Gerhard Schmitt

Von Selbstverweis und Selbstbeweis




  • Jens Emil Sennewald: Das Buch, das wir sind. Zur Poetik der »Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm«. (Epistemata Literaturwissenschaft 442) Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 375 S. Kartoniert. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 3-8260-2472-9.


[1] 

A prima vista ...

[2] 

Ein schönes Buch, kompakt, dezenter Einband im Grimm’schen Retrolook, der auch dem energischen Rezensenten-Zugriff widersteht. Allem vorangestellt das bekannte Nietzsche-Zitat vom »unheimlichen Bild des Mährchens [...]«, »das die Augen drehn und sich selber anschaun kann [...]« (S. 5). Der angenehme Eindruck festigt sich beim Durchblättern: ein klares Schriftbild, Zitate und Fußnoten wirken gut gegliedert, die Randglossen, zum Teil Graphiken, laden zum Schmökern ein, in der folgenden Lektüre wünscht man sich sogar, der Verfasser würde seinen roten Faden manchmal stärker über diese Texte laufen lassen. Das Inhaltsverzeichnis scheint auf den ersten Blick wenig informativ. An den Abschnittsbezeichungen »Rahmenbildung«, »Konstruktionen«, »Wechselwirkungen«, »Fuge« lässt sich zunächst keine logotrope Ordnung ablesen, aber das ist gewollt und umreißt bereits hier den poststrukturalistischen Aufbau der vorliegenden Textur. Das angefügte Literaturverzeichnis erscheint gut sortiert, ein Namen- und Sachregister, das die Navigation im Buch erleichtern würde, fehlt leider.

[3] 

Die Aufgabenstellung

[4] 

Einer Klarheit der Darstellung verpflichtet, die er nahezu über das ganze Buch durchhält, umreißt Sennewald die Fragestellung seiner Arbeit:

[5] 
Die folgende Untersuchung [...] wird geleitet von der Frage, wie die Märchen in diesem Buch [der KHM – GS] funktionieren, welche para- und intertextuellen Wechselwirkungen sie bestimmen und wie dieses Text-Geflecht ein philologisches Wissen zur Darstellung bringt, das als Wissen vom Menschen gelesen worden ist. (S. 13)
[6] 

Weiter unten (S. 15) zugespitzt: »Welchen Einfluss hatte die Form der Sammlung auf ihren Erfolg?« Bei der Annäherung an diese Fragestellung geht Sennewald von zwei Hypothesen aus:

[7] 
Die erste Hypothese ist, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Gestalt des Buchs und seiner Wirkungsgeschichte. (S. 15)
[8] 

Die zweite Hypothese ergibt sich aus der Annahme einer Bedeutung der Märchen »als anthropologischer Gegenstand« (S. 17), »deren Wertschätzung als ›Zeugnis‹ [...] nur vor dem Hintergrund der Grimm-Sammlung möglich geworden« (S. 17) ist.

[9] 
Die zweite Hypothese dieser Arbeit ist, dass auch dieser Umgang mit den KHM durch ihre spezifische Gestalt ausgelöst oder zumindest ermöglicht worden ist. (S. 17)
[10] 

Die Bewertung der Märchen als anthropologischer Gegenstand, die zu weich gezeichnet erscheint – denn welche literarischen Texte von Relevanz wären das nicht? – lässt Sennewald die Titelformulierung für das Buch finden:

[11] 
Die KHM stellen ein »Buch, das wir sind« dar. Dieser Titel ist mehrdeutig; »wir« lässt sich nicht nur auf das »Volk«, aus dem die Märchen stammen sollen, beziehen, sondern auch auf jenes, dem sie »erst sollen gegeben werden«. Und schließlich begreift das »Buch, das wir sind« auch jene mit ein, die es herausgegeben haben, denn es handelt sich um die Brüder Grimm, die auch in den Vorreden sich als »wir« präsentieren. Die leitende Frage der folgenden Arbeit ist also: Durch welche spezifische Poetik werden die ›Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm‹ wahrnehmbar als »Buch, das wir sind«? (S. 21)
[12] 

Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass sich die von Sennewald angemerkte Mehrdeutigkeit des Titels in einer Unschärfe niederschlägt, die er bis zum Ende des Buches nicht schlüssig auflösen kann. Sie beschränkt sich nämlich nicht nur auf die wirkungsästhetischen Produzenten und Reproduzenten, die durch das Personalpronomen ›wir‹ repräsentiert werden, sondern äußert sich auch an dem Substantiv ›Buch‹, das er in dem angeführten Zitat mit drei verschiedenen Artikeln kombiniert. Muss sich der Leser nun als ›das Buch‹, ›ein Buch‹ oder nur ›Buch‹, »das wir sind« verstehen? Gibt es im Spiegel des von Sennewald beschrittenen Deutungsprozesses überhaupt noch die Option, ›ein Buch‹ unter ›vielen‹ anderen sein zu können? Oder soll der buchartige Charakter des Menschen (im Sinne Novalis’) durch den kategorisierenden Nullartikel bezeichnet werden?

[13] 

Der theoretische Hintergrund

[14] 

In diesen Fragen erhebt sich das Interesse an dem theoretischen Hintergrund, vor dem Sennewald seine Darstellung entwickelt. Mit dem Nietzsche-Zitat hatte Sennewald seine Arbeit unter ein Motto gestellt, das die analysierten Texte unter dem Aspekt ihrer Selbstreferentialität behandelt. Das Märchen ist ein Text, »[das] die Augen drehn und sich selber anschaun kann [...]« (S. 5). Es kann sich also selbst zum Gegenstand seiner Anschauung nehmen, was eine Selbst-Distanzierung voraussetzt, die nur durch eine innere Differenzierung herzustellen ist. Diese innere Differenz der Schrift hatte sich schon im Inhaltsverzeichnis niedergeschlagen, das mit den bereits angeführten Abschnitten »Rahmenbildung«, »Konstruktionen«, »Wechselwirkungen« und »Fuge« die Stationen einer textuellen und argumentativen Dynamik folgerichtig verzeichnet, die ihrerseits die Rezeption des Lesers strukturiert. Sennewald bezeichnet diese Stationen innerhalb seines Textes als ›diskursive Formation‹:

[15] 
Es muss also ein Vorgehen gefunden werden, das die Verfasstheit des Buches »KHM« mit äußerster Genauigkeit zu beschreiben erlaubt, ohne in der detaillierten philologischen Untersuchung stecken zu bleiben. Vielmehr soll dieses Vorgehen nachvollziehbar machen, wie die diskursive Formation der KHM in deren Verfassung eingeschrieben ist. Diese reziproke Beziehung der Text-Konstruktion und die damit verbundenen Implikationen offenzulegen, ist in der vorliegenden Arbeit durch ein Vorgehen versucht worden, das mit den Begriffen Lektüre, Beschreibung und Anordnung näher bestimmt werden soll. (S. 22)
[16] 

Die Darstellung dessen, was Sennewald als ›reziproke Beziehung der Textproduktion‹ beschreibt und was oben als Verhältnis von innerer Differenz und Selbst-Distanz erkannt wurde, soll »[...] ausgehend von Derridas Überlegungen zur Schrift und deren Stellenwert im Abendländischen Denken problematisiert [werden]« (S. 22). »Dessen Methode der Dekonstruktion wurde zur Basis für die Überlegungen zur Poetik der KHM und deren Ausarbeitung« (S. 22).

[17] 

Bei dieser Ausarbeitung geht Sennewald von ausgewählten Märchen aus, die er im Sinne von Foucaults Epistemologie als Tableaus bezeichnet und verwendet. »Drei Eigenschaften waren methodisch von Bedeutung« (S. 27):

[18] 
Erstens: [...] Die Tableaus bilden Knoten im Verlauf der nachvollziehenden Lektüre.
[19] 
Zweitens: Die Tableaus dienen zur Anordnung der Beschreibung. Auf diese Weise konnte durch die Beschreibung der Lektüren einerseits äußerst detailliert auf die einzelnen Texte eingegangen und andererseits deren Verwebung mit und in der »diskursiven Formation« beschrieben werden. So wurde es möglich, vom einzelnen Märchentext aus eine Poetik der KHM zu beschreiben und zugleich darzustellen, dass die poetischen Funktionen der KHM sowohl aus spezifischen Wendungen und Figuren im Text bestehen, als auch durch deren Einbettung in bestimmte Kontexte bestimmt werden, die im Tableau benennbar und in ihrer Wirkung darstellbar sind.
[20] 
Drittens: Die Tableaus gehen der Beschreibung voraus, indem sie die Lektüre strukturiert haben, und sie sind Folge der Beschreibung, indem durch sie erst bestimmte Ergebnisse benennbar werden, die wiederum in der Anordnung mit den Tableaus dargestellt sind. Sie vollziehen auf einer strukturellen Ebene die Prinzipien der Poetik der KHM nach. (S. 27 f.)
[21] 

Die Auswahl dieser Märchen-Tableaus erfolgt nicht willkürlich, sondern sie ist von dem Ziel geleitet, die von den Grimms vermittelte Imagination einer objektiven natürlichen »Referenzstruktur« (S. 25) als subjektives, von den Grimms verfasstes Artefakt erkennbar werden zu lassen.

[22] 
Entscheidend für die KHM ist, dass die künstlerische Leistung der Verknüpfung verschoben wird. Sie erscheint nicht als literarische Meisterleistung der Brüder Grimm, sondern als Darstellung verborgener Wirkungen »der Poesie«. (S. 25)
[23] 

Nunmehr als subjektive Artefakte in den Blick gefasst, kann Sennewald seinerseits einer Referenzstruktur folgen, in der »[...] performativ Texthandlung und Textbehandlung ineinander verschlungen sind [...]« (S. 140). Involviert in dieses Verschlungensein von Dichtung und Edition liest Sennewald die ›spezifischen Wendungen und Figuren im Text‹ (S. 27) als Metaphern, die sowohl auf den Ebenen der unmittelbaren ›Texthandlung‹ als auch der ›Textbehandlung‹ zu lesen sind. Er vollzieht für sich selbst, was er in seiner Märchenlektüre bei den Grimms festgestellt hat: »Die Verwendung der Metaphern als Operatoren einer Poesie, die sich selbst (be)zeugt [...]« (S. 42). Zwar ist diese Methode nicht neu, sowohl in der Musik- als auch in der Lyrikanalyse gehört sie zu den gängigsten Verfahren, andererseits vermittelt dieser auf zwei Ebenen angelegte Lektüreprozess eine zyklisch-dialektische Struktur, von der Sennewalds Buch seine stärksten Impulse erhält.

[24] 

Die Methode

[25] 

Sennewald beschränkt sich auf die so genannten ›Großen Ausgaben‹ der KHM, die noch von den Grimms selbst bearbeitet worden waren. »Eine vergleichende Untersuchung wäre kaum in angemessenem Umfang zu leisten« (S. 22). Im Sinne eines strukturalistischen Textverständnisses ist dies sicher eine plausible Begründung, im Kontext der angesprochenen Methode der Dekonstruktion wirkt sie zumindest befragenswert: Denn wenn gerade die Dekonstruktion sich nicht mehr primär um den vorliegenden Text, sondern um die Textgenese bemüht, so muss sie deren verdrängte Faktoren in ihr nun erweitertes Textverständnis aufnehmen, um so die Voraussetzungen von Selbstreferentialität zu schaffen. Damit muss jeder dieser poststrukturalistischen Grenzziehungen mit Aufmerksamkeit begegnet werden. Konkret stellt sich die Frage so: Verwendet Sennewald den ent-grenzten poststrukturalistischen Textbegriff um die Beschreibung seiner Textur dynamisch voranzutreiben, um dann aber unter pragmatischen Begrenzungszwängen auf den probaten, weil be-grenzten Textbegriff der Strukturalisten zurück zu greifen? Dieser Verdacht scheint begründet – wie die folgenden Beispiele erkennen lassen.

[26] 

Sennewald hatte die im Inhaltsverzeichnis angeführten Abschnitte als ›diskursive Formation‹ (S. 22) bezeichnet. Sie sind die Begriffe, unter denen die »[...] Märchenlektüren kontextualisiert worden [sind] mit sprachtheoretischen, poetologischen, philosophischen Zusammenhängen, mit denen die KHM in Wechselwirkungen stehen« (S. 27). An dieser Stelle stoßen wir auf eine erste Begrenzung: historische Zusammenhänge, mit denen die KHM in Wechselwirkung stehen, werden in diesem Kontextualisierungszusammenhang nicht erwähnt, obwohl Sennewald gerade im Begriff der Bedrohung einen der wichtigsten operativen Metonyme (zu diesem Begriff unten mehr) der KHM sieht und einen ganzen Unterabschnitt mit »Im Krieg« überschreibt:

[27] 
Bedrohung ist eine Bedingung der philologischen Arbeit der Brüder Grimm. Eine Bedingung, die durch diese Arbeit selbst immer wieder hervorgebracht wird. [...] Bedrohung ist somit auch eine Voraussetzung des Gegenstandes dieser Philologie. Durch sie wird die Sammlung konkreter alter Schriften zum Dienst an einer universal wirksamen Poesie. (S. 111 f.)
[28] 

Wenn Bedrohung in der historischen Situation der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hier noch nicht als Geschichte wahrgenommen, sondern als ›Voraussetzung des Gegenstandes‹ einer ›Philologie‹ verzeichnet wird und damit noch in eine ›universal wirksame Poesie‹ eingeschrieben werden kann, so wird der text-integrative Sog der Dekonstruktion im Folgenden ausgesetzt:

[29] 
Krieg ist eine der Hauptvoraussetzungen für die Sammlung. Ohne Krieg, ohne »Unglück, das der Himmel schickt’«, wie es in der Vorrede von 1819 heißt, wären die Märchen nicht zu bergen. Es war Krieg, als der erste Band entstand [...]. (S. 277)
[30] 

Krieg bleibt Krieg – also Geschichte, die zwar im Nachhinein durch die aufschiebende Schrift als Text wahrgenommen wird, die aber andererseits im unmittelbaren Erleben auch die weit gefassten Grenzen des Textbegriffes sprengen muss, das Subsumieren dieser Geschichte unter der Chiffre Textur wäre zynisch.

[31] 

Noch deutlicher wird die Problematik dieser Methode im argumentativen Zentrum von Sennewalds Konstruktion: Die Figur des Märchen erzählenden alten Mütterchens wird in ihrer Referenz zur Beiträgerin gesehen, die ihrerseits als berührungsassoziatives Element zu den Grimms selbst zu sehen ist. So wie die Beiträgerin in der Gestalt des alten Mütterchens sowohl für Texthandlung als auch für Textbehandlung steht, so gehen über deren Berührung mit den Grimms auch diese als ›auslesende und interpretirende Wesen‹ (Nietzsche KSA 12, 38) in die Märchen ein. »Die Sammler sind als Figur Bestandteil des Selbstreferenziellen Geschehens der KHM« (S. 327). Damit entsteht eine Dynamik, die auf dem Erkennen von Referenzen beruht, die wiederum nur als Referenzen erkannt werden können, wenn sie diesseits und jenseits binnentextueller Grenzen angesiedelt sind. Dieses text-dialektisch aufeinander Angewiesensein von Referenz und Grenze ist die Voraussetzung eines Deutungsstroms, in dem sich die Lektüre vollzieht. Tatsache ist, dass ein so motiviertes Leseerlebnis über ein erhebliches Potential an Eigendynamik verfügt. Es stellt sich die Frage, wie diese Dynamik zu gestalten ist. Oder bleibt Sennewald nur der stillschweigende Ausstieg aus diesem energetischen Wechselspiel von Grenzziehung und -Überwindung innerhalb der poststrukturalistischen Textur?

[32] 

Die Lizenz der Dekonstruktion gestattet weitere Amplifikationen: Wenn wir über die Kette assoziativer Metonyme die Grimms in den Märchen mitlesen, dann ist methodisch nicht zu begründen, warum mit ihnen diese Kette abreißen soll. Warum können wir nicht das Werk Heinz Röllekes als weiteres Glied in dieser Kette lesen. Denn was Sennewald für die Grimms formuliert, gilt auch für Rölleke als Grimm-Forscher: »Die KHM entfalten ihren poetischen Sinn gerade im Abstand zum gesammelten Material, in der Einrichtung durch den Philologen [...]« (S. 335). Wenn also die Grimms für die Rahmenbildung des Märchentextes stehen, so wirkt Rölleke, zumindest für Sennewald, als Nagel, an dem diese Rahmung in seinem Forschungsvorhaben fixiert ist. Der Leser erhielte eine Reihe von Textoperatoren, die sich von der Beiträgerin über die Grimms als Sammler und Rölleke als Kommentator und Editor erstreckte. Jedenfalls weist Sennewalds Lektüreprozess immer wieder Spurenelemente der Rölleke’schen Philologie auf, wie der umfangreiche Fußnotenbestand beweist. Dass Sennewald diese jedoch nicht als Operatoren eines Textverständnisses gelesen haben will, beweist das metaphernunverträgliche Missverhältnis von Rölleke-Fußnoten und der in ihrer lakonischen Kürze sehr zurückhaltend wirkenden Würdigung Röllekes. Zwar bescheinigt er dem »[…] eine höchst differenzierte und philologisch genaue Rekonstruktion und kommentierte Veröffentlichung der verschiedenen Editionsstufen diese Buches« (S. 19), hält jedoch diese beiden Ebenen hermetisch getrennt. Einerseits arbeitet er ständig auf der Grundlage der Rölleke-Ergebnisse, andererseits lässt sich keine Anstrengung von ihm erkennen, die als eine, an anderer Stelle praktizierte, »implizite poetologische Anbindung« (S. 24) zu bewerten wäre.

[33] 

Dass diese knapp erwiesene Referenz tatsächlich eine Absage an den wissenschafts- und literaturhistorischen Ansatz Röllekes ist, der »nicht in Frage« (S. 22) kommt, wird erkannt, wenn man das Prädikat der ›philologischen Genauigkeit‹ mit dem Kontext der ›detaillierten philologischen Untersuchung‹ im Folgenden vergleicht:

[34] 
Es muss also ein Vorgehen gefunden werden, das die Verfasstheit des Buches »KHM« mit äußerster Genauigkeit zu beschreiben erlaubt, ohne in der detaillierten philologischen Untersuchung stecken zu bleiben. (S. 22)
[35] 

Jedenfalls lässt Sennewald den Leser über den Verlauf seiner Grenzziehung nicht im Unklaren. »Die Autorität der wissenschaftlichen Herausgeber [eben der Grimms, und nicht Röllekes] bildet den ›faktischen‹ Rahmen dieses Buches« (S.72). Wie im ersten Beispiel, in dem Geschichte und Textur aufeinander bezogen erscheinen, lässt sich auch hier die Unverträglichkeit von Textur und Faktizität nicht übersehen. Der Zaubertrick der Dekonstruktion, Realität in Texte zu verwandeln, muss zu einem Idealismus führen, dem auch Sennewald in seinen letzten Sätzen verpflichtet zu sein scheint.

[36] 
Mit den KHM entsteht am Beginn des 19. Jahrhunderts eine »neue Mythologie«. Sie gründet nicht mehr in der Antike, sondern in der Geschichte der Sprache und Sagen und wird zu einem Fundament der Moderne, hat sie doch gezeigt, dass nicht der Mensch die (Sprach-) Geschichte, sondern die (Sprach-) Geschichte den Menschen beherrscht. (S. 350 f.)
[37] 

Nichts gegen diesen Idealismus an sich, allerdings muss festgehalten werden, dass durch ihn die anspruchsvolle zyklisch-dialektische Argumentation des selbstreferentiellen Diskurses in einer damit verglichen mechanischen Kausalität ausläuft.

[38] 

Die Sinnlichkeit der Darstellung

[39] 

Der Gedankengang, von dem meines Erachtens Sennewalds Buch die stärksten Impulse erhält, ist seine über die Grimm-Lektüre bezogene Vorstellung von den »[…] Metaphern als Operatoren einer Poesie, die sich selbst (be)zeugt [...]« (S. 42). In einer begrifflichen Verschärfung dieser poetologischen Wendung liest er diese Metaphern im Kontext einer »Metonymie« (S. 54), die er als »Berührungsassoziation« (S. 54) versteht und einsetzt. In dem Überblick über diese Assoziationen wird eine Struktur erkennbar, die ihrerseits durch die Brüder Grimm in das Textmaterial projiziert worden war. Sennewald erkennt ein »[…] unsichtbare[s] Umfasstsein der Märchenhandlung durch philologisches Wissen und die Gestaltung der Erzählung auf eine Schrift hin […]« (S. 227), die er aus seinem Lektüre- in den Deutungsprozess übernimmt. Er geht von einer »[…] Wechselwirkung zwischen symbolischer Bedeutung der Worte und deren natürlicher Sinnlichkeit […]« (S. 275) aus, die im Märchen gerade durch den Verlauf des Märchens in den dramatischen Konflikt einsichtig wird. Was oben als artistische ›Referenzstruktur‹ dargestellt wurde, in der Texthandlung und Textbehandlung verwoben sind, ist nun als hin und her fließender Übergang von der semantischen Bedeutung zu der sinnlichen Gestalt des Wortes erkennbar. So wird das Summen und Wehen, das im Märchen Das alte Mütterchen durch die Kirche zieht, zunächst einmal onomatopoetisch als rein sinnliche Geräuschwahrnehmung rezipiert, um dann als Metapher eines gemeinschaftsbildenden Prozesses semantisiert zu werden, in dessen Verlauf die Individuen der Gemeinde sich zu einer kollektiven Summe zusammengefasst sehen.

[40] 
Das überirdische ›Summen‹ bringt Einheit in eine durch die Geschichte diversifizierte Gemeinde. Es stellt die Gleichzeitigkeit vieler Stimmen dar und erscheint, verstärkt noch durch das ›Wehen‹, als etwas, das körperlos, völlig unabhängig von den Anwesenden die ganze Szene beherrscht. (S. 32)
[41] 

Dasselbe Verfahren wird im Märchen Der Hahnenbalken angewandt. Hier geht es um das semantisch-sinnliche Inbezugsetzen des Substantivs Trug mit dem Verb tragen beziehungsweise dessen Imperfektform trug. Ein anderes Beispiel ist dann noch die Opposition Kleeclever, aus der die täuschungsresistente Kraft des Klees, was übrigens einfacher im Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens nachzulesen ist, abgeleitet werden soll. Mit diesen sinnlich-semantischen Bezügen vollziehen sich die Belehrungswunder der Märchenhelden, indem die Textgrenze überwunden wird. Sie werden, und da ist Sennewald zuzustimmen, »[…] in einer poetischen Welt klug, deren Wunder außerhalb des vorliegenden literarischen Textes situiert werden« (S. 137). Er fasst es noch genauer: »Diese Wunder vollziehen sich als Sprachwunder und als absolutes Inneres der Schrift, das als Außen des Buches das Märchen regelt und lebendig macht« (S. 137). Die Psycholinguistik ihrerseits wird diese Sprach- und Belehrungswunder nüchterner bewerten. Mit den Ergebnissen ihrer Wortassoziationstests konnte sie getrennte Bahnungen in unserem semantischen Gedächtnis für Homophone der genannten Art feststellen. Sie wird sich den Einwand einer allzu schwungvollen Semantisierung nicht ausreden lassen.

[42] 

Es bleiben einige Unschärfen in der Deutung zu monieren: Der gescheidte Hans ermordet nicht alle Kälber und Schafe (vgl. S. 220), sondern sticht ihnen ›nur‹ die Augen aus. Ebenso unschlüssig und damit willkürlich wirkt der Deutungsabbruch in dem Märchen Die weiße Schlange. Während er in den anderen Märchenanalysen jede von den Grimms vorgenommene sprachliche Veränderung registriert und mit gutem Erfolg kritisch beleuchtet, da sich ja gerade in diesen textmanipulierenden Eingriffen die romantische Imagination des sich selbst erzählenden Textes verflüchtigt, verzichtet er in diesem Märchen auf dieses Verfahren: »In der Fassung von 1857 lassen sich einige Änderungen bemerken, auf die hier nicht einzeln eingegangen wird« (S. 283). Hier wird eine analytische Leistung gerade in ihrer Brechung deutlich.

[43] 

Fazit

[44] 

Der Eindruck von diesem Buch bleibt gemischt. Da sind einerseits interessante, teils plausible, teils zum Widerspruch auffordernde Analyseergebnisse, die über ein durchaus inspirierendes Verfahren ermittelt werden und mit Sicherheit einer einseitig literaturhistorisch orientierten Märchenforschung wohl tun. Den Ausgangspunkt einer solchen Analyse hätte man in der Beschreibung dieser Texte als selbstreferentielle wählen können, wie dies der Fall in der Musik- und Lyrikanalyse ist. Damit wäre der Diskurs zwischen Texthandlung und Textbehandlung, die ich als das Kernstück des Buches begreife, zu rekonstruieren, ohne dass man sich der Dekonstruktion hätte verpflichten müssen, die meines Erachtens für einige Schieflagen in der vorliegenden Arbeit sorgt. Sennewalds abschließende Frage: »[…] lässt sich der ›Mensch‹ jenseits der Lesbarkeit erkennen?« (S. 351), ist damit zumindest für mich bereits im Ansatz zurückzuweisen. Ein Menschenbild, in dem sich Menschen nur noch über ihre Lesbarkeit wahrnehmen, erscheint mir als zu stark ausgedünnt.

[45] 

Andererseits, und das muss für diese Arbeit als Plus verzeichnet werden, erhebt sich hinter Sennewalds Argumentationsführung für den Leser die Frage nach dem Charakter der Beziehung zwischen der Dekonstruktion und der Literaturauffassung und dem Menschenbild der Romantik. In den Einsichten, die man aus der Lektüre seines Buches gewinnt, bilden sich Kongruenzen und aufeinander zu laufende Tendenzen ab – so die durchgehende Textualisierung des Lebens im Sinne einer Distanzierung und Emanzipation gegenüber der Geschichte, das darin enthaltene Element der Ironie und der damit notwendig verbundene weltanschauliche Subjektivismus und Idealismus –, die die Dekonstruktion im und als Erbgut der Romantik erscheinen lassen und zum Weiterdenken auffordern.


Dr. Gerhard Schmitt
Universität Oulu
SRPKL - Institut für Germanistik, Romanistik und Skandinavistik
PF 1000
FI - 90571 Oulu

Ins Netz gestellt am 09.01.2005

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Gerhard Schmitt: Von Selbstverweis und Selbstbeweis. (Rezension über: Jens Emil Sennewald: Das Buch, das wir sind. Zur Poetik der »Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004.)
In: IASLonline [09.01.2005]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1115>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.