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Artes liberales und Artes memorativae

  • Michael Stolz: Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter. 2 Bde. Bd. 1: Darstellungsteil, Bd. 2: Texteditionen, Abbildungen, Literaturverzeichnisse und Register. (Bibliotheca Germanica 47) Tübingen: Francke 2004. XX, 992 S. 130 Abb. Leinen. EUR (D) 248,00.
    ISBN: 3-7720-2038-0.
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Hinweis zur Rezension

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»Vorbemerkungen«, »Inhaltsübersicht« (inkl. »›Navigationshinweise‹«) und »Fazit« ergeben eine Kurzrezension. Wer mehr über die Gedächtnis stützenden Darstellungsweisen erfahren möchte, die im zu besprechenden Buch erstmalig in der Forschung zur Rezeption des Anticlaudianus von Alanus ab Insulis (vgl. Anm. 6) ausführlich berücksichtigt werden (S. 191) und daher eine eingehendere Betrachtung verdienen, fahre fort mit dem Abschnitt »Vermittlung von Artes-liberales-Wissen als symbolischer Auseinandersetzungsprozess: Mnemonik als Instrument«.

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Vorbemerkungen

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Die sieben freien Künste (septem artes liberales), die sich in das sprachliche Trivium (Grammatik, Dialektik, Rhetorik) und das mathematische Quadrivium (Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie) untergliedern, sind der grundlegende Bildungskanon, der aus der römischen Antike in die mittelalterlichen Schulen und Universitäten (Artistenfakultäten) tradiert wurde – siehe auch Kap. A.2. des zu besprechenden Buches (»Bildungsgeschichtliche Grundlagen«) und A.3. (»Fachinhalte der Artes liberales«).

[5] 

Die Ende 2004 erschienene Studie von Michael Stolz basiert auf seiner 1999 / 2000 an der Universität Bern abgeschlossenen Habilitationsschrift über bebilderte lateinische und volkssprachliche Zeugnisse der Artes-liberales-Vermittlung, insbesondere des Spätmittelalters und der Renaissance, entstanden im europäischen Raum (England bis Italien, Rheingebiet bis Thüringen).

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Inhaltsübersicht

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Das Buch untergliedert sich in zwei Bände (mit durchgehender Seitennummerierung): die eigentliche Untersuchung in Band I und den Dokumentationsteil in Band II mit Anhängen zu den Texteditionen, Abbildungsblock (130 fast durchweg sehr gute Abbildungen, 72 davon in Farbe), 1 Literaturverzeichnis und ausführlichen Registern.

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Einleitung

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Die Einleitung zu Band I (Kap. A. »Zugänge«) beinhaltet sowohl die obengenannten Betrachtungen zu den Artes liberales (= AL) selbst (Kap. A.2. und A.3.) als auch in Kap. 4 (»Gebrauchskontexte«) eine Einführung zu den verschiedenen Vermittlungsweisen von AL-Wissen im Spätmittelalter unter Berücksichtigung der in dieser Epoche anwachsenden Zahl von geistlichen Rezipienten (vor allem in Klöstern), speziell aber auch weltlichen Rezipienten (Hof und Stadt), weiterhin methodische Darlegungen (Kap. A.5.: hier insbesondere der interdisziplinäre Ansatz des Kreises um Aby M. Warburg, demnach Wissen als symbolische Form ein Nachhall antiker Bildprägungen ist, die zeit- bzw. gesellschaftsspezifischen Wandlungen unterliegen 2 ) und »Pilotuntersuchungen« (Kap. A.6.: Teilübersetzung von De nuptiis des Martianus Capella durch Notker III. von St. Gallen 3 , Artes-Rundbild im Hortus deliciarum der Herrad von Hohenburg 4 und AL-Zyklus im Welschen Gast des Thomasin von Zerklære 5 ), an denen die Methodik des Warburg-Kreises erprobt wird.

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Hauptteil

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Die in Kap. A.6. behandelten, älteren textlichen und bildlichen Bearbeitungen des Artes-Wissens mit Handschriftenzeugen aus dem 11. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts führen hin zum Herzstück der Untersuchung, der Rezeption von AL-Zyklen im Kontext des Anticlaudianus von Alanus ab Insulis 6 (Kap. B. »Fallstudien: Artes-liberales-Zyklen im Bereich der Alanus-Rezeption«; ausführliche Einleitung zum Anticlaudianus: S. 192–201). Der rote Faden ist dabei die Herausarbeitung der Relationen der Darstellungen, i.e. der AL-Personifikationen mit ihren Symbolen, zum Anticlaudianus-Text, wobei auch der systematische Bezug der Rezeptionszeugen untereinander aufgezeigt wird. Die Entwicklung reicht von »textbegleitenden Handschriftenillustrationen bis hin zu völlig emanzipierten Darstellungsweisen, die den Handlungsgang der Dichtung gänzlich preisgeben« (vgl. hierzu die konzise Zusammenfassung auf S. 529 f.).

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Schluss

[13] 

Im Kapitel C. »Perspektiven« fasst Stolz zuerst die Resultate der zentralen Untersuchung zusammen (C.1. »Ergebnisse«), um dann mit der Betrachtung der sich im Wechsel zum Druckzeitalter verändernden Darstellungen der sieben freien Künste (C.2. »Übergänge«) zu Repräsentationen des 15. Jahrhunderts überzuleiten, die sich nicht scheuen, die AL vor dem Hintergrund ihrer wissenschaftlichen Degradierung zu einem propädeutischen Curriculum (S. 553 f.) in den Dienst der Herrschaftsrepräsentation, des Memento mori und der Liebeskunst zu stellen (Kap. C.3. »Diskursive Transformationen«). Das Buch endet mit der Leichtigkeit von Lachen und Spiel: In Kap. C.4. (»Schwellen des Wissens«) verweist Stolz, ausgehend von den ludischen Elementen der »Transformationen«, auf das spielerisch an Grenzen rührende Motiv der Himmelsreise im Anticlaudianus und die spielerische Teilhabe der Rezipienten an den mittelalterlichen AL-Merkbildern (S. 661).

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»Navigationshinweise«

[15] 

Im Vorwort des Buches bittet Stolz seine Leser um Nachsicht dafür, dass er sie mit einem letztendlich knapp 1.000 Seiten umfassenden Buch konfrontieren muss. Sie werden ihm nicht grollen; denn man kann bei der Lektüre zwischen den einzelnen Kapiteln hin- und herspringen, ohne dass dadurch die Kohärenz der Untersuchung verloren ginge. Es empfiehlt sich – nicht ohne das Vorwort zu übergehen – mit dem Resümee des Einleitungsteils zu beginnen (A.7. »Zwischenbilanz«), dann den Überblick über die Ergebnisse der zentralen Analyse (Kap. C.1.) zu lesen und danach, je nach Interessensschwerpunkt, die jeweiligen Kapitel des ersten Bandes anzugehen. Auch Zwischenbilanzen wie zu Kap. B.2. und B.3. (S. 223 f. u. 235) bringen Transparenz in den komplexen Stoff.

[16] 

Vermittlung von Artes-liberales-Wissen
als symbolischer Auseinandersetzungsprozess:
Mnemonik als Instrument

[17] 

Die einzelnen AL-Zyklen dienten der Wissensvermittlung: einerseits sollte der Artes-Zyklus in seiner Gesamtheit weitergegeben werden, andererseits die Inhalte der einzelnen Wissenschaftszweige. Diese Vermittlung ist an textliche und bildliche Zeichen / Symbole gebunden, über die sich die Wahrnehmung des Lernenden sowie der »Gehalt von Wissensbeständen«, d.h. die Inhalte selbst, definieren (S. XI). Generalschlüssel bei der Analyse der AL-Zyklen ist die mittelalterliche Mnemonik 7 , die sich in vielfältigen Ausformungen (Artes memorativae) aus dem memoria-Teil antiker Rhetorik-Lehrbücher entwickelt hat und auf der Basis von Gedächtnisorten (loci) und -bildern (imagines) funktioniert (S. 61 f., 178 A. 190).

[18] 

Thomas von Zerklære: Der Welsche Gast
(S. 160–186)

[19] 

Bei den Pilotuntersuchungen wendet der Autor die Rhetorica novissima (1230) von Boncompagno da Signa sowie die Einleitung zur Chronica von Hugo von St. Victor, eine an Schüler gerichtete Anleitung für das Memorieren umfangreicherer Stoffe (De tribus maximis circumstantiis gestorum, um 1130), auf Thomasins Welschen Gast 8 an (Kap. A.6.3.). Stolz verweist auf die Diskrepanz zwischen Text und dem beigefügten Bildzyklus, der rein wissenschaftlich ausgeprägte AL-Personifikationen zeigt (vgl. Abb. 12 f.), während im Text die AL im Sinne der höfischen Verhaltenslehre moralisiert wurden. Nicht das wissenschaftliche Können steht im Vordergrund, sondern das sittlich einwandfreie Verhalten des gebildeten Herrschers. Der Text kann also nicht die direkte Vorlage für die Bilder sein. Die einzelnen AL-Darstellungen werden von einem leiterförmigen Schema aufgenommen, das laut Stolz nicht auf der Gewandgestaltung der Philosophie-Personifikation aus Boethius’ Consolatio philosophiae basiert, 9 sondern als eine Abfolge von Gedächtnisorten zu sehen sei, womit der Anweisung Hugos von St. Victor Folge geleistet werde, den Memorierstoff in gut zu bewältigende Einheiten zu unterteilen. Die Attribute der AL-Personifikationen klassifiziert Stolz als Gedächtnisbilder. 10

[20] 

Da sich die von Hugo vorgeschlagene Untergliederung auf größere Stoffmengen und deren Untereinheiten bezieht (Stolz selbst erwähnt die Anwendung auf die Erlernung der 150 Psalmen, S. 177), müsste das daraus resultierende loci-Raster in der Visualisierung wesentlich detaillierter ausfallen als die Bilderstreifen in Thomasins Welschem Gast – beispielsweise wie das Seiten füllende Gitterschema, in das sich der Bildzyklus zum Anticlaudianus im Ms. 215 der Gräflich von Schönbornschen Bibliothek zu Schloss Pommersfelden 11 einfügt (vgl. Besprechungsabschnitt zu Kap. B.3.), oder die Zehnerstrukturen der mnemotechnischen Bilderbibeln, die nicht nur den Psalter, sondern den gesamten Bibelstoff beinhalten. 12 Im Falle des Welschen Gastes handelt es sich in der Tat um leiterförmig angeordnete, architektonische Rahmungen, die keinen umfangreichen Stoff aufnehmen, sondern »nur« die AL-Personifikationen. Darüber hinaus ist es voreilig, die ihnen beigefügten Diagramme und Objekte, ausgehend von den Waffen (Schwert und Schild 13 ), die der Personifikation der Rhetorik beigegeben sind und in der antiken Redekunst als explizite Memorierbeispiele herangezogen werden, in ihrer Gesamtheit als imagines zu interpretieren. Wie das von einem Schwert durchbohrte Buch des hl. Bonifatius sind sie Attribute, die natürlich auch eine Gedächtnis stützende Komponente haben, da in ihnen essentielle Gegebenheiten aus der Historie der / des Dargestellten zusammenfließen. Doch eine personifizierte mnemotechnische Ars-Darstellung sähe anders aus: Um bzw. an einer Figur wären – wahrscheinlich in Abhängigkeit von Fünf- oder Zehnzahl oder in Relation zu ggf. zugrundeliegenden Kapitelzahlen – einzelne Gedächtnisbilder angeordnet, die sich auf die detaillierten Wissens- bzw. Merkinhalte zur jeweiligen Ars beziehen, vgl. das Frontispiz zu Aesopus: Vita et fabulae (Ulm, um 1476; GW 351), die mnemotechnischen Figuren in der Handschrift Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 5393 oder auch die Evangelistensymbole in den Blockbüchern der Ars memorandi (ab 1470). 14

[21] 

Es gelingt also keineswegs, Text und Bild im Welschen Gast auf der Basis der mittelalterlichen Gedächtniskunst in überzeugende Kongruenz zu bringen (vgl. S. 185). Doch Stolz zeigt eine andere, wesentlich einleuchtendere Lösung des Problems auf: eine Vermittlerpersönlichkeit, die die Ungereimtheiten zwischen Text und Bild vorlesend und interpretierend zu glätten vermochte (S. 182–184), was dann auch die Frage, ob ein autonomer oder ein von Thomasin instruierter Zeichner (hierzu tendiert Stolz) den AL-Zyklus schuf, müßig werden lässt (S. 172 f., 184 f.).

[22] 

Alanus ab Insulis: Anticlaudianus
(Kap. B)

[23] 

Die beiden Handschriften Verona, Biblioteca Capitolare, Ms. CCLI und Oxford, Corpus Christi College Ms. 59 (Oberitalien bzw. Gloucestershire, beide Mitte 13. Jahrhundert; Kap. B.1. u. B.2. [S. 202–224], Abb. 16–23 u. 24–29) sind die einzigen bekannten illuminierten Anticlaudianus-Handschriften, in denen die AL-Personifikationen eng an die Textgrundlage gebunden sind. In den nachfolgenden Beispielen nimmt der Textanteil ab, während die AL-Darstellungen an medialer Eigenständigkeit gewinnen, wobei ein verstärkter Einsatz mnemonischer Verfahren festzustellen sei. Sowohl bei dem italienischen als auch bei dem englischen Codex schreibt Stolz den Personifikationen Gedächtnis unterstützende Funktion zu. Wie historisierte Initialen erleichtern sie das Auffinden bestimmter Textstellen und das Wiedererinnern der Inhalte. Beide Handschriften dürften schulischen Zwecken gedient haben.

[24] 

Vom 13. bis zum 15. Jahrhundert existieren Paraphrasen (S. 213–215, 219–221), die den Anticlaudianus-Stoff kondensieren. Sie leisten auf der Textebene, was auf der visuellen Ebene Bildzyklen wie in der Schönbornschen Handschrift (Kap. B.3., siehe Anm. 11) bieten. Als mnemonische Basis zieht Stolz hier nochmals die von Hugo von St. Victor in seiner Vorrede zur Chronica beschriebene Gitterstruktur heran, wobei er fälschlicherweise die Schriftanteile (horizontale und vertikale Rahmeninschriften und Einzelwortinschriften) und nicht die einzelnen Felder des Gitters als Gedächtnisorte anspricht.

[25] 

Wie dehnbar die Interpretationen der theoretischen Gedächtniskunst-Grundlagen sein können, zeigt Stolz’ Zusammensicht der Einblattillustrationen (Stolz nennt sie »Artes-Signaturen«) in den Schwesterhandschriften Rom, Biblioteca Casanatense, Ms. 1404 und London, Wellcome Institute for the History of Medicine, Ms. 49 (wahrscheinlich Thüringen, Mitte 15. Jahrhundert 15 ; Kap. B.4. [S. 236–266], Abb. 35 f.) mit dem Traktat De memoria artificiali adquirenda (um 1333) von Thomas Bradwardine. Während er die Regel(n) Bradwardines, dass sich innerhalb eines Gedächtnisortes mehrere Bilder befinden, die untereinander in interagierender Verbindung stehen sollen, in den ohne feste Feldstruktur arbeitenden Einblattillustrationen verwirklicht sieht, nimmt M. Carruthers an, dass Bradwardines Anleitungen für die loci-Gestaltung von »picture-pages« wie im Evangeliar des hl. Augustinus (Cambridge, Corpus Christi College, Ms. 286 16 ) beeinflusst wurden, die ihrerseits ein Gitterschema zeigen, das exakt demjenigen in der Schönbornschen Handschrift (Kap. B.3.) entspricht. Stolz beharrt nicht auf zwingenden Abhängigkeiten zwischen De memoria artificiali adquirenda und den Einblattillustrationen, betont dann aber nochmals die Verbundenheit der Kompositionsanordnung mit der mittelalterlichen Gedächtniskunst, sprich: Bradwardine, wofür er jedoch nur ein einziges Argument, den Himmelswagen als Zentralmotiv, anführen kann (S. 262). Nur die Charakterisierung der Illustrationen als Lehr- und Lernbilder, deren meditative Betrachtung den Memoriervorgang unterstützt, vermag zu überzeugen – weniger ihre Ankoppelung an die Dynamisierungstendenz der mnemonischen Werke von Raimundus Lullus (alle Anfang 14. Jahrhundert), deren geometrische Abstraktheit – wie Stolz selbst bemerkt – nicht mit der »bildhaft-sinnlichen Vergegenwärtigung« scholastischer Artes memorativae in Einklang zu bringen ist (S. 263–266).

[26] 

Die Gestaltung der AL-Darstellungen im Adligat Salzburg, Universitätsbibliothek, M III 36 (Baden oder Basler Raum, 1436 / 1451; Kap. B.5. [S. 267–330], Abb. 39–42, 47–55) und auf dem Einblattholzschnitt Gotha, Schlossmuseum, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 1.4–6 (schwäbisch-ostfränkisch, 1493 [?]; Kap. B.6. [S. 331–412], Abb. 59) orientiert sich laut Stolz am ethisch ausgerichteten memoria-Entwurf des Albertus Magnus (De bono, um 1245: Der Mensch soll sein Gedächtnis einsetzen, um Vergangenes im Hinblick auf moralischeres Handeln in Gegenwart und Zukunft zu erinnern), dessen Darstellung das Salzburger Adligat beschließt. 17 Diese Konzeption passt sehr wohl zur Schaffung des homo novus, die im Anticlaudianus propagiert wird. Der Autor versteht die AL, denen Planeten-Personifikationen voranstehen (ff. 236r–239r), demnach als imagines corporales, die auf der Basis einer fabula ... composita ex miris (i.e. der Bau des Himmelswagens, der hier auf die Konstruktion eines einzelnen Rades reduziert wird) agieren. 18

[27] 

Da es im Überlieferungskontext des Gothaer Einblattholzschnittes eine Handschrift 19 aus dem Besitz des Augsburger Kaufmanns Claus Spaun d. J. gibt, in der die Einzeldarstellung der Astronomie (Abb. 65) aus dem Kontext des Gesamtholzschnittes herausgelöst (ausgeschnitten) und der bebilderten Druckfassung der Kunst der Gedächtnüß von Johannes Hartlieb (GW 2569, Anton Sorg, Augsburg, um 1490) vorangestellt wurde, sieht Stolz die konkrete Orientierung an einer zeitgenössischen (volkssprachlichen) Gedächtnislehre gegeben. Spaun, der die Handschrift selbst zusammenstellte und darin als Schreiber tätig war (ein geeigneter Beleg dafür, wie in jener Zeit Handschriftliches und Gedrucktes selbstverständlich miteinander kombiniert wurde, vgl. S. 408), habe die Astronomie-Darstellung als »willkommenes Demonstrationsobjekt des von Hartlieb dargelegten Memorierverfahrens« verwertet (S. 394). Und diesmal ist Stolz’ Beweisführung schlüssiger: Die quadratischen, gerahmten Felder, die im Einblattholzschnitt bilderstreifenartig aneinandergereiht bzw. gruppiert sind (Abb. 59), kann man als Gedächtnisorte – nach Hartlieb sind dies die Türen eines Hauses – akzeptieren (wobei jedoch die Prämisse der Fünfzahl 20 unberücksichtigt bleibt) und die Figuren mit ihren Beigaben als Gedächtnisbilder. Textbasis sind hier die Bildbeschreibungen mit Vorliebe für Septenarbildungen im Sammelcodex München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 3941 (aus dem Besitz des Augsburger Frühhumanisten Sigismund Gossembrot), die sich auf die sieben freien Künste als Handwerker, die AL mit ihren Begründern, sieben Vögel, sieben Farben, die Theologie in der Darstellung eines Welttoren und den Wagen der Theologie beziehen. 21 Dies führt bei den Verbildlichungen des Einblattholzschnittes zur Kombination der jeweiligen Ars und ihres Meisters mit je einem Vogel 22 und einem Spruchband, auf dem der Vers zur betreffenden Farbe geschrieben steht. 23 So erinnern sie an Gedächtnisfiguren mit umgebenden Einzelbildern (vgl. Anm. 14). Eine solche hat der Einblattholzschnitt in der Tat zu bieten, den Welttoren nämlich (vgl. S. 356 f.), der von der Forschung dementsprechend in den Kontext der mnemotechnischen Figuren des Codex 5393 der Österreichischen Nationalbibliothek eingereiht wurde. 24

[28] 

Im Zusammenhang mit den AL-Personifikationen im enzyklopädischen Vorspann der Handschrift Eichstätt, Universitätsbibliothek, Cod. st 213 (Oberbayern, 1418; Kap. B.7. [S. 413–528], Abb. 71–73) verweist Stolz überzeugend auf das Spannungsfeld zwischen »Körperlichkeit« und »Schriftlichkeit« in den Kommunikationsvorgängen der mittelalterlichen Kultur. 25 Er verquickt diesen Themenbereich mit den mnemonischen Ausführungen (Kommentar zu Aristoteles’ De memoria et reminiscentia und ein Abschnitt der Summa theologiae; beide um 1270) des Thomas von Aquin, 26 der erkannte, dass man Konkreta braucht, um Abstrakta zu erinnern und daher auf das System der antiken Gedächtnisorte und -bilder zurückgriff, das ganze Assoziationsketten auszulösen vermag (S. 421 f.). Stolz interpretiert die AL-Personifikationen im Eichstätter Zyklus, aus dem der Wagenbau gänzlich ausgespart ist (vgl. die Textgrundlage, das Compendium Anticlaudiani, S. 413–420 u. 221 f.), als aquinatische similitudines corporales, die als eine Vermittlungsform der kommunikativen Körperlichkeit im Mittelalter verstanden werden können (S. 430).

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Fazit

[30] 

Stolz’ umfangreiches Opus ist eine außerordentlich eingehende und präzise Analyse der Vermittlung von AL-Wissen im europäischen Spätmittelalter. Wissenschafts-, symbol- und mediengeschichtliche Aspekte werden miteinander verwoben, ohne Verwirrung zu erzeugen. Es ist dem Autor gelungen, insbesondere bei den »Fallstudien« zu den AL-Zyklen im Bereich der Alanus-Rezeption (Kap. B) auf der Basis von durchgängigen Untersuchungsleitfäden (symbolgeschichtlicher Ansatz der Warburg-Schule, systematische Analyse des Bezuges der AL-Personifikationen zur Textbasis des Anticlaudianus sowie der Anticlaudianus-Rezeptionszeugen untereinander, mnemonische Implikationen) ein komplexes, aber zugängliches und bestens begehbares Gedankengebäude zu errichten. Dazu tragen sowohl die sorgfältige kodikologische Materialerschließung 27 als auch die klaren Formulierungen bei, mit denen man vom Autor selbst bei komplizierten Sachverhalten sicher geführt wird. 28

[31] 

Klopft man die mnemonische Argumentation des Autors ab, so ergibt sich, dass ihre Tragfähigkeit bei der Interpretation des Welschen Gastes (Kap. A.6.3.) und im Bereich derjenigen Zyklen zu wünschen übrig lässt, bei denen die Darstellungen der AL-Personifikationen noch nahe am Handlungsgang des Anticlaudianus angesiedelt sind bzw. gerade dabei sind, sich von diesem zu lösen (insbesondere Kap. 6.3. und 6.4.). Je mehr sich der Bezug der Darstellungen zur Textbasis lockert, desto hilfreicher sind die mnemonischen Interpretationshilfen, die insbesondere auf die einschlägigen Werke von Albertus Magnus und dessen Schüler, Thomas von Aquin, zurückgreifen (Kap. 6.5. bis 6.7.).



Anmerkungen

S. 173 wird auf Abb. 131 verwiesen, die es nicht gibt.   zurück
Daher auch der Untertitel »Formationen des Wissens im Mittelalter«: Stolz versteht darunter »symbolische Ausprägungen und Ordnungen des aus der Antike ererbten Kanons der sieben freien Künste« (S. 108 f.).   zurück
Hochzeit Merkurs mit Philologia, die als Brautgabe die AL erhält, geschrieben im 5. Jh. n. Chr., Notkers Übersetzung ca. 1000.   zurück
Enzyklopädischer Abriss der Heilsgeschichte (2. Hälfte 12. Jahrhundert); die AL eingefügt zwischen Sintflut und dem Turmbau zu Babel.   zurück
Höfische Verhaltenslehre (1215/16), AL im 7. Buch.   zurück
1182/83 entstandenes Hexameterepos in neun Büchern, AL in den Büchern II–IV: Unter der Leitung von Prudentia bauen die AL einen Wagen, mit dem eine Gesandtschaft von Tugenden zum Himmel auffährt, um von Gott eine vollkommene Seele für die Erschaffung eines neuen, göttlichen Menschen zu erbitten.   zurück
Stolz verwendet konsequent den Begriff »Mnemonik«, der hier als philosophisch-erkenntnistheoretische Kategorie im Unterschied zur praxisorientierten Mnemotechnik zu verstehen ist; vgl. Begriffsdefinition bei J. J. Berns / W. Neuber: Mnemonik zwischen Renaissance und Aufklärung. In: J. J. B. / W. N. (Hg.): Ars Memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750. Tübingen 1993, S. 373 f.   zurück
23 erhaltene Handschriften, davon 13 mit AL-Zyklus illustriert (S. 160 im Widerspruch zu S. 167, wo Stolz nur neun bebilderte Handschriften angibt); der älteste Zeuge: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 389 (wohl Mitte 13. Jahrhundert).   zurück
Annahme von M. W. Evans, vgl. S. 173, Anm. 177 und Abb. 14.   zurück
10 
Zu dieser Argumentation: S. 173–179; Stolz verwendet zwar auch den Begriff »Attribut«, der jedoch nicht im Register ausgeworfen wird.   zurück
11 
Aus St. Peter von Kastl, Mitte 14. Jahrhundert, befindet sich als Dauerleihgabe in Nordamerika; zu diesem Zyklus: S. 225–235, Abb. 31–34; Erwähnung der Einleitung zu De tribus maximis circumstantiis gestorum als Inspirationsquelle für den AL-Zyklus im Welschen Gast: S. 231 f.   zurück
12 
S. Rischpler: Biblia Sacra figuris expressa. Mnemotechnische Bilderbibeln des 15. Jahrhunderts. Wiesbaden 2001.   zurück
13 
Beischrift: »Age defende«, hierzu S. 168.   zurück
14 
Zum Ulmer Aesop vgl. L. Fischel: Bilderfolgen im frühen Buchdruck. Konstanz 1963, S. 41–43; zum Cod. 5393: Handschrift des 15. Jahrhunderts, Figuren auf ff. 329r–338r, vgl. S. Rischpler: Die Ordnung der Gedächtnisfiguren. In: Codices manuscripti 48/49 (2004), S. 73–87; zur Ars memorandi: u.a. H. Rosenfeld: »Ars memorandi«. In: Lexikon des gesamten Buchwesens. 2. Aufl. Bd. 1. 1986, S. 144 f.   zurück
15 
Zu Lokalisierung und Datierung: S. 237 f.   zurück
16 
M. Carruthers: The Book of Memory. Cambridge 1990, S. 249, Abb. 29 (f. 125r). Thomas Bradwardine war Bischof von Canterbury, wo sich das im 6. Jahrhundert in Italien entstandene Evangeliar im 14. Jahrhundert befand.   zurück
17 
Fol. 243v (Abb. 55): Er deutet auf ein Sphärenmodell und bindet somit die Planeten-Darstellungen in den Gesamtzusammenhang des Zyklus ein. Er verdeutlicht gemeinsam mit Petrus Lombardus (f. 243r, Abb. 54), der die theologische Zielsetzung der menschlichen Beschäftigung mit den Wissenschaften verkörpert, und mit den antiken Autoritäten, die die AL begleiten, die wissenschaftliche Integration der Theologie in den astronomisch-astrologischen Kontext des Adligats.   zurück
18 
Für die Medaillonrahmen sowie für die Darstellungen der Grammatik und Rhetorik sorgfältige und überzeugende ikonographische Herleitung von Kalenderbildern, die oft im Überlieferungszusammenhang mit Planetenbüchern und -traktaten stehen (S. 287 f.; Kalender: Abb. 57 f., die man sich größer wünscht).   zurück
19 
Sammelhandschrift Hannover, Kestner-Museum, Inv. Nr. E 73 (= H2; S. 333, Abb. 65–67).   zurück
20 
Vgl. S. Heimann-Seelbach: Ars und scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur im 15. Jahrhundert. Tübingen 2000, S. 89.   zurück
21 
Diese Beschreibungen auf ff. 30r–32v des Clm 3941; zur Textgeschichte S. 338.   zurück
22 
Ausführlicher Nachweis der bislang unerkannten mnemotechnischen Funktion geflügelter Tiere im Zusammenhang mit AL-Darstellungen: S. 396, Anm. 199.   zurück
23 
Koloriert ist der Einblattholzschnitt jedoch nicht; nur in den beiden Sammelhandschriften (Hannover, Kestner-Museum, Inv. Nr. E 128 = H1; S. 332, Abb. 60–63 sowie H2, vgl. Anm. 19) aus dem Besitze Spauns wurden die ausgeschnittenen Artes-Bilder – wahrscheinlich von Spaun selbst – ausgemalt.   zurück
24 
K.-A. Wirth: Neue Schriftquellen zur deutschen Kunst des 15. Jahrhunderts. Einträge in einer Sammelhandschrift des Sigmund Gossembrot (Cod. lat. mon. 3941) In: Städel-Jahrbuch, NF 6 (1977), S. 367–371.   zurück
25 
Vgl. S. 429 f. sowie B.7.3. (»Wissensvermittlung als Inszenierung von Körper und Schrift«, S. 512–528, hier insbes. S. 515); bei der Interpretation des Körpergebarens ist Vorsicht geboten: Weder ist das Augenpaar der Sapientia (f. 3r, Abb. 71) expressiv, noch das Gesicht der Logik hohlwangig-blass dargestellt (f. 3v, A. 72).   zurück
26 
Seine Darstellung leitet in diesem Codex den AL-Zyklus ein: Zusammen mit Alanus ab Insulis flankiert er die thronende Theologie (f. 3v, Abb. 72).   zurück
27 
Der Autor liefert stets aktuelle Informationen zu Lokalisierung (auch auf der Basis der Schriftsprache: z.B. S. 269–272 zum Adligat Salzburg, Universitätsbibliothek, M III 36), Datierung (auch mit Hilfe von Wasserzeichen: z.B. S. 271 zum Salzburger Adligat), Beschreibstoff, Maßen, Inhalt, auch zu dem über die AL-Zyklen hinausgehenden Buchschmuck, so er gliedernde Funktion besitzt (z.B. S. 203 zu Verona, Biblioteca Capitolare, Ms. CCLI; S. 216 zu Oxford, Corpus Christi College, Ms. 59); wenn mit dem Aufbau der Hs. bzw. mit der Positionierung(shistorie) des jeweiligen AL-Zyklus wichtige überlieferungsgeschichtliche Informationen verbunden sind, dann auch Angabe der Lagenformel (z.B. S. 227 zu Pommersfelden, Schönbornsche Bibliothek, Ms. 215).   zurück
28 
Es gibt nur wenige terminologische Unsicherheiten: So handelt es sich bei den »Handdarstellungen« (S. 217) wahrscheinlich um Nota- bzw. Zeigehände; Rhetorik und Geometrie stehen nicht auf (ornamentalen) »Podesten«, sondern auf ionischen Kapitellen (S. 217, Abb. 26 u. 29); nur die Rhetorik ist im Halbprofil dargestellt (S. 419), die anderen Personifikationen sind im Dreiviertelprofil zu sehen. – An dieser Stelle auch der Hinweis auf eine Fehldeutung (S. 605): Bei dem Gebilde, das der Bürger unter den Angehörigen des Tugendadels trägt (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 3941, f. 18v, Abb. 112), handelt es sich mit Sicherheit um einen Rundspiegel; vgl. die auf fol. 4r der Handschrift Eichstätt, Universitätsbibliothek, Cod. st 213 (Abb. 72) zu sehende Dreiergruppe solcher Rundspiegel (die der Autor korrekt identifiziert) sowie W. Brückner: Spiegel des 15. und 16. Jahrhunderts. Probleme der Identifikation von Sachkultur auf Bildzeugnissen. In: Volkskunst 10 (1978), S. 40–46.   zurück