These auch in dem von Kreikebaum verantworteten Abschnitt »Die späten Gedichte«. In Lehmann / Primavesi (Anm. 2), S. 315–320.   zurück
15 
Ich benötige keinen Grabstein, aber / Wenn ihr einen für mich benötigt / Wünschte ich, es stünde darauf: / Er hat Vorschläge gemacht. Wir / Haben sie angenommen. / Durch eine solche Inschrift wären / Wir alle geehrt.   zurück
16 
STIMME BRECHT: Aber von mir werden sie sagen Er / Hat Vorschläge gemacht Wir haben sie / Nicht angenommen Warum sollten wir / Und das soll stehn auf meinem Grabstein und / Die Vögel sollen darauf scheißen und / Das Gras soll wachsen über meinem Namen / Der auf dem Grabstein steht Vergessen sein / Will ich von allen eine Spur im Sand.   zurück