IASLonline

Von der Goethezeit bis in die Moderne

  • Konrad Feilchenfeldt u.a. (Hg.): Goethezeit - Zeit für Goethe. Auf den Spuren deutscher Lyriküberlieferung in die Moderne. Festschrift für Christoph Perels zum 65. Geburtstag. Tübingen: Max Niemeyer 2003. X, 432 S. 31 s/w, 12 farb. Abb. Leinen. EUR (D) 112,00.
    ISBN: 3-484-10854-1.
[1] 

Die anlässlich seines Ausscheidens aus dem Amt herausgegebene Festschrift für den langjährigen Direktor des Freien Deutschen Hochstifts, Christoph Perels, spiegelt in 36 überwiegend sehr persönlichen Beiträgen »die ganze Breite seines wissenschaftlichen Interesses und seiner fachlichen Profilierung« (S. IX). Seine Arbeitsgebiete erstrecken sich vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Um diesem umfangreichen Spektrum auch in der Festschrift gerecht zu werden, haben die Herausgeber des Bandes alle Beiträge in sechs Abteilungen untergliedert. Dabei sind die drei Bereiche »Goethelyrik«, »Lyriküberlieferung« und »Modernelyrik« lyrischen Texten gewidmet und alternieren mit Beiträgen zu »Goethe«, »Zeit für Goethe« und »Moderne«.

[2] 

Goethelyrik

[3] 

Die Beiträge der ersten Abteilung widmen sich der »Goethelyrik«. Jochen Golz (S. 15–24), Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs, stellt in den Mittelpunkt seines Beitrags Goethes Gedicht Der Musensohn. Dabei weist er zunächst auf bisherige Fehlinterpretationen des Gedichtes hin und geht dann ausführlicher auf das im Gedicht artikulierte Ruhebegehren ein. Die im Gedicht angelegte Kritik an einem romantisch-schweifenden Künstlertum und die in den Schlusszeilen mitschwingende Hoffnung, der Musensohn könne in der ruhigen, sich kreativ erneuernden Hinwendung zur Natur und zur Geliebten ein in des Dichters Augen wahrhaftiges Künstlertum wiedererlangen, führt Golz auf Goethes Sicht der literarischen Romantik und auf seine zwischen Hoffnung und Skepsis stehende ambivalente Position zurück.

[4] 

»Wer ist Muley, der Dieb, und wie gelangte er in Goethes ›Divan‹?« Mit diesen beiden Fragen lädt Katharina Mommsen (S. 61–69) ein, das kürzeste und zugleich rätselhafteste Gedicht im West-östlichen Divan zu entschlüsseln. Dass Goethes geheim gehaltenes, leidenschaftliches Begehren der Frau seines Freundes Jakob Willemer im Divan seinen literarischen Niederschlag fand, ist allgemein bekannt. Mommsen verfolgt die Spur des »Muley«, zeigt dabei Goethes Begeisterung und sein Interesse für Don Pedro Calderón de la Barca und stellt dem Leser die Hauptgestalt Muley im Drama El principe constante vor. Der Muley-Zweizeiler stellt also Goethes Beichte seines eigenen verliebten und von Eifersucht derart geplagten Zustandes dar, dass er sich mit Calderóns Muley identifiziert, den seine rasende Eifersucht zum ›Dieb‹ werden ließ (S. 68 f.).

[5] 

Goethe

[6] 

Die Abteilung »Goethe« beginnt mit einem Beitrag von Hans Reiss (S. 73–83), in dem dieser sich mit der bestehenden Kluft zwischen Dichtung und Historie auseinandersetzt und auch mit der Frage, »ob Dichtung die gesellschaftliche Welt objektiv darstellen kann oder dies überhaupt soll« (S. 73). Als Gegenstand für seine Untersuchung hat Reiss mit Goethes Die Wahlverwandtschaften einen Roman ausgewählt, dessen »Handlung zwar in einer deutlich erkennbaren Umwelt spielt, die aber für eine sozialhistorische Untersuchung problematisch ist« (S. 74). Übersichtlich setzt er sich mit den Studien der letzten Jahrzehnte auseinander und zeigt anhand der Interpretationen von Stuart Atkins, Hans Vaget, Alfred J. Steer jr., Werner Schwan, Wolf Kittler, Werner Schlick, John Winkelmann und W.H. Bruford – um nur einige zu nennen –, dass eine sozialhistorische Interpretation des Romans zwar nicht völlig ausgeschlossen werden könne, aber doch sehr problematisch sei.

[7] 

Roger Paulin (S. 99–110) untersucht anhand von Goethes biographischer Praxis in Dichtung und Wahrheit das Verhältnis, in dem Autobiographie, Biographie und literarischer Kanon zueinander stehen. Dabei legitimieren die Beziehungen zum größeren Weltgeschehen und die Darstellung des Menschen in seinen Zeitverhältnissen die Bezeichnung ›Biographie‹. Die Selbstdarstellung eines Dichters dagegen bedeutet, so erläutert Paulin, die Auseinandersetzung mit dem poetischen und literarischen Leben in allen seinen Manifestationen. Das in Dichtung und Wahrheit vermittelte Bild von Günther, Gellert, Lenz, Rabener und auch Gottsched läuft dabei immer wieder auf ein »Mißverhältnis zwischen Leben und Kunst, Leben und Werk« (S. 106) hinaus. Als summum bonum gilt Goethe »das Bestreben nach einer Harmonie zwischen beiden Lebensbereichen« (S. 107); sein Maßstab für den Dichter heißt: »im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorbringen« (S. 107).

[8] 

Zeit für Goethe

[9] 

Gerhard Kölsch (S. 213–228) eröffnet die Abteilung mit seinem Aufsatz über das Porträt Die Familie Goethe im Schäferkostüm aus dem Jahr 1762. Bei dem Gemälde des Darmstädter Malers Johann Conrad Seekatz handelt es sich um das einzig bekannte zeitgenössische Porträt der Frankfurter Goethe-Familie und auch um das früheste zweifellos authentische Bildnis Johann Wolfgang Goethes. Anhand der beiden abgebildeten Entwurfszeichnungen beschreibt Kölsch zunächst die Entstehung des Gemäldes und charakterisiert ausführlich die dargestellten Personen. Das Familienporträt ist nicht als bürgerliche Darstellung zu verstehen, sondern folgt vielmehr nach französischem Vorbild Formen der aristokratischen Repräsentation und enthält zugleich Anspielungen auf die klassische Arkadien-Thematik. Zwar hatte Goethe selber wenig Interesse an dem Gemälde von Seekatz, dennoch avancierte das Familienporträt für Goethe-Verehrer zu einem wertvollen Erinnerungsstück. Die Wirkungsgeschichte, die sich unter anderem in zahlreichen Kopien seit Mitte des 19. Jahrhunderts darstellt, belegt dies.

[10] 

Im Vorwort stellten die Herausgeber die Festschrift in das Zeichen »der Idee, daß Literaturwissenschaft als zwischenmenschliches Instrument zu ›besserem Verständnis‹ ungeahnte Verbindungen herstellen kann« (S. X). Um ›Rede‹ und ›Gespräch‹ geht es auch in den Beiträgen von Gerhard Kurz (S. 251–262) und Joachim Seng (S. 263–277).

[11] 

Im September 1937 hielt Karl Jaspers im Freien Deutschen Hochstift auf Einladung des damaligen Direktors, Ernst Beutler, drei Vorlesungen über ›Existenzphilosophie‹. Jaspers, der stets für eine strikte Trennung von Wissenschaft und Politik eingetreten war, wurde mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 aufgrund seiner Ehe mit einer Jüdin zunächst in der Universität isoliert und 1937 schließlich entlassen. Kurz schildert sehr eindrücklich die daraus entstandenen Schwierigkeiten, aber auch das mutige Wirken von Ernst Beutler, der wegen politischer Unzuverlässigkeit und der jüdischen Herkunft seiner Frau Pressionen der NSDAP bis zur Forderung nach seiner Absetzung ausgesetzt war und sich dennoch in einer Gratwanderung zwischen Anpassung und Selbstbehauptung halten konnte.

[12] 

Seng setzt sich mit der freundschaftlichen Beziehung zwischen Ernst Beutler und Richard Alewyn auseinander, kommentiert ihren Briefwechsel, der 1928 begann, und dokumentiert – wie schon Kurz – das couragierte Verhalten Beutlers, das er in der Leitung des Freien Deutschen Hochstifts in politisch schwierigen Zeiten zeigte.

[13] 

Modernelyrik

[14] 

Anhand von Shakespeares Sonetten 30 und 66 und deren deutschen Übersetzungen reflektiert Klaus Reichert (S. 345–349) ein Gespräch, das er mit Paul Celan Ende der sechziger Jahre über möglichen »poetischen Widerstand gegen den Staat, die Gesellschaft, die strukturelle Gewalt« (S. 345) geführt hatte. Gegenstände ihres Gesprächs waren unter anderem das Russland der dreißiger Jahre, die Moskauer Schauprozesse und mögliche Formen eines Einspruchs und dessen verschlüsselte Formulierungen gewesen. Reichert erinnert sich an Celans Erwähnung der Shakespeare-Übersetzung in diesem Zusammenhang. In einem Streifzug durch die zahlreichen deutschen Versionen zu den beiden Gedichten, die auf eine politische Situation antworten, versucht Klaus Reichert eine Annäherung an den von Paul Celan gemeinten Akt des Widerstands, der sich in der Sprache auszudrücken vermag.

[15] 

Peter Michelsen (S. 351–353) stellt Paul Celans Lichtzwang in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Licht, das eigentlich den Menschen erfreuen sollte und ihm mit dem lumen naturale Erkenntnis sichert, die ihm Wahrheitsevidenz, klaren und deutlichen Zugang zu den Dingen gewährt, erfährt hier in dem Kompositum »Lichtzwang« eine Negation. Helligkeit, so resümiert Michelsen, wird zur schmerzenden Qual, nur das Dunkeln brächte Hilfe vor dem kalten Licht. Der Interpretationsansatz endet mit der Feststellung, das Gedicht sei ein »Widerruf der Aufklärung« (S. 353).

[16] 

Fazit

[17] 

Als persönliche Aufmerksamkeit und Geste gegenüber dem Freund, Kollegen, Lehrer, Mentor und Mitmenschen Christoph Perels wollen die Herausgeber die Festschrift verstanden wissen. Sympathie und Dankbarkeit, Freundschaft und kollegiale Zusammengehörigkeit der Mitwirkenden spiegeln sich in den zahlreichen persönlichen Ansprachen innerhalb der einzelnen Beiträge wider und lassen den durchweg gelungenen Band als wahre Festschrift erscheinen. Zugleich vermitteln die große Anzahl und die Vielfalt der Beiträge einen Eindruck von dem breiten Spektrum des wissenschaftlichen Interesses von Christoph Perels und dokumentieren seine fachliche Profilierung.

[18] 

Die zahlreichen interpretatorischen Beiträge greifen überwiegend Gedichte auf, die bereits viel zitiert und auch viel interpretiert wurden. Meist bleiben sie als Einzelanalysen aber isoliert stehen und sind eher als Hommage an den Literaturwissenschaftler und Interpreten Perels und seine Liebe für die deutschsprachige Lyrik zu sehen, als dass der Leser aus den lose aneinander gereihten Beiträgen neue Erkenntnisse gewinnen könnte.

[19] 

Zwar geben einzelne Aufsätze durchaus auch neue Anregungen für weitere Forschungsmöglichkeiten – genannt seien hier beispielsweise der Beitrag von Katharina Mommsen zu Goethes Muley-Gedicht sowie der erstmalig vollständig von Klaus Mecklenburg abgedruckte Brief Goethes vom 12. August 1812 an den französischen Gesandten St. Aignan oder die Beiträge von Gerhard Schulz, Anke Bosse und Marcel Reich-Ranicki, die sich im letzten Teil der Festschrift Hofmannsthal, dessen Novalis-Lektüre, seiner Einordnung zwischen ›Goethe‹ und Moderne und der Zusammenarbeit mit Richard Strauss widmen und darin zugleich auf das Freie Deutsche Hochstift als Forschungs- und Editionszentrum für das Werk Hugo von Hofmannsthals aufmerksam machen. Alles in allem ist die Festschrift aber in erster Linie für diejenigen Leser von größerem Interesse, die sich ein Bild von der Person Christoph Perels und seinem Wirken in und um das Freie Deutsche Hochstift machen möchten.