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»Glanzvolle Station in der
Geschichte der Literatur von Frauen«

Weibliche Autorschaft in der Weimarer Republik

  • Walter Fähnders / Helga Karrenbrock (Hg.): Autorinnen der Weimarer Republik. (Aisthesis Studienbuch 5) Bielefeld: Aisthesis 2003. 297 S. 16 s/w Abb. Paperback. EUR 15,50.
    ISBN: 3-89528-383-5.
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Die Forschung der letzten zwei Jahrzehnte hat die Existenz und Bedeutung weiblicher Autoren in der Klassischen Moderne nachdrücklich ins Bewusstsein gerückt. Der von Walter Fähnders und Helga Karrenbrock vorgelegte Sammelband setzt sich nun die systematische Präsentation einer Teilphase zum Ziel, nämlich der weiblichen literarischen Produktion in der Weimarer Republik als einer »glanzvolle[n] Station in der Geschichte der Literatur von Frauen und der Literatur der Weimarer Republik überhaupt« (S. 16). Der Band versammelt insgesamt zwölf Beiträge, davon fünf Einzelstudien zu ausgewählten Autorinnen und sieben Beiträge zu übergreifenden Zusammenhängen, von Verfassern, die, gleich den Herausgebern, mehrheitlich selbst bereits mit Monographien, Editionen, Aufsätzen als Spezialisten zum Thema hervorgetreten sind.

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In der Einleitung stecken die Herausgeber mit profunder Kenntnis der Materie das Feld weiblicher Autorschaft im genannten Zeitraum ab, skizzieren die äußeren sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen für das enorme Anwachsen weiblicher literarischer Produktivität und erläutern die Auswahlkriterien des Bandes: Der Fokus liegt auf denjenigen Autorinnen, deren literarisches Début in die Weimarer Republik fällt und die am Projekt einer literarischen Moderne mitwirkten, die also (aus unserer heutigen Sicht) ästhetisch (z.B. Erzählweisen) wie ideologisch (z.B. Konstruktion der ›Neuen Frau‹) als innovativ gelten dürfen – das Spätwerk einer älteren Generation (u.a. Gabriele Reuter, Annette Kolb, Clara Viebig) bleibt ebenso unberücksichtigt wie die Gruppe der konservativen Autorinnen (u.a. Ina Seidel, Elisabeth Langgässer, Gertrud von le Fort). Eine kommentierte Auswahlbibliographie schließt den Band ab.

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Doppelter
Generationenwandel

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Helga Karrenbrock eröffnet die Beiträge mit einer Präsentation verschiedener weiblich-künstlerischer Selbstpositionierungen und deren Wandel seit der Jahrhundertwende: Während um 1899 Ricarda Huch die Frage weiblicher Autorschaft noch primär im Rahmen einer (Genie)Ästhetik jenseits der Geschlechtsdifferenz abgehandelt wissen will, da avanciert in den zwanziger Jahren das Geschlecht erstmalig zum zentralen Bezugspunkt der literaturästhetischen Debatten. Erst jetzt, nachdem die politischen Forderungen der Frauenbewegung weitgehend erfüllt sind, kann, so die Philosophin und Lyrikerin Margarete Susman programmatisch, als neue Aufgabe der Frauenbewegung der Kampf um das gleiche Recht »als ganzer Mensch« in Angriff genommen werden, was den »Kampf um Sprache und Bild« (S. 25) beinhalte. Das Spektrum der zeitgenössischen weiblichen Reflexion über den eigenen Standort ergibt insgesamt ein heterogenes Bild. Es koexistieren avantgardistisch-neusachliche Manifeste (u.a. Erika Mann), kritisch-bilanzierende Stimmen (u.a. Alice Rühle-Gerstel) sowie, vor allem gegen Ende des Zeitraums, konservative Forderungen nach Rückbesinnung auf die weibliche Natur (u.a. Caroline Urstadt), die zum Teil mit subversiven Konnotationen aufgeladen sind und gerade bei jüngeren Autorinnen wieder an Attraktivität gewinnen, womit sich ein erneuter Generationenwandel abzeichnet: Wedekinds Tochter Kadidja (Jahrgang 1911) etwa ist »Frauenbewegung und alles, was damit zusammenhängt, äußerst unsympathisch« (zitiert nach S. 36 f.).

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Die Kanonisierten

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Die fünf Einzelstudien des Bandes gelten erwartbar den mittlerweile »kanonisiert[en]« (S. 17) Autorinnen Marieluise Fleißer, Gertrud Kolmar, Anna Seghers, Vicki Baum und Irmgard Keun. Walter Delabar widmet sich dem dramatischen und erzählerischen Frühwerk von Marieluise Fleißer, in dem, wie kaum sonst, die Geschlechterthematik präsent und virulent ist. Insbesondere ihr großer Roman Mehlreisende Frieda Geier, der fraglos zu den bedeutendsten Prosawerken der Weimarer Republik zählen dürfte und den Delabar in eine Reihe mit dem Zauberberg und Berlin Alexanderplatz gestellt wissen will, verhandelt oppositionelle Partnerschaftskonzepte in seltener Explizitheit und auf hohem Reflexionsniveau. Aber auch die Sammlung Andorranische Abenteuer (1932) gehört nach Delabar »mit zu dem Besten und Witzigsten, was in der Spätzeit der Weimarer Republik erschienen ist« (S. 113). Umso beklagenswerter ist es, dass ihr Werk praktisch nur in den massiv umgearbeiteten Fassungen der 1970er Jahre greifbar ist, Produkt einer gezielten Selbststilisierung, die, wie Delabar zu Recht betont, dem Verständnis ihres Werkes und seiner Epoche im Wege stehen.

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Auch für Gertrud Kolmar ist die Zeit von 1927 bis 1932 die produktivste Phase. Das gängige Bild von der ›großen Uneinordenbaren‹ wird von Marion Brandt bekräftigt. Im Gegensatz dazu stellt für Anna Seghers die Weimarer Republik nur eine erste Phase ihres Schaffens dar. Sonja Hilzinger unternimmt die Rekonstruktion der Genese der Autorschaft unter Rekurs auf die Biographie, aus der sie »die grundlegende Schreibmotivation und die zentralen Koordinaten der Schreibintentionen« ableitet (S. 83). Hilzinger zeigt interessante Aspekte der Geschlechtercodierung in Seghers frühem Werk auf, unter anderem anhand ihrer ersten Erzählung Die Toten auf der Insel Djal. Eine Sage aus dem Holländischen, nacherzählt von Anna Seghers. So werde das für sie (und nicht nur für sie!) so zentrale narrative Modell des grenzüberschreitenden Strebens nach emphatischem ›Leben‹ und Freiheit privilegiert männlichen Rebellenfiguren zugeordnet, die zugleich als Projektionsfiguren fungierten, anhand von deren Schicksalen die ›Vatertochter‹ Seghers implizit ihre eigene Autorschaft als Prozess thematisiere. Hilzinger hebt zu Recht die Bedeutung der Motivkonstellation von Lebensgier, Tod und Wiedergeburt hervor, lässt dabei allerdings den Anschluss an die Forschung zu den lebensideologischen Grundlagen der Epoche vermissen. 1

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Kombinieren die genannten Beiträge biographische Erörterungen mit punktuellen interpretatorischen Auslassungen, so folgen mit den Beiträgen zu Vicki Baum und Irmgard Keun zwei sehr text- und interpretationszentrierte Beiträge. Mit Vicki Baum widmet sich Julia Bertschik einer Autorin, die als Inkarnation des Typs der ›Neuen Frau‹ in der Weimarer Republik galt und eine der wenigen Karrierefrauen der Zeit repräsentiert. Bertschik beschreibt den gezielten Imageaufbau Baums durch Ullstein als erstes Beispiel einer Inszenierung von Star-Autoren im deutschen Verlagswesen nach amerikanischem Vorbild. Vicki Baum wurde zum Markenartikel, »wie Melissengeist oder Leibnizkekse« (so Joe Lederer 1958 im Rückblick). Bertschik fokussiert auf die Doppelaktivität Baums als Feuilletonistin für die Ullsteinmagazine Uhu und Die Dame (deren Redakteurin sie zugleich war) sowie als Literatin und entdeckt ein erstaunliches »Nebeneinander affirmierender Modeartikel und kritischer fiktionaler Verarbeitung« (S. 127). Indem sie in ihren zahlreichen Artikeln über Mode, Kosmetik, Schönheit die massenmedialen Inszenierungs- und Vermarktungsstrategien der ›Neuen Frau‹ einerseits selbst bedient, sie zugleich aber in ihren fiktionalen Werken kritisch reflektiert und ironisiert, habe Baum, so Bertschik, »ihre eigene Imagekonstruktion durch Ullstein sowohl perpetuiert wie dekonstruiert« (S. 122). Wie wenig die Zuordnung von Baum zur Trivialliteratur gerechtfertigt ist, vermag Bertschik vor allem anhand der Komödie Pariser Platz 13 (1931 von Gründgens uraufgeführt) zu zeigen, wo Baum über intertextuelle Bezugnahmen ein virtuoses Spiel mit journalistischem und literarischem Diskurs treibt. Die Kenntnis ihrer feuilletonistischen Arbeiten ist allerdings Voraussetzung für die adäquate Rezeption dieser Komödie. Diese vorzügliche Interpretation macht Lust auf die Lektüre dieses und anderer Texte (und lässt den Wunsch aufkommen, die Verfasserin möge doch unbedingt eine Neuausgabe der Komödie besorgen ...).

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Das Verdienst der Auswertung ganz neuen Textmaterials kommt auch dem Beitrag von Kerstin Barndt über Irmgard Keun zu. In diesem Fall handelt es sich um die Rekonstruktion der öffentlichen Diskussion, die Keuns Erstlingsroman Gilgi – eine von uns, der sie über Nacht berühmt machte, in der Presse auslöste, nicht zuletzt durch den Neuabdruck des Romans im SPD-Organ Vorwärts. Was zunächst eine gezielte Strategie des Blattes war, weibliche Leserschaft im Angestelltenmilieu zu werben, gab zu einer der erstaunlichsten Literaturdebatten in der Weimarer Republik Anlass. Barndt zeigt, wie der Roman von SPD und KPD im Kampf um weibliche Wählerstimmen funktionalisiert wurde und wie verschiedene Frauenkonzepte zugleich mit bestimmten Politikvorstellungen und Literaturbegriffen korrelierten. In einem zweiten Schritt versucht Barndt die Textelemente zu bestimmen, die für den großen Erfolg bestimmend waren. Unter Rekurs auf die Typologie von Helmuth Lethen 2 erblickt sie in der Vereinigung von ›kalter persona‹ und ›Kreatur‹ in der Romanheldin die entscheidende Voraussetzung dafür, dass diese sich als Identifikationsfigur für das zeitgenössische weibliche Publikum anbieten konnte. Diese These einer Kombination von ›Sachlichkeit‹ und ›Sentiment‹, mit der Barndt auch an ihre Dissertation anknüpft, 3 ist überzeugend. Ob allerdings der Rekurs auf die in der angloamerikanischen Filmwissenschaft beliebte – aber bereits dort offensichtlich ungenügend reflektierte 4 – Kategorie des ›Melodramas‹ beziehungsweise des ›Melodramatischen‹ ein großer Gewinn ist, erscheint eher zweifelhaft. Gerade die Ausführungen zum Kunstseidenen Mädchen, deren textinterne Referenz auf den zeitgenössischen Film einen solchen Rekurs nahe zu legen scheint, zeigen, dass die äußerst vage Definition 5 des Begriffs einer präzisen Konturierung der Problematik eher hinderlich ist. Diese Kritik tangiert aber nicht die richtige Grundthese als solche.

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Die Marginalisierten

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Drei der systematischen Beiträge widmen sich einzelnen Gattungen, die in der Germanistik eher ein Schattendasein führen: dem weiblichen Expressionismus, der literarischen Reportage und der Kinder- und Jugendliteratur.

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Hartmut Vollmer, dem wir bereits die wohl materialreichste Studie zum Roman der 1920er Jahre verdanken, 6 widmet sich den vergessenen expressionistischen Dichterinnen und plädiert für eine Korrektur an der gängigen Literaturgeschichtsschreibung, die sich in Bezug auf die weibliche expressionistische Produktion als »Geschichte des Vergessens, des Übersehens und Mißachtens« (S. 39) darbietet. Diese Unterschlagung ist umso auffälliger, als der Expressionismus im Allgemeinen als eine der besterforschten literarischen Strömungen gelten darf; sie setzt allerdings bereits in der Epoche selbst ein – Kurt Pinthus’ bekannte Anthologie Menschheitsdämmerung (1920) verzeichnet gerade mal eine Autorin: Else Lasker-Schüler. Letztlich geht es auch, wie Vollmer darlegt, um eine Revision und ›Dekonstruktion‹ unserer genderkonnotierten Sicht auf den Expressionismus als literarische Rebellion junger Männer. Der Anspruch, anhand zweier (von ihm selbst bereits edierter) Anthologien von Lyrik und Prosa 7 den weiblichen Expressionismus als »ein kollektives, geschlechtsspezifisches ästhetisches Phänomen« (S. 47) zu rekonstruieren, bleibt zwar ein wenig Postulat, da der Großteil der geltend gemachten Merkmale wohl auch auf die Produktion der männlichen Kollegen zutreffen dürfte, doch gelingt Vollmer jedenfalls der beeindruckende Nachweis, dass hier innovative Ausdrucksformen geschaffen wurden, die dann in den zwanziger Jahren als expressionistisches Erbe weiterwirkten.

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Mit der literarischen Reportage, die im Weimarer Literaturbetrieb und zumal im Zeichen der neusachlichen Programmatik zum regelrechten Leitbild literarischer Produktion avanciert, behandelt Erhard Schütz eine weitere, auch für Autorinnen wichtige Gattung. Aufgrund einer geschlechtsspezifischen Codierung, die das »Feuilleton« mit den typischen ›Frauenthemen‹ (wie Mode, Luxus, Erziehungs- und Stilfragen) den Frauen, die »Reportage« im engeren Sinn als Tatsachenbericht hingegen den Männern zuordnete, herrschte allerdings eine »genderkonnotierte Spannung zwischen Unterhaltung und Aufklärung« (S. 221). Schütz stellt zahlreiche vergessene Reporterinnen vor und geht abschließend näher ein auf eine der wenigen, die es zu einer, wenn auch bescheidenen, Präsenz im kollektiven Gedächtnis gebracht haben: Gabriele Tergit, seinerzeit prominent geworden durch ihre Gerichtsreportagen für das Berliner Tageblatt und ihre Romansatire auf das Presse- und Marketingwesen der modernen massenmedialen Konsumgesellschaft, Käsebier erobert den Kurfürstendamm.

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Birte Tost beschreibt in ihrem ebenfalls sehr informativen Artikel über die Kinder- und Jugendliteratur das Auftreten des ›Neuen Mädchens‹ um die Mitte der zwanziger Jahre als fundamentalen Paradigmenwechsel. Als Parallelerscheinung zur ›Neuen Frau‹ übernimmt das ›Neue Mädchen‹ zahlreiche Attribute derselben in modifizierter Form und tritt die Nachfolge der zahmen Backfische der traditionellen Mädchenliteratur an. Mit der spielerischen Erprobung neuer Verhaltensweisen bis hin zur Umkehrung traditioneller Geschlechterhierarchien werden neue Leitbilder für die nachwachsende Mädchengeneration entworfen. Der sich vollziehende Wert- und Normenwandel bezüglich Familie und Geschlechterkonzeptionen lässt sich, soviel wird deutlich, geradezu exemplarisch anhand dieser Literatur rekonstruieren und dokumentieren.

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Mythen der
Literaturgeschichtsschreibung

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In ihrem Beitrag über die wichtige Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem signifikanten Anstieg weiblicher literarischer Produktion und der dominanten Strömung der Neuen Sachlichkeit stellt Sabina Becker die These einer grundsätzlichen »Affinität zwischen der neusachlichen Programmatik und einer spezifisch weiblichen Ästhetik« (S. 188) auf. Die Forderung nach Aktualität, Authentizität und Gegenwartsnähe, die zu einer Nivellierung der Grenzen zwischen hoher Literatur und Unterhaltungsliteratur führte, habe den »Grundstein« (S. 188) für die Zunahme weiblicher Schriftstellerei gelegt, die sich zu einem Großteil im neu definierten Genre des populären Romans ansiedelt; zentrale Programmpunkte wie Antipsychologismus, Entindividualisierung und Entsentimentalisierung boten den Frauen darüber hinaus die Chance, sich traditionellen Zuschreibungen und Codierungen weiblicher Autorschaft zu entledigen. So plausibel diese These ist, die sich auch auf die von Helga Karrenbrock zitierten neusachlichen Selbstpositionierungen stützen kann (etwa der von Erika Mann), so problematisch ist sie, wenn sie, wie hier der Fall, mit einer reduktionistischen Auffassung von Neuer Sachlichkeit einher geht, die sich ausschließlich an den – naturgemäß oft sehr plakativen – theoretischen programmatischen Äußerungen der Zeitgenossen orientiert und diese einfach reproduziert. Wenn Becker etwa behauptet, bei männlichen Autoren (wie u.a. Kästner, Fallada, Kesten) finde sich öfter ein Rückfall in ›Romantizismen‹, während »Autorinnen in der Regel das Sachlichkeitsgebot sowohl thematisch als auch ästhetisch durch[halten]« (S. 192), dann konstruiert sie nicht nur eine Geschlechterpolarität, die einer rationalen empirischen Prüfung wohl kaum standhalten dürfte, sondern sie wird den Werken und deren komplexer Kombination von Sachlichkeit und Sentimentalität (wie exemplarisch in diesem Band Barndt anhand von Keuns Gilgi zeigt) nicht gerecht und fällt hinter den insbesondere von Helmut Lethen und Martin Lindner formulierten Forschungsstand zurück. 8 Generell neigt die Verfasserin zu plakativen und grob schematisierenden Urteilen, so unter anderem mit der Behauptung über die Frauenfiguren von weiblichen Autoren: »Ihre Frauenfiguren sind anders, sie sind keine Girls oder Flappers, die Romane führen autonome, emanzipierte Frauen vor […]« (S. 203) – womit sie die Ambivalenzen und Brüche in den literarischen Entwürfen der ›Neuen Frau‹ unterschlägt, die andere Studien sich aufzuzeigen bemüht haben. 9 Die Ausführungen über die »Beobachtung« als poetologische Kategorie basieren auf einer verblüffend naiven Realismuskonzeption, die die zeitgenössische Programmatik wiederum 1:1 reproduziert. So erfahren wir von Irmgard Keun:

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Irmgard Keun z.B. verfügt über außerordentliche Qualitäten des Beobachtens; die Wirklichkeit und Mentalität der jungen Frauengeneration, die sie in ihren beiden Romanen Gilgi – eine von uns und Das kunstseidene Mädchen porträtiert, kannte sie aus eigener Kenntnis, Anschauung und Beobachtung. (S. 211)
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Doch dem nicht genug. Das Bedürfnis, die neusachliche Programmatik kurzerhand mit ›moderner Weiblichkeit‹ zu identifizieren, verführt die Verfasserin dazu, den Geschlechterkampf in neusachliche poetologische Diskussionen hineinzuprojizieren und dergestalt einen neuartigen heimlichen Geschlechteressenzialismus zu produzieren. Auktoriale Erzählverfahren erscheinen auf dieser ideologischen Matrix nicht nur als ›traditionell‹, sondern gar als ›männlich‹, und eine zitierte Kritik Fleißers an Kleists auktorialer Erzählweise in seinen Novellen wird demzufolge als »Abwehr männlich diktierter Rollen und Rollenerwartungen Frauen gegenüber« (S. 213) gelesen. Damit gerät Becker freilich in die Nähe einer ›genderisierten mythologischen‹ Literaturgeschichtsschreibung und setzt sich von den anderen, überaus historisch differenziert argumentierenden Beiträgen dieses Bandes leider ab.

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Die ›Neue Frau‹ und
ihr ›Schicksal‹ nach 1933

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Wenngleich in den letzten Jahren mit einer Flut von Veröffentlichungen bedacht, darf in einem solchen Band die ›Neue Frau‹ nicht fehlen. Barbara Drescher zeichnet den schwierigen Prozess der Durchsetzung neuer Frauenkonzepte nach, die zunächst von verschiedener – konservativer, bürgerlich-feministischer wie linker – Seite aus gleichermaßen angegriffen wurden, wobei mit der ›Neuen Frau‹ immer auch die moderne Gesellschaft der Weimarer Republik zur Disposition stand. So diskrepant das Konstrukt der jungen, aufstrebenden, traditionsungebundenen und respektlosen Angestellten zur faktischen Realität schlechtbezahlter, unsicherer Anstellungen war, so war ihm nichtsdestoweniger ein gewaltiges emanzipatorisches Potenzial inhärent, wobei zumal den Romanen eine zentrale Funktion bei der Verbreitung und Akzeptanz neuer Frauenbilder zukam. Hierüber dürfte allgemein Konsens bestehen. Der Vergleich dreier exemplarischer Romane nach dem jeweiligen »Emanzipationspotential« (S. 183) der Hauptfigur – Baums stud. chem. Helene Willfüer, Keuns Gilgi – eine von uns, Brücks Schicksale hinter Schreibmaschinen – erweist sich als nur bedingt fruchtbar. So ist etwa Brücks Heldin allein über den Kontrast zu Baums Heldin, die in der Synthese von progressiven (u.a. Karriere) und traditionellen (u.a. Mutterschaft) Elementen als Superfrau modelliert wird, kaum adäquat begreifbar, sondern nur durch die Einbeziehung anderer zeitgenössischer Romane, handelt es sich doch bei der pessimistischen Geschichte des im (Beinahe-)Tod endenden sozialen Abstiegs um ein zeittypisches narratives Modell, das weder auf weibliche Autoren (z.B. Schnitzlers Therese. Chronik eines Frauenschicksals) noch auf weibliche Figuren (u.a. Kästners Fabian, Brunngrabers Karl und das 20. Jahrhundert) beschränkt ist. Hier stößt eine quasi ›endogene‹, konsequent auf weibliche Autoren und Helden beschränkte Literaturbetrachtung an deutliche Grenzen.

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Der Band schließt mit einem Beitrag von Sabine Rohlf über das Schicksal der ›Neuen Frau‹ in der Literatur nach 1933. So sehr diese Zäsur einerseits von außen diktiert ist und als Folge von Zensur und Gleichschaltung erscheint (die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« von 1938, auf der praktisch sämtliche erwähnte Autorinnen figurierten, wird auszugsweise als Faksimile wiedergegeben), so gilt doch andererseits, dass bereits seit Anfang der 1930er Jahre ein deutlicher Klimawandel hin zu konservativeren Formen registrierbar ist. Rohlf präsentiert vier Beispiele von Reaktionen auf die neue politische Situation – Seghers, Rühle-Gerstel, Keun und die lesbische Dramatikerin Christa Winsloe – und vergleicht sie im Hinblick sowohl auf die Selbstpositionierung der Autorinnen als auch auf die literarische Gestaltung der ›Neuen Frau‹. Als Fazit hält sie fest, »dass die Kritik und Umarbeitung der hierarchischen Opposition der Geschlechter nach 1933 keineswegs vollständig verschwanden, sondern unter den erschwerten Bedingungen des Exils weitergeführt wurden.« (S. 276)

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Damit ist die Frage nach den eventuellen literarischen Traditionslinien und Kontinuitäten über 1933 hinaus gestellt, die nicht nur unter speziellen gender-Aspekten, sondern generell zu stellen wäre. 10 Für diesbezügliche weitere Anschlussforschungen im Bereich der weiblichen literarischen Produktion jedenfalls gibt dieser Band, der insgesamt nicht nur eine solide Aufarbeitung seines Gegenstandes, sondern darüber hinaus zahlreiche neue Einsichten bietet sowie neue literarische und theoretische Texte erschließt, überaus reiche Impulse.



Anmerkungen

Marianne Wünsch: Das Modell der ›Wiedergeburt‹ zu ›neuem Leben‹ in erzählender Literatur 1890–1930. In: Karl Richter / Jörg Schönert (Hg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Walter Müller-Seidel zum 60. Geburtstag. Stuttgart: Metzler 1983, S. 379–408; Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994.   zurück
Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1994, S. 40–44.   zurück
Kerstin Barndt: Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik (Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Große Reihe 19) Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003.   zurück
So scheint z.B. völlig ungeklärt, ob damit eine spezifische historische Gattung oder eine isolierbare (ahistorisch konzipierte) Teilstruktur in Texten beliebiger Gattungen und beliebiger Epochen gemeint sei. Beide Bestimmungen gehen durcheinander.   zurück
Nach den angeführten definitorischen Merkmalen (vgl. S. 148, 151) ließe sich z.B. ein Gutteil der realistischen Romane oder Novellen problemlos zu ›Melodramen‹ uminterpretieren.   zurück
Hartmut Vollmer: Liebes(ver)lust. Existenzsuche und Beziehungen von Männern und Frauen in deutschsprachigen Romanen der zwanziger Jahre. Erzählte Krisen – Krisen des Erzählens (Literatur- und Medienwissenschaft 66) Oldenburg: Igel 1998.   zurück
Hartmut Vollmer (Hg.): »In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod«. Lyrik expressionistischer Dichterinnen. Zürich: Arche 1993. Hartmut Vollmer (Hg.): Die rote Perücke. Prosa expressionistischer Dichterinnen. Paderborn: Igel 1996. Siehe auch: Henriette Hardenberg: Dichtungen. Hg. von Hartmut Vollmer. Zürich: Arche 1988; Henriette Hardenberg: Südliches Herz. Nachgelassene Dichtungen. Hg. von Hartmut Vollmer. Zürich: Arche 1994.   zurück
Martin Lindner (Anm. 1); Helmut Lethen (Anm. 2) und H. L.: »Der Habitus der Sachlichkeit in der Weimarer Republik«. In: Bernhard Weyergraf (Hg.): Literatur der Weimarer Republik 1918–1933 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 8) München: dtv 1995, S. 371–445.   zurück
Stellvertretend seien genannt: Heide Soltau: Trennungs-Spuren. Frauen-Literatur der zwanziger Jahre. Frankfurt / Main: Extrabuch-Verlag 1984, oder Hartmut Vollmer (Anm. 6).   zurück
10 
Siehe neben Martin Lindner (Anm. 1) neuerdings: Gustav Frank / Rachel Palfreyman / Stefan Scherer (Hg.): Modern Times? German Literature and Arts Beyond Political Chronolgies / Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955. Bielefeld: Aisthesis 2005.   zurück