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Matthias Flacius Illyricus, die Bücher und
das Mittelalter

  • Martina Hartmann: Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters. (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 19) Ostfildern: Jan Thorbecke 2001. 328 S. 10 Abb. Gebunden. EUR 40,00.
    ISBN: 3-7995-5719-9.
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Flacius als Büchersammler:
ein unbearbeitetes Feld

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Der aus Kroatien stammende Lutherschüler Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) ist der (protestantischen) Theologie und den Geschichtswissenschaften ein Begriff als »Vater« der Kirchengeschichte. 1 In Wissenschaftstheorie und Philosophie hat er seit Wilhelm Dilthey seinen Platz als »Begründer der modernen Hermeneutik« (S. 16). 2 Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses der Mediävistik und / oder der Frühneuzeitforschung stand der orthodoxe Lutheraner jedoch trotz dieser ›Ehrentitel‹ nie. 3

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Man war sich, so Martina Hartmann, viel eher einer Meinung »im Verschweigen seiner wissenschaftlichen Leistungen« (S. 22). So wurde weniger bekannt, dass Flacius auch als »one of the brightest and strongest bibliophiles of all time« 4 gelten kann. Denn er trug im Lauf seines Lebens eine umfangreiche Bibliothek mit zahlreichen mittelalterlichen Handschriften zusammen. Bereits seine Büchersammlung allein belege hinreichend, dass »[...] im 16. Jahrhundert niemand so viel über das Mittelalter gelesen hatte, wußte und an eigenen Quellenforschungen betrieben hat wie der kroatische Humanist und Theologe [...]« (S. 22).

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Im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses am Büchersammler Flacius stand aber lange Zeit nicht seine Sammlung selbst, sondern viel eher die Modalitäten ihres Zustandekommens, wobei in diesem Zusammenhang die Legende vom »culter flacianus« berühmt wurde, dem gefürchteten Messer, mit dem Flacius in Bibliotheken Handschriften verstümmelt haben soll. 5

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Eine systematische Untersuchung, welche mittelalterlichen Texte Flacius sammelte, gibt es bislang nicht,

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[...] obwohl die nach Humanistenart betriebenen kirchengeschichtlichen Forschungen des Matthias Flacius Illyricus bis dahin nicht gekannte Dimensionen annahmen, was Bibliotheksreisen, Korrespondenz, Versendung von Handschriften, Verkauf von Codices sowie Kopier- und Drucktätigkeit anbelangt. (S. 19)
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Ansatz und Arbeitsprogramm

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Die Studie von Martina Hartmann (Habilitationsschrift Regensburg 2000) versucht, diese Lücke zu schließen. Sie zielt ihrem Ansatz nach auf eine Bearbeitung der Frage aus schwerpunktmäßig quellenkundlicher Perspektive (vgl. S. 19). Auf diesem Weg möchte sie ein Bild von Flacius als »Handschriftensammler und Editor« (S. 20) erarbeiten und am Ende seine Bedeutung für die frühneuzeitliche Erforschung des Mittelalters neu ermessen können. Die großen kirchengeschichtlichen Arbeiten, der Catalogus testium veritatis (Basel 1556, 2. Aufl. Straßburg 1562) 6 und die von Flacius mitinitierten Magdeburger Centurien (Basel 1559–1574) 7 bilden dabei für ihre Untersuchungen die zentrale, aber nicht ausschließliche Grundlage.

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Hartmanns Darstellung setzt ihrer Methode und Zielsetzung entsprechend umfassender an. Zu ihrem Arbeitsprogramm gehören nach einer knappen Einleitung (S. 13–22),

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• der geistesgeschichtliche Hintergrund von Flacius’ Wirken (S. 23–46),

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• die Vorbereitungen der kirchengeschichtlichen Arbeiten (S. 47–52),

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• sein Briefwechsel und seine Helfer bei der Handschriftenbeschaffung (S. 53–79),

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• die Rekonstruktion seiner Bibliothek (S. 80–115),

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• seine Tätigkeit als Editor und Übersetzer spätantiker und mittelalterlicher Quellen (S. 116–140),

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• die Verarbeitung mittelalterlicher Quellen im Catalogus testium veritatis (S. 141–197) und

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• zwei kurz gefasste Abschnitte zu seiner Bedeutung für die Magdeburger Centurien (S. 198–208) und für die Erforschung des Mittelalters insgesamt (S. 209–220).

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Zwei umfangreiche Anhänge ergänzen den darstellenden Teil um wichtige, zum Teil erstmals hier vorgelegte Materialien (S. 221–309, s. dazu unten). Insgesamt ist die vorgelegte Studie, um es bereits an dieser Stelle vorwegzunehmen, ein grundlegender Beitrag, auf den künftig nicht nur die historische, philologische und theologische Flacius-Forschung mit Gewinn zurückgreifen wird, sondern in dem auch beispielsweise eine Sozialgeschichte des frühneuzeitlichen Buchwesens oder eine Wissenschaftsgeschichte der Mediävistik einen exemplarischen »Fall« finden könnte. 8

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Suchen und Finden: Vorarbeiten zu den kirchengeschichtlichen Werken

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Hartmann skizziert zunächst in unprätentiöser Weise zentrale Aspekte des geistesgeschichtlichen Hintergrunds, in dem Flacius als »Humanist« und »Kirchenkritiker« – so die großen Schlagworte des Buchtitels – zu verorten ist. Dabei geht sie insbesondere ein auf die bereits vor Flacius im Druck publizierten Editionen mittelalterlicher Quellen durch deutsche Humanisten (S. 23–27), auf die vorreformatorischen historiographischen Werke und auf das Geschichtsbild Luthers (S. 27–31), auf Melanchthons Rolle bei der Integration der Geschichte in den akademischen Unterricht (S. 32–36), auf die Rolle des Buchdrucks und auf den Aufbau von Bibliotheken (S. 36–40), auf die kompendienhafte Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts zur Erfassung des Schrifttums (S. 40–43), auf die Rolle der Volkssprache in der Wissenschaft (S. 43–45) und in der gelehrten Korrespondenz im 16. Jahrhundert (S. 45 f.).

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In einem zweiten Schritt stellt sie dar, wie Flacius bei der Vorbereitung seiner kirchengeschichtlichen Arbeiten, bei den Centurien und bei ihrer »Vorstufe« (S. 47), dem Catalogus, vorging. Flacius blieb nicht bei den Wissensbeständen der frühneuzeitlichen Schriftstellerkataloge (Trithemius, Gessner) stehen, sondern sie bilden für ihn lediglich Ausgangs- und ersten Anhaltspunkt seiner weiteren Quellensuche. Anhand einer Suchliste, die Flacius aus ihnen zusammenstellte, weist Hartmann exemplarisch Bücher nach, die offenbar bereits in seinem Besitz waren beziehungsweise von denen er Kenntnis besaß und nach welchen weiteren er suchte / suchen ließ.

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Gelehrtes Netzwerk: Der Briefwechsel
mit Helfern und Gönnern

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Kapitel III zeigt, wie eng Flacius in ein personelles Netzwerk eingebunden war, das man als »übernationale Gelehrtenkooperation« (S. 71 f.) beschreiben kann. Hartmann arbeitet dabei zum einen die große Bedeutung Caspar von Nidbrucks (S. 57–61) als finanziellen Förderers heraus:

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Dies war die Ressource, mit der Flacius seine große Bibliothek finanzierte. Anders ist nicht zu erklären, daß ein ›armer Wanderprediger‹ wie der Illyricus eine solche Bibliothek zusammentragen konnte. (S. 61)
[24] 

Weiterhin betont sie die wichtige Rolle von Helfern bei der Beschaffung von Handschriften (Ottheinrich von der Pfalz, Ulrich Fugger, Marcus Wagner, S. 62–65), von nicht nur in konfessionellem Sinne verbündeten Gelehrten (Johannes Wigand, John Bale, Matthew Parker, Georges Cassandre, Cornelius Wouters, S. 65–74) und der Drucker / Verleger seiner Werke (Johannes Oporinus, Petrus Perna, S. 75–79).

[25] 

Hartmann schafft dann in einer Bestandsaufnahme zur Überlieferungssituation der flacianischen Korrespondenz und zu den bisherigen Editionen von Flacius-Briefen (S. 53–57) die Voraussetzungen für eine künftige, vollständige und kritische Ausgabe der flacianischen Korrespondenz, die »[...] sinnvollerweise aber nur als Gemeinschaftsarbeit von Theologen, Neuhistorikern und Mediävisten unternommen werden [...]« (S. 55) könnte. Sie würde – ließe sie sich einmal realisieren – einen der entscheidenden Bausteine für eine neu aus den Quellen zu erarbeitende Flacius-Biographie bilden. 9

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Sammeln:
Die flacianische Bibliothek

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Das Besondere der flacianischen Bibliothek, die mehr als 700 Drucke und an die 200 Handschriften umfasste, liegt darin, dass sie noch heute in ihren größten Teilen geschlossen in der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel aufbewahrt wird. Zumindest für den Handschriftenbestand sind die Bedingungen für ihre Erforschung damit vergleichsweise sehr gut.

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Hartmann nutzt diese Chance, indem sie zunächst das Schicksal der Bibliothek nach Flacius‘ Tod bis zur Übernahme in die Herzog August-Bibliothek (S. 82–85) rekonstruiert. In einem Abschnitt zur Geschichte der Erforschung der Bibliothek (S. 86–98) klärt sie die Frage der Transferierung des Großbestandes an Flacius-Handschriften nach Wolfenbüttel und einiger vereinzelter Handschriften in andere Bibliotheken.

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Dabei korrigiert und ergänzt sie insbesondere die teilweise nicht mehr aktuellen Angaben der Kataloge Otto von Heinemanns hinsichtlich der Zuschreibungen zur flacianischen Bibliothek. Sie klärt auch die noch bis in jüngste Forschungsbeiträge umstrittene Frage nach den autographen Schriftzügen von Flacius. Als nachprüfbare Belege gibt sie acht Abbildungen aus Handschriften, die die Schriftzüge von Flacius und vor allem seines engsten Mitarbeiters Marcus Wagner deutlich voneinander unterscheidbar machen. 10

[30] 

Die handschriftlichen Züge von Flacius bilden dabei freilich nicht das alleinige Kriterium für die mögliche Zugehörigkeit zu seiner Bibliothek, sondern auch andere »Benutzungsspuren« (S. 99) wie Einband, nichtautographe Besitzvermerke (z.B. Marcus Wagner), Inhaltsangaben oder ein sporadisch inseriertes, aber längst nicht kontinuierlich durchgehaltenes Signatursystem. Anhang I (S. 221–258) bietet auf dieser Grundlage einen

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detaillierten Katalog aller bis heute der flacianischen Bibliothek zugewiesenen Handschriften, ausgehend von den Angaben Heinemanns und bisweilen auch erst von späteren Forschern, wobei die Kriterien, nach denen ein Codex die Herkunftsbezeichnung ›flacianisch‹ erhielt, kurz genannt werden. (S. 88)
[32] 

An dieser Stelle sind alle Handschriften verzeichnet, die mutmaßlich Bestandteil der flacianischen Bibliothek im Jahre 1575 gewesen sind (S. 221–251). Separat aufgeführt sind auch von Flacius wieder verkaufte Handschriften (S. 251 f.), nachweislich oder vermutlich verlorene Handschriften (S. 252 f.) und einige Drucke, »überwiegend zur mittelalterlichen (Kirchen)geschichte« (S. 115), die sich aus dem Catalogus als sicher identifizierbarer Bestandteil seiner Bibliothek rekonstruieren lassen.

[33] 

In einer alphabetisch nach Bibliotheksorten sortierten Liste, die als Komplement zu Anhang I zu benutzen ist, klärt Hartmann auf der Grundlage der genannten Kriterien das »Zusammenwachsen der Bibliotheca Flaciana« (S. 99). Aus ihrer Zusammenstellung ergibt sich, dass man nur für etwas mehr als ein Drittel der Handschriften feststellen kann, »[...] woher sie stammen, d. h. unser Bild der vom Illyricus und seinen Helfern besuchten Bibliotheken ist recht lückenhaft.« (S. 112)

[34] 

Für noch weniger Handschriften lässt sich sicher sagen, zu welchem Zeitpunkt Flacius sie in seinen Besitz brachte. Eine Anordnung der Handschriften nach der Chronologie ihrer mutmaßlichen Inbesitznahme durch Flacius oder seine Mitarbeiter würde sichtbar machen, dass die intensivste Sammelphase vor allem, aber nicht ausschließlich in die Vorbereitungsjahre der Magdeburger Centurien (1552–1557) fällt (s. S. 115).

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Edieren und Übersetzen:
Eigenständige Ausgaben

[36] 

Den Abschnitten zu den von Flacius herausgebrachten Editionen sowie zur Quellenverarbeitung im Catalogus sowie den Centurien kommen die Fakten zu gute, die Hartmann in den vorangegangenen Abschnitten erarbeitet hat. In einem chronologisch geordneten Durchzieher zu den selbständigen Ausgaben und den gegebenenfalls zugehörigen deutschen Übersetzungen erläutert sie die Entstehungszusammenhänge und Beziehungen zu Gönnern der Drucke. Als Beispiele, die Hartmann ausführlicher behandelt, seien hier nur die Sammelausgabe der Antilogia papae (Basel 1555), die bis heute nicht vollständig ersetzte Edition der lateinischen Schriften von Jan Hus (Nürnberg 1558) und die Ausgabe von Otfrids Liber Evangeliorum (Basel 1571) genannt. 11

[37] 

Für einige Fälle kann sie die Frage nach den handschriftlichen Vorlagen und ihrer Herkunft klären, mehrfach belegt sie auch die bislang nicht durchweg gesicherte Herausgeberschaft durch Flacius. Ausblickend nennt Hartmann zunächst eine Reihe nicht realisierter Editionsprojekte und fasst kurz die Bedeutung von Flacius als Herausgeber zusammen. Ihre Ausführungen münden auf der Grundlage eines häufig möglichen Vergleichs von Vorlage und Druck in eine grundsätzlich qualitativ hohe Einschätzung seiner editorischen Bemühungen (S. 140).

[38] 

Quellenverarbeitung im Catalogus

[39] 

Derselbe Fragehorizont bestimmt das Kapitel zur Quellenverarbeitung in den beiden Catalogus-Auflagen von 1556 und 1562.

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Zu einer chronologisch und nach den beiden Auflagen getrennt angeordneten Auswahl von testes veritatis, die »[...] für die Analyse seiner (d.h. des Flacius) Arbeits- und Denkweise besonders aussagekräftig sind« (S. 141) sagt Hartmann:

[41] 
Besonderes Augenmerk soll dabei Flacius’ Kenntnis der gedruckten und ungedruckten Werke der mittelalterlichen Autoren gelten sowie möglichen Handschriften aus seinem Besitz, die er noch vor der jeweiligen editio princeps für komplette oder auszugsweise Textwiedergabe benutzte. (S. 146)
[42] 

Aus germanistisch-mediävistischer Sicht ist in diesem Zusammenhang insbesondere zu erinnern an die nur in der zweiten Auflage enthaltenen Praefatio in librum Antiquum lingua Saxonica consscriptum und die Versus de poeta & interprete huius codicis, zwei Stücke, die gewöhnlich mit dem altsächsischen Heliand in Verbindung gebracht werden; ebenso ist zu erinnern an die lateinische Widmungsepistel Otfrids von Weißenburg an Erzbischof Liutbert von Mainz. 12 Hartmann berücksichtigt in ihren Ausführungen außerdem konsequent die Frage nach den forschungsgeschichtlichen Folgen für die Beschäftigung des Flacius mit einem mittelalterlichen Autor.

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Die Untersuchungsergebnisse dieses Kapitels zeigen eindrucksvoll, wie weit Flacius durch seine immense Sammel- und Editionstätigkeit im einzelnen über den Wissensstand der gedruckten Schriftstellerverzeichnisse hinaus kam und so einen Großteil der Materialgrundlage für die Arbeit der Centuriatoren schuf (s. S. 197).

[44] 

Der Abschnitt zu den Magdeburger Centurien hat den Charakter eines Ausblicks und setzt sich nicht zum Ziel, neue Erkenntnisse zu den dort benutzten Quellen zu erarbeiten. Dies könnte aufs Ganze gesehen nur eine eigene Studie leisten. Hartmann perspektiviert aber die vorab gewonnenen Erkenntnisse auch auf die Arbeitsweise der Centurien. Flacius war zwar bekanntlich der »Cheforganisator« (S. 198) des Unternehmens, beteiligte sich aber bei der Abfassung der einzelnen Centurien kaum. Die Centuriatoren stützten sich dabei unter anderem auf selbst angefertigte Bücherinventare, in denen sie für ihre Belange interessante Bestände verschiedener Bibliotheken verzeichneten, und auf Abschriften mittelalterlicher Handschriften.

[45] 

Wie wichtig solche sekundären Kopien sein können, zeigt exemplarisch Anhang II (S. 259–309). In der Abschrift (Wolfenbüttel, HAB 27.9. Aug. fol.) einer heute verschollenen Siegburger Handschrift Ivos von Chartres sind 19 Briefe des 11. und 12. Jahrhunderts erhalten, von denen neun in keinem anderen Textzeugen überliefert sind und von Hartmann erstmals in einer Edition vorgelegt werden (S. 290–309).

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Ertrag und Perspektiven

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Abgerundet wird der schön aufgemachte Band durch ein Verzeichnis der Quellen und Sekundärliteratur, sowie vor allem durch mehrere Register (Personen, Werke, Orte und Handschriften), die das materialreiche Buch gut erschließbar machen.

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Insgesamt sollte man das Buch nicht an dem verlegerisch sicher nicht ungeschickt platzierten Label »Humanismus und Kirchenkritik« messen, das freilich die Matrix für jede Frage nach Flacius bilden muss. Treffender und enger an die Sache gebunden ist der Untertitel »Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters«. Seinem sprachlichen Habitus merkt man bisweilen an, dass es mit der Ordnung der Materialmassen auf der Ebene der Darstellung zu kämpfen hatte. 13 Dies soll aber nicht über den reichen Ertrag der vorliegenden Arbeit hinwegtäuschen. Sie belegt überzeugend, » [...] welch überragende ›Pionierarbeit‹ auf mediävistisch-quellenkundlichem Gebiet Matthias Flacius geleistet hat [...]« (S. 22) und schafft grundlegende Voraussetzungen für jede weitere biographische oder werkbezogene Beschäftigung mit Flacius jenseits einer lange Zeit auch die Forschungsdiskussion prägenden Konfessionspolemik.

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Darüber hinaus ist mit dieser Arbeit eine solide Ausgangsbasis geschaffen, auf der sich weitere Fragen anschließen ließen, beispielsweise nach der Funktionalität von Flacius’ Beschäftigung mit mittelalterlichen Texten oder nach Facetten seines Mittelalterbildes, die unterhalb der Ebenen »Humanismus« und »Kirchenkritik« zu verorten sind. Auch die Aspekte, die sich aus dem arbeitstechnischen, philologischen Umgang mit mittelalterlichen Handschriften ergeben, ließen sich in größere Zusammenhänge gelehrter Praktiken in der frühen Neuzeit integrieren. Die Verbindungslinien, die sich zu einer Geschichte des Büchersammlens und -entleihens sowie zu einer Geschichte der geisteswissenschaftlichen Disziplinen ergeben, wurden bereits genannt.

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So bleibt abschließend zu wünschen, dass der im Vorwort geäußerte Drang der Verfasserin, Flacius »endlich den ihm angemessenen Platz in der Mediävistik zu verschaffen« (S. 12) sich in weiteren, anschließenden und darüber hinausgehenden Untersuchungen erfüllen wird.

 
 

Anmerkungen

So etwa bei Adolf von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. 4. Aufl. Bd. I: Die Entstehung des kirchlichen Dogmas. Freiburg, Leipzig: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1894 (ND Darmstadt: WBG 1964), S. 28, Anm. 2. – Zur Biographie von Flacius vgl. Wilhelm Preger: Matthias Flacius Illyricus und seine Zeit. Zwei Hälften. Erlangen: Bläsing 1859 / 1861. Jetzt ausführlich auch zu Leben und Werk bis 1557: Oliver K. Olson: Matthias Flacius and the Survival of Luther’s Reform. (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 20) Wiesbaden: Harrassowitz 2002. Angekündigt ist von Olson ein zweiter Band unter dem Titel: Matthias Flacius and the Struggle for the Freedom of the Church.   zurück
Dazu jetzt: Denis Thouard, Wie Flacius zum ersten Hermeneutiker wurde: Dilthey, Twesten, Schleiermacher und die Historiographie der Hermeneutik. In: Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Hg. von Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt. (Historia hermeneutica. Series Studia 1) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005, S. 265–279. Vgl. auch die Rezension des Bandes: Kai Bremer: Hermeneutikgeschichtliche Tiefenbohrungen. (Rezension über: Jörg Schönert / Friedrich Vollhardt [Hg.]: Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005.) In: IASLonline [17.05.2006]
URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Bremer311018303X_1447.html (Datum des Zugriffs: 04.12.2006).   zurück
In letzter Zeit ist Flacius immerhin öfter ins Gesichtsfeld der Mediävistik / Frühneuzeitforschung getreten. Ich nenne hier nur das Projekt von Matthias Pohlig (HU Berlin), in dem Flacius eine Rolle spielt (»Konfessionelle Identität – Apokalyptik – Humanismus. Formen und Funktionen der Geschichtsdeutung im deutschen Luthertum [ca. 1546 bis 1617]« URL: http://www.geschichte.hu-berlin.de/site/lang__de/mid__11340/ModeID__0/PageID__358/3509/default.aspx, Datum des Zugriffs: 11.10.2006) und mein eigenes zu »Otfrids Evangelienbuch in der frühen Neuzeit«, in dem ich u. a. die Erstausgabe des Evangelienbuches durch Flacius (Basel 1571) untersuche.   zurück
Ronald Ernest Diener: The Magdeburg Centuries. A Bibliothecal and Historiographical Analysis (Diss. Harvard 1979), S. 378. Diese grundlegende Arbeit steht online zur Verfügung. URL: http://rondiener.com/MCBK01.htm (Datum des Zugriffs: 11.10.2006)   zurück
Vgl. Oliver K. Olson, Der Bücherdieb Flacius. Geschichte eines Rufmordes. In: Wolfenbütteler Beiträge 4 (1981), S. 111–145.   zurück
Die erste Auflage ist vollständig frei im WWW verfügbar. URL: http://www.uni-mannheim.de/mateo/camenahist/autoren/flacius_hist.html (Datum des Zugriffs: 11.10.2006)   zurück
Alle gedruckten Centurien sind online verfügbar. URL: http://www.mgh-bibliothek.de/digilib/centuriae.htm (Datum des Zugriffs: 11.10.2006). Der Katalog einer in Magdeburg und München gezeigten Ausstellung der Monumenta Germaniae Historica (organisiert von Martina Hartmann und Arno Mentzel-Reuters) zu den Centurien ist ebenfalls online greifbar. URL: http://www.mgh-bibliothek.de/etc/dokumente/a130951.pdf (Datum des Zugriffs: 11.10.2006).   zurück
Vgl. als Perspektive dazu etwa das aktuelle IASLonline-Diskussionsforum »Geschichtsschreibung des Buchhandels«, URL: http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/lisforen.htm#buchgesch (Datum des Zugriffs: 11.10.2006).   zurück
Maß aller Dinge ist hier immer noch Wilhelm Preger (Anm. 1).   zurück
10 
Die Legenden zu den Tafeln I und II sind vertauscht.   zurück
11 
Für letzteren Fall fasst Hartmann die Ergebnisse zusammen, die Ernst Hellgardt erarbeitet hatte. Sie gibt aber wichtige weiterführende Hinweise, insbesondere auf einen Brief, der die Entstehungs- und Druckgeschichte der Edition aufhellt (s. S. 77 mit Anm. 166). Vgl. Ernst Hellgardt: ... der alten Teutschen spraach und gottsforcht zuerlernen. Über Voraussetzungen und Ziele der Otfridausgabe des Matthias Flacius Illyricus (Basel 1571). In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hg. von Johannes Janota u.a. Bd. I. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1992, S. 267–286.   zurück
12 
Vgl. zu Praefatio und Versus jetzt: Ernst Hellgardt: Die Praefatio in librum Antiquum lingua Saxonica consscriptum, die Versus de poeta & interprete huius codicis und die altsächsische Bibelepik. In: Entstehung des Deutschen. Festschrift für Heinrich Tiefenbach. Hg. von Albrecht Greule, Eckhard Meineke, Christiane Thim-Mabrey. Heidelberg: Winter 2004, S. 173–230.   zurück
13 
Auch kleinere Versehen wären zu nennen, etwa die falsche Lokalisierung der heutigen Heidelberger Otfridhandschrift (UB, cpl 52) in die Biblioteca del Vaticano (s. S. 81, Anm. 4).   zurück