Philipp Gut

Ein Mann für alle Fälle?

Thomas Mann als »Deutscher, Europäer, Weltbürger«




  • Michael Braun / Birgit Lermen (Hg.): man erzählt Geschichten, formt die Wahrheit. Thomas Mann - Deutscher, Europäer, Weltbürger. Frankfurt / M. u.a.: Peter Lang 2003. 335 S. 1 Abb. Kartoniert. EUR 45,00.
    ISBN: 3-631-38046-1.


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Thomas Mann ist die erfolgreichste Ich-AG der deutschen Literaturgeschichte. Diese Feststellung mag etwas frivol klingen, aber sie trifft in zweierlei Hinsicht zu. Erstens war der permanente Selbstbezug, das egozentrische Sich-wichtig-Nehmen, die Quelle seiner Produktivität. 1 Und zweitens hat er es auf einmalige Weise verstanden, nicht nur seine Werke, sondern auch seine Person als Inbegriff der deutscher Kultur zu positionieren. Thomas Mann verstand sich als deren ›Repräsentant‹ – kein leichtes Amt in einer Epoche, die zwei von Deutschland verlorene Weltkriege erlebte, die Herrschaft des Nationalsozialismus und die Teilung des Landes.

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Sowohl in seinem publizistischen wie in seinem belletristischen Œuvre hat sich der Autor immer wieder mit Deutschland und seiner Stellung in der Welt auseinandergesetzt. »Deutscher, Europäer, Weltbürger: In diesem Bezugsrahmen steht Thomas Mann als Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts einzigartig da«, schreiben Birgit Lermen und Michael Braun im Vorwort des hier zu besprechenden Sammelbands (S. 7). Darin enthalten sind die Beiträge eines Kolloquiums der Konrad-Adenauer-Stiftung, das anlässlich des 125. Geburtstags des Schriftstellers im Juni 2000 in Weimar stattfand.

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Ein politisches »Lehrstück«?

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Nach Ansicht der Herausgeber »verkörpert Mann ein literarisch-politisches Engagement, das die Synthese von künstlerischer Leistung und intellektueller Verantwortung realisiert und das sich durch sprachliche Virtuosität und reflektierte geschichtliche Erfahrung legitimiert« (ebd.). Die politischen »Wandlungen« des Schriftstellers vom Antidemokraten zum Hitlergegner, vom Nationalisten zum »überzeugten Europäer und Weltbürger« preisen sie als »Lehrstück in der Geschichte von Literatur und Politik des 20. Jahrhunderts« (ebd.).

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Dieses Urteil ist nur aufrechtzuerhalten, wenn man es relativiert. Die Thomas-Mann-Forschung geht längst nicht mehr von einem eindeutigen politischen Richtungswechsel des Autors, von einer Wende vom Saulus zum Paulus aus. Auch Braun / Lermen gestehen das in ihrem knappen Vorwort ein. Mit Thomas Mann lässt sich schlecht Propaganda machen; schon die Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), welche den Ersten Weltkrieg als epochales geistiges Ringen deuteten, in dem sich die angeblich unpolitische deutsche ›Kultur‹ gegen die oberflächliche, rhetorisch-demokratische ›Zivilisation‹ des Westens verteidigt, konterkarieren in ihrer glanzvollen literarischen Form die Inhalte, die sie vertreten.

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Problematischer noch: Die Zweideutigkeiten bleiben auch nach dem öffentlichen Bekenntnis zur Demokratie in der Rede Von deutscher Republik (1922) bestehen. Das Verdienst des ›Vernunftrepublikaners‹ Thomas Mann ist es gerade, trotz seiner Vorbehalte gegen die Sphäre des Politischen klar Stellung gegen den aufkommenden Nationalsozialismus bezogen zu haben.

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Repräsentanz im Exil

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Erklärungsbedürftig ist dann wiederum sein Schweigen in den ersten Jahren des Exils, das vornehmlich dem Erhalt seiner deutschen Leserschaft geschuldet war. Erst 1936 rang er sich, gedrängt von seinen entschlosseneren Kindern Erika und Klaus, zu einer unmissverständlichen Absage an das NS-Regime durch: in den Briefen an den Feuilleton-Redaktor der Neuen Zürcher Zeitung, Eduard Korrodi, und an den Dekan der Universität Bonn, die ihm die Ehrendoktorwürde aberkannt hatte.

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Braun / Lermen unterläuft in diesem Zusammenhang ein Lapsus: Sie schreiben von einem Brief an den »Herausgeber« der NZZ. Es gibt einige solche Unstimmigkeiten, der Band wurde nicht mit übertriebener Sorgfalt redigiert. Formale Uneinheitlichkeit in Bezug auf Zitierweise und Bibliografie sind das eine; das andere, schwerer Wiegende, sind sachliche Fehler. Wenn Klaus Bergdolt in einem wenig inspirierten Beitrag über »Thomas Mann und Venedig« schreibt, der Autor sei 1934 »bereits im Besitz eines Schweizer Passes« gewesen (S. 314), so waren die Lektoren nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte. Thomas Mann hat zwar einen beträchtlichen Teil seines Exils in der Schweiz verbracht, Bürger der Eidgenossenschaft aber ist er nie geworden (1936, im Jahr, als ihn Hitler-Deutschland ausbürgerte, erhielt er die tschechoslowakische, 1944 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft).

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Die unverhoffte Emigrantenexistenz, die er selber als unnatürlich empfand, zwang den auf Repräsentanz abzielenden Autor zu einer Modifikation seiner Rolle. In Amerika soll er, wie sein Bruder Heinrich überliefert, die Formel geprägt haben: »Wo ich bin, ist die deutsche Kultur.« 2 Als sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Frage einer Rückkehr in die Heimat stellte, kam es zu einer giftigen Auseinandersetzung mit Vertretern der so genannten Inneren Emigration. »Nach Deutschland bringen mich keine zehn Pferde«, schrieb Thomas Mann am 1. Juli 1950 an Theodor W. Adorno 3 . Hinter sich gebracht hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits den Doppelbesuch in Frankfurt und Weimar im Goethejahr 1949, ein weiterer demonstrativer Auftritt in Ost und West sollte im Schillerjahr 1955 folgen.

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Deutsche Einheit, deutsche Schuld

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Im eigentlichen Eröffnungsbeitrag des Bandes – vorangestellt sind ihm schriftstellerische Impressionen von Ulrike Draesner, Doris Runge u.a., die man mehrheitlich schon andernorts lesen konnte – rekapituliert Bernhard Vogel, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen, unprätentiös die zwei späten Besuche Thomas Manns in Weimar. Die nüchternen Ausführungen des Politikers, der die Widersprüche und Irritationen im Verhältnis zwischen dem nach Einheit ringenden Besucher und der geteilten Heimat nicht vorschnell ausräumt, bilden einen gelungenen Auftakt, von dem aus sich eine thematische Schneise durch den insgesamt recht disparaten Band schlagen lässt. Die Beiträge Dietrich von Engelhardts über »Die Welt der Medizin im Werk von Thomas Mann« oder Werner Kamps über »Drei Möglichkeiten, Thomas Mann (nicht) zu verfilmen«, haben mit dem titelgebenden Thema von Deutsch- und Weltbürgertum jedenfalls wenig zu tun.

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Ins Zentrum trifft hingegen Ehrhard Bahr, der überzeugend herausarbeitet, wie Thomas Mann seine Ablehnung der ›Zwei-Deutschland-Theorie‹ in ein Plädoyer für die deutsche Einheit umfunktionierte. In seinem Vortrag über Deutschland und die Deutschen (1945) wandte sich der Romancier, der mitten in seiner Arbeit am Doktor Faustus (1947) steckte, gegen die wohlfeile Unterscheidung in »ein böses und ein gutes« Deutschland (XI, 1146) 4 . »Das böse Deutschland« war ihm »das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang« (ebd.).

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Thomas Mann hat sich, obwohl er als Emigrant und Hitlergegner der ersten Stunde im Wortsinn fein raus war, mit der deutschen Katastrophe identifiziert. Diese Tatsache aber wurde von den ›Daheimgebliebenen‹ geflissentlich übersehen. Die harte Deutschlandkritik des verlorenen Sohnes war immer auch Selbstkritik. Vor diesem Hintergrund war es nur konsequent, wenn Thomas Mann die politische Teilung des Landes nicht hinnahm. Er beharrte auf dessen Einheit, die er im Kulturellen begründet sah.

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Kultur und Barbarei

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In denselben Kontext gehören die Ausführungen Ruprechts Wimmers, der die Frage erörtert, ob der Doktor Faustus (1947) eine »Aburteilung Deutschlands« oder ein »Gerichtstag über das eigene Ich« sei (so die im Titel exponierte Alternative, S. 209). Wimmers These ist es, dass der Roman beide Lektüren geradezu erzwingt, und »dass diese Lektüren weder gegeneinander aufrechtzuerhalten noch mit einander zu versöhnen sind« (S. 211). Einerseits sei man immer wieder versucht, den Faustus als »allegorische Biographie« zu lesen, in welcher der Protagonist als Exponent Deutschlands und seines Verderbens figuriert. Andererseits präsentiere sich der Roman »als halbversteckte, ins Fiktionale verlegte Autobiographie« des Autors (ebd.).

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Ruprecht Wimmer ist in seiner Eigenschaft als Präsident der Deutschen Thomas Mann Gesellschaft und als Herausgeber des Doktor Faustus innerhalb der Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe eine doppelt legitimierte Autorität. Trotzdem scheint seine Unvereinbarkeitsthese anfechtbar. Als Beleg für die zweite, ästhetisch-autobiografische Lesart führt Wimmer das folgende Zitat Adrian Leverkühns über das künftige Schicksal der Kunst an:

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Die ganze Lebensstimmung der Kunst [...] wird sich ändern, und zwar ins Heiter-Bescheidene [...]. Die Zukunft wird in ihr, sie selbst wird wieder in sich die Dienerin sehen an einer Gemeinschaft [...]. Wir stellen es uns nur mit Mühe vor, und doch wird es das geben und das Natürliche sein: eine Kunst ohne Leiden, seelisch gesund, unfeierlich, untraurig-zutraulich, eine Kunst mit der Menschheit auf du und du... (VI, 429)
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Hierzu bemerkt Wimmer: »Alle nationale Allegorik verschwindet wieder einmal, und eine tiefe Angst Thomas Manns wird hinter Adrians Vision sichtbar: die Angst, nicht für die Zukunft geschrieben zu haben, ein Letzter zu sein, gefeiert zwar, aber rückwärtsgewandt.« (S. 220) Diese Befürchtung hat Thomas Mann bisweilen tatsächlich gehabt. Nur ist es so, dass die zitierte Passage zugleich als nationale Allegorie interpretiert werden kann.

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»Gemeinschaft« ist durchaus ein politisches Signalwort, das auf die totalitäre, auch und gerade die Kunst in Dienst nehmende Volkstumsideologie der Nationalsozialisten verweist. Die im Zitat anklingende Sehnsucht einer avancierten Moderne nach der verlorenen Gesundheit und Einfachheit ist höchst prekär. Mit dem Fazit, »das ablösende Gegenteil der bürgerlichen Kultur sei nicht Barbarei, sondern die Gemeinschaft« (VI, 495), bringt der Erzähler auf den Punkt, worum Leverkühns Gedanken nicht zufällig immer wieder kreisen. Die Vision einer Kunst, »die ›ins Volk geht‹«, sei gefährlich, sie laufe auf den »Mord des Geistes« hinaus, wendet Zeitblom ein (VI, 429). In der Volksgemeinschaft löst sich der Gegensatz von ›Kultur‹ und ›Barbarei‹ auf.

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Der intrikate werkgeschichtliche Hintergrund der Sache: Thomas Mann selbst hatte, etwa in den Gedanken im Kriege von 1914, die Affinität von Kultur und Barbarei vorgedacht. (Vgl. XIII, 528) So sind die ästhetisch-politische Selbstkritik des Autors und die Kritik an Deutschland im Doktor Faustus auf delikate Weise verschränkt.

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Arbeit am Mythos

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Dass die Fronten zwischen dem Nationalsozialismus und seinem wohl prominentesten Gegner im Exil keineswegs immer klar verlaufen, betont auch Peter J. Brenner in seinem anregenden Aufsatz über Mythos, Recht und Ordnung in Thomas Manns Moses-Erzählung Das Gesetz (1943). Brenner spricht diesbezüglich von einem »Doppelleben« des Autors: »als Künstler bleibt er unverhohlen fasziniert von der archaischen Gewalt, die auch vom Faschismus ausgeht; als Bürger bekämpft er diese Gefährdung in seiner politischen Essayistik« (S. 197). Mit dieser Einschätzung liegt Brenner auf der Linie Hermann Kurzkes, der Thomas Manns »Kampf gegen den Faschismus« als »Kampf gegen die eigene Faszination durch den politischen Obskurantismus« interpretiert hatte 5 .

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Nicht der »Dualismus von Ordnung und Gewalt«, so Brenner, sei das Thema der Erzählung, sondern deren »Verschlingung« ineinander (S. 199). Das Gesetz schildert, im Nachgang zur monumentalen Josephtetralogie – die allerdings nur gut tausendachthundert, nicht »knapp zweieinhalbtausend« Seiten hat, wie Brenner schreibt (S. 190) –, »die Etablierung der neuen Ordnung als einen Prozess der Zivilisation, der begleitet ist von etlichen Rückschlägen« (S. 199). Die Erzählung zeige zwar den dunklen, gewalttätigen Grund jeder gesellschaftlichen Ordnung. Aber sie belasse diese nicht »im Dunkel des Mythos«, sondern ziehe sie »ins künstlerische Spiel des Erzählens hinein und damit ans Licht« (S. 201). Insofern lässt sich sagen, dass Thomas Mann die Zivilisierung, die er beschreibt, selber gewissermaßen nachvollzieht: ›Arbeit am Mythos‹, aus aktuellem Anlass.

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Lektor, wo bist du?

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Analytisch scharfe, auf einen einzelnen Text fokussierende Interpretationen sind oft erhellender als mit großer Geste gezeichnete Überblicksartikel. Diesen Eindruck jedenfalls gewinnt man, wenn man Brenners Beitrag mit demjenigen von Beate Neuss vergleicht. Von Titel und Thema her kommt letzterer der Anlage des Bands am nächsten: »Thomas Mann: Demokrat – Europäer – Weltbürger« ist ihr Text überschrieben. Was man darin über die politische Entwicklung des Autors erfährt, der schließlich als »Symbiose des Deutschen, Europäers und Weltbürgers« gefeiert wird (S. 95), hat man bei den Altmeistern der Thomas-Mann-Forschung, bei Heftrich, Koopmann, Kurzke, ja schon bei Sontheimer unendlich viel besser gelesen. Verräterisch für den epigonalen Charakter des Aufsatzes ist die oft indirekte Zitierweise. Die Autorin hat tatsächlich die Dreistigkeit, beispielsweise Goethe und die Demokratie (1949) nach Sontheimer (1961) 6 zu zitieren.

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Bei diesem mangelhaften Bezug auf die Primärtexte verwundert es kaum, dass Neuss offensichtlich auch Die Gedanken im Kriege (1914) mit den Gedanken zum Kriege (1915) verwechselt (Anm. 2, S. 99), dass sie die Rede Von deutscher Republik mehrfach auf das Jahr 1923 (statt 1922) datiert (S. 87; Anm. 34, S. 100) oder die Radioansprachen Deutsche Hörer! (1940–1945) nachlässig »An deutsche Hörer« nennt (S. 92). Erneut fragt man sich ob der Häufung solcher Schlampigkeiten, wo hier das Lektorat geblieben ist.

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Wider den »Heiligen Stefan«

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Wenn der Band trotzdem die Lektüre lohnt, so nicht, weil er ein konzeptuell und redaktionell überzeugendes Gesamtkunstwerk wäre, sondern weil er neben den missglückten Beiträgen einige sehr empfehlenswerte vereinigt. Anders als der Rezensent ist der geneigte Leser ja nicht gezwungen, von A bis Z jeder Zeile zu folgen. Hervorzuheben sind – über die bereits lobend erwähnten hinaus – die Aufsätze von Hans-Rüdiger Schwab und Friedhelm Marx. Schwab unternimmt den aufschlussreichen Versuch, die Rezeptionsproblematik bei Thomas Mann einmal umzukehren, indem er nach dem Potential der Anregung fragt, die dieser Klassiker des 20. Jahrhunderts auf so unterschiedliche Gegenwartsautoren wie Hartmut Lange, Günter de Bruyn, Hans Pleschinski oder Thorsten Becker ausübte.

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Friedhelm Marx schließlich liefert, indem er die »Kunstreligion im Frühwerk Thomas Manns« untersucht, einen weiteren Beitrag zu einem Gebiet, dem er mit seiner Aufsehen erregenden Studie über die Christusfigurationen im Mannschen Œuvre neue Impulse verliehen hat 7 . Wie Marx zeigt, standen die frühen Novellen in einem kritischen Dialog mit den »Welt- und Kunsterlösungstheorien« der ästhetischen Moderne um 1900 (S. 241). Auch Thomas Mann schrieb »der Literatur eine erlösende Wirkung zu: freilich nicht durch künstlichen Weihrauch und sinnliche Befriedigung der Leidenschaft, sondern durch deren Entlarvung und Erkenntnis« (S. 248). Sein »Votum für eine heilige Literatur« formulierte er in bewusster Absetzung von jener zeitgenössischen »Tempelkunst« (ebd.), wie sie der »Heilige Stefan« 8 – gemeint ist natürlich Stefan George – kultivierte. Thomas Manns Einspruch gegen diesen »ästhetischen Katholizismus«, so Marx, sei »im Namen einer genuin protestantischen heiligen Kunst« erfolgt (S. 244).

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Fazit und Ausblick

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»Deutscher und Weltbürger«: In diesem Spannungsfeld verortete schon Donald A. Prater das Leben und Werk Thomas Manns 9 . Wer sich vom vorliegenden Sammelband weiter gehenden systematischen Aufschluss über das Thema erhoffte, sieht sich enttäuscht. Zu überzeugen vermögen zwar einzelne Beiträge, aber nicht der Band als ganzes. Gewisse Artikel passen schlicht nicht in den thematischen Rahmen, andere sind unzulänglich in ihrer Qualität. Eine genauere Redaktion hätte den Band zumindest formal auf ein ansprechenderes Niveau heben können. Wer ihn selektiv liest, wird trotzdem Gewinn daraus ziehen können.

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Fruchtbar für die weitere Diskussion scheint ein Zugang zur Problematik, der eher auf die Widersprüche als auf Harmonisierung abhebt. So spannungsvoll Thomas Manns lebenslange Auseinandersetzung mit dem Deutschtum war, so abhängig blieb sein Credo zu Europa und zur westlich geprägten »Welt-Zivilisation« (XII, 963) von den aktuellen historischen Verhältnissen. Die Pervertierung des Nationalen, deren Zeitzeuge er wurde, hat ihm das Gefahrenpotential dieser Kategorie aufgezeigt. Dennoch ist Thomas Mann von Deutschland nie wirklich losgekommen. Er hat sich im emphatischen Sinn als ›deutscher‹ Schriftsteller verstanden – und wurzelte damit vielleicht noch tiefer im 19. Jahrhundert, als ihm ohnehin bewusst war.


Philipp Gut, lic. phil.
Universität Zürich
Historisches Seminar
Karl Schmid-Str. 4
CH - 8006 Zürich

Ins Netz gestellt am 11.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Philipp Gut: Ein Mann für alle Fälle? Thomas Mann als »Deutscher, Europäer, Weltbürger«. (Rezension über: Michael Braun / Birgit Lermen (Hg.): man erzählt Geschichten, formt die Wahrheit. Thomas Mann - Deutscher, Europäer, Weltbürger. Frankfurt / M. u.a.: Peter Lang 2003.)
In: IASLonline [11.12.2004]
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Anmerkungen

Dazu das Standardwerk von Hans Wysling: Narzissmus und illusionäre Existenzform. Zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull. Bern / München 1982.   zurück
Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt. Berlin / Weimar 1982, S. 215. Zum Kontext Helmut Koopmann: Lotte in Amerika, Thomas Mann in Weimar. Erläuterungen zum Satz »Wo ich bin, ist die deutsche Kultur«. In: Heinz Gockel / Michael Neumann / Ruprecht Wimmer (Hg.): Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich. Frankfurt / M. 1993, S. 324–342.    zurück
Thomas Mann / Theodor W. Adorno: Briefwechsel 1943–1955. Hg. von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Frankfurt / M. 2002, S. 67.    zurück
Zitiert nach der Taschenbuchausgabe der Gesammelten Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt / M. 1990. Römische Ziffern bezeichnen den Band, arabische die Seitenzahl.    zurück
Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. München 1999, S. 358.    zurück
Kurt Sontheimer: Thomas Mann und die Deutschen. München 1961.   zurück
Friedhelm Marx: »Ich aber sage Ihnen...«. Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Frankfurt / M. 2002.    zurück
Thomas Mann: Der alte Fontane (1910). In: T. M.: Essays, nach den Erstdrucken. Textkritisch durchgesehen, kommentiert und herausgegeben von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Bd. I: Frühlingssturm, 1893–1918. Frankfurt / M. 1993, S. 141.    zurück
Donald A. Prater: Thomas Mann. Deutscher und Weltbürger. Eine Biografie. Aus dem Englischen von Fred Wagner. München 1995.   zurück