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Am Anfang war das Bild

Der Medienwandel des 15. Jahrhunderts aus kunsthistorischer Perspektive

  • Peter Schmidt: Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Zum Gebrauch von Druckgraphik im 15. Jahrhundert. (Pictura et Poesis 16) Köln, Weimar: Böhlau 2003. IX, 512 S. 243 s/w Abb. EUR (D) 96,00.
    ISBN: 978-3-412-11902-7.
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Der Übergang von der Handschrift zum gedruckten Buch um die Mitte des 15. Jahrhunderts wird zumeist primär im Hinblick auf die Überlieferung und Rezeption von Texten analysiert. Dass der Medienwandel auch Veränderungen im Hinblick auf die Bildverwendung nach sich zog, gerät dagegen nur selten in den Blickpunkt, da sich kunsthistorische Studien eher mit Fragen nach der Entstehung neuer Bildformen und -techniken befassen, Philologen aber illustrierte Werke oder Gattungen meist im Hinblick auf Text-Bild-Bezüge untersuchen. Einen dezidiert anderen, interdisziplinären Zugang wählt Peter Schmidt für seine Berliner Dissertation von 1995: sein Interesse gilt den Gebrauchszusammenhängen, in denen Druckgraphik in der Übergangsphase von der handschriftlichen Textverbreitung zum illustrierten Buch auftritt. Schmidt wendet damit Methoden, die vor allem in der Germanistik seit den 1970er Jahren im Rahmen der überlieferungsgeschichtlichen Prosaforschung 1 entwickelt wurden, auf einen von der Kunstgeschichte bisher weitgehend vernachlässigten Gegenstand an: Handschriften, die mit eingeklebter, gelegentlich auch eingestempelter Druckgraphik ausgestattet wurden. Schmidt untersucht die Codices im Zusammenhang ihrer Provenienzen, wobei er neue Erkenntnisse zur Herstellung solcher bebilderter Handschriften und zu ihrer Verwendung gewinnt. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Bibliothek eines Frauenklosters, des Nürnberger Dominikanerinnenklosters St. Katharina, aus dem die größte Zahl von Handschriften mit Graphikausstattung erhalten ist. Ihm gegenübergestellt werden die Handschriften anderer Frauen- und Männerklöster sowie vergleichbare Codices, die von gewerblichen Buchschreibern hergestellt wurden. Als ein Buchtypus, bei dem die Bebilderung mit Graphik integraler Bestandteil war, werden schließlich in einem abschließenden Kapitel die Passionsgebetbücher behandelt.

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Eine Mischform zwischen Handschrift
und gedrucktem Buch

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Während die mittelalterliche Handschrift durch mehrere Personen in sukzessiven Arbeitsschritten von Hand hergestellt (geschrieben, rubriziert, ausgemalt) wurde, sind bei der Herstellung eines illustrierten Drucks Text und Bild von vornherein als Einheit konzipiert und aufeinander abgestimmt. Die mit Graphik ausgestattete Handschrift nimmt eine Zwischenstellung zwischen diesen beiden Formen der Buchproduktion ein und verdeutlicht so, daß die Erfindung des Holzschnitts und des Buchdrucks im 15. Jahrhundert keine abrupte Ablösung des älteren Mediums durch das neue – im Sinne der viel strapazierten ›Medienrevolution‹ – zur Folge hatte, sondern dass in der Übergangsphase mit verschiedenen Mischformen experimentiert wurde. Zu ihnen sind neben Handschriften mit gedruckten Bildern z.B. Blockbücher 2 zu rechnen, bei denen in Holzschnitttechnik vervielfältigte Bilder mit handschriftlichem, typographischem oder ebenfalls in Holz geschnittenem Text versehen wurden. Während Blockbücher in mehreren, jedoch meist nicht völlig identischen Exemplaren hergestellt werden konnten, ist jede mit eingeklebter Graphik versehene Handschrift ein Unikat. Eine Aufarbeitung der verschiedenen Bildmedien des 15. Jahrhunderts – neben bebilderten Handschriften und Blockbüchern auch illustrierte Einblattdrucke, Inkunabeln und Graphikzyklen – bleibt weiterhin ein dringendes Desiderat.

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Zwar wurden die in Handschriften eingeklebten Bilder, meist Bildzyklen, in größerer Zahl produziert; nur von wenigen Blättern haben sich aber mehrere Exemplare erhalten. Dies macht deutlich, dass die Verwendung für die Buchillustration nur eine von vielen Formen des spätmittelalterlichen Gebrauchs gedruckter Bilder war. Indem man sie in Handschriften einklebte, wurden einzelne Graphikblätter davor bewahrt, wie die meisten anderen Beispiele dieses Mediums der Vergänglichkeit anheimzufallen. Obwohl also die in Handschriften erhaltenen Holzschnitte und Kupferstiche nur einen kleinen Ausschnitt der tatsächlichen Bildproduktion des 15. Jahrhunderts darstellen und somit nur eingeschränkt Rückschlüsse auf die inhaltliche Bandbreite der Bildgattungen oder ihre künstlerische Gestaltung erlauben, können an ihnen Erkenntnisse über Produktionsabläufe und Gebrauchsformen gewonnen werden, die allgemeinere Gültigkeit beanspruchen können.

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Die Vernachlässigung dieses Buchtyps durch die Forschung erklärt sich zumindest teilweise dadurch, dass viele Handschriften mit eingeklebter Graphik dem Systematisierungsdrang des 19. Jahrhunderts zum Opfer fielen. Als nach der Säkularisation Klosterbibliotheken in öffentliche Sammlungen überführt wurden, erwiesen sich derartige Mischformen bei der Aufteilung zwischen Archiven, Bibliotheken und Museen als Problem: Handschriften wurden als Textträger in Bibliotheken zugänglich gemacht, Druckgraphik dagegen in museale Sammlungen überführt. Da nur die Trennung des Museumsguts ›Bild‹ vom Bibliotheksgut ›Buch‹ eine systematische Ordnung, Inventarisierung und Erforschung des jeweiligen Mediums zu erlauben schien, wurde die eingeklebte Graphik aus vielen derartigen Codices entfernt. Die Analyse von konzeptionellen und rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhängen blieb dabei jedoch auf der Strecke: in graphischen Sammlungen wurden Bilder erforscht, über deren Herkunft nur noch wenig bekannt war; in Bibliotheken katalogisierte man Texte, ohne ehemals vorhandenen Illustrationen Aufmerksamkeit zu schenken. Diese separaten Traditionen wieder einander angenähert zu haben, ist das Verdienst der Arbeit Peter Schmidts, das umso höher zu schätzen ist, als die schmale Materialgrundlage bis heute nur in sehr heterogenen und unzureichenden Verzeichnissen nachgewiesen ist, also zunächst in langwieriger Archivarbeit zu erschließen war.

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Anlage der Arbeit

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Nach einer Einleitung, die Forschungsstand und Methodik skizziert (S. 1–17), behandelt Schmidt in drei Kapiteln sehr unterschiedlichen Umfangs und Gewichts die Verwendung von Druckgraphik in süddeutschen Klosterbibliotheken (S. 19–223), durch gewerbliche Buchschreiber (S. 225–250) und zur Illustration einer bestimmten Textart, nämlich der Passionsgebetbücher (S. 251–307). Die Materialgrundlage der Arbeit, die untersuchten Handschriften, ist in einem Katalog detailliert erfaßt (S. 317–456) und in den 243 Schwarz-Weiß-Tafeln des Abbildungsteils dokumentiert.

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Bebilderte Handschriften aus Frauenklöstern:
der Fall des Nürnberger Katharinenklosters

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Der klösterliche Bildgebrauch ist also das zentrale Thema der Arbeit, wobei das Dominikanerinnenkloster St. Katharina in Nürnberg im Mittelpunkt steht, da aus ihm die größte Zahl von Handschriften mit eingeklebter Druckgraphik erhalten geblieben ist. 23 Handschriften mit über 130 Holz- und Metallschnitten aus dem Katharinenkloster sind heute noch nachweisbar; hinzu kommen 85 Holzschnitte, die ehemals auf eine Holztafel aus dem Kloster aufgeklebt waren. Die Handschriften werden im Detail analysiert (S. 19–101), sowohl im Hinblick auf ihre individuelle Entstehung als auch auf typische Formen der Bildverwendung, und in einen funktionsgeschichtlichen Kontext gestellt. Wie Schmidt zeigen kann, bestand zwischen den Nonnen und den sie geistlich betreuenden Brüdern aus dem Nürnberger Dominikanerkloster ein enger Austausch.

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Eine besonders gründliche Analyse gilt dem ›Gulden puchlein‹, »eine[m] der ältesten vollständig erhaltenen Codices mit umfangreicher, genau geplanter Textillustration durch Druckgraphik« (S. 24). Die mit 70 Holzschnitten illustrierte Handschrift, die heute als Dauerleihgabe der Staatlichen Graphischen Sammlung München in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt wird, war für das Katharinenkloster bestimmt und enthält u.a. das ›Marienleben‹ des Heinrich von Sankt Gallen, das meistgelesene Erbauungsbuch des 15. Jahrhunderts. 3 Der Text wurde 1450 vom Dominikaner Conrad Forster geschrieben; die eingeklebten Bilder waren zum Teil von Nonnen an seinen Bruder geschenkt worden; das fertige Buch wurde schließlich in der Buchbinderwerkstatt des Dominikanerklosters mit einem Einband versehen. Dass das ›Gulden puchlein‹ auch außerhalb der Klostermauern bekannt war, bezeugt eine Abschrift, die ein weltlicher Nürnberger Schreiber 1466 für sich anfertigte.

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Die Holzschnitte, ein einleitender Bildteil mit exempla für weibliche Religiosen und in den Text integrierte Zyklen zum Marien- und Christusleben, lassen sich mehreren Gruppen zuordnen. Einige Bilder umgeben Holzschnittbordüren, die derselben Werkstatt zugewiesen werden können und auch in anderen Handschriften aus dem Katharinenkloster verwendet wurden. Schmidt hebt hervor, dass »stilistische Unterschiede eher durch die Arbeitspraktiken im damaligen druckgraphischen Gewerbe denn durch Händescheidung zu erklären« (S. 33) seien: ein Formschneider konnte Holzschnitte nach Vorlagen verschiedener Herkunft herstellen, ein Drucker über Holzstöcke verschiedener Herkunft verfügen, ein Maler die Abdrucke dann aber einheitlich kolorieren. Die Holzschnitte des ›Gulden puchlein‹ belegen so die Trennung von Schnitt, Druck und Kolorit bei der Bildherstellung und zeigen zudem, dass stilistische Abgrenzungen bei Graphik, die Vorlagen unterschiedlicher Künstler und unterschiedlichen Alters reproduziert, ihre Aussagekraft verlieren.

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Das große Interesse der Nürnberger Dominikanerinnen an gedruckten Bildern und ihren engen Austausch mit dem Männerkloster lassen auch andere Handschriften aus der Klosterbibliothek erkennen: ein mit Holzschnitten illustriertes Gebetbuch wurde einer Nonne von einem Dominikaner geschenkt; ausgelöste Kupferstiche aus dem Dominikanerkloster waren ursprünglich in Handschriften mit deutschen Texten eingeklebt, die wohl für Frauen intendiert waren; Codices, in die Holzschnitte als Titelbilder eingebunden wurden, zeigen eine Mitwirkung der Dominikaner bei der gemalten Ausstattung und den Einbänden. Im Gegensatz zu Illustrationen, die schon bei der Niederschrift des Texts eingeplant waren, wurden aber auch Holzschnitte erst sekundär in Handschriften gesammelt, wie Blätter aus dem Besitz der Katharina Tucher belegen, die nach ihrem Tod in Bücher geklebt wurden. Nagellöcher in diesen Blättern könnten Schmidt zufolge auf eine Fixierung beim Durchpausen hindeuten – die naheliegendere Erklärung, dass es sich dabei um Spuren der primären Verwendung der Bilder als Wandschmuck oder Möbeldekor handeln könnte, erscheint wohl zu einfach, zumal Schmidt auch Tafelbilder, die solche Interieurs darstellen, als symbolhaft stilisierte Bilderfindungen, nicht realitätsgetreue Abbilder erweisen möchte. Eine mit Druckgraphik beklebte Bildtafel aus dem Katharinenkloster vermag nur noch wenige Aufschlüsse über andere Formen der Bildverwendung zu geben, da die Blätter nach 1811 abgelöst wurden und kein Bildprogramm mehr erkennbar ist. Die Blätter entstanden vermutlich in der gleichen Druckwerkstatt, die Holzstöcke waren aber unterschiedlicher Herkunft und stammen zum Teil sogar aus Italien.

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Die Annahme der Forschung, die Dominikanerinnen hätten selbst Bilddrucke angefertigt, stellt Schmidt in Frage, da sie nur auf der Überlieferung von Farbrezepten und anderen einschlägigen Texten in Handschriften aus dem Kloster basiert. Er betont stattdessen die Zusammenarbeit der Schwestern mit externen ›Dienstleistern‹: Malanweisungen belegen, dass von den Nonnen geschriebene Codices von einem Buchmaler außerhalb des Klosters ausgestattet wurden. Holzschnitte konnten die Schwestern selbst einkleben und so geistliche Gebrauchsliteratur mit Bildern versehen, die eine Verwendung der Texte für Erbauung und Gebet unterstützten. Die geistlichen Betreuer der Schwestern leiteten diese zur Buchherstellung an und sorgten so für den richtigen Umgang mit den Bildern; die Druckgraphik stellte damit ein zentrales Hilfsmittel bei der Durchsetzung der strengen Observanz in den reformierten Frauenklöstern dar. 4 Das Katharinenkloster pflegte aber – zumindest nach dem Befund der erhaltenen Bücher – diese Praxis offensichtlich sehr viel intensiver als andere Frauenklöster, wie Schmidts Gegenüberstellung zu erhaltenen Handschriften aus Dominikanerinnenklöstern in Colmar, Straßburg, Bamberg und Altenhohenau, dem Nürnberger Klarissenkloster und den Augustiner-Chorfrauenstiften Inzigkofen und Pillenreuth (S. 101–145) erweist.

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Bebilderte Handschriften
aus Männerklöstern

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Nicht nur aus Frauenklöstern, sondern auch aus Männerklöstern sind bebilderte Handschriften erhalten. Schmidt untersucht daher im nächsten Abschnitt seiner Arbeit (S. 146–223) die Druckgraphik, die aus Handschriften der Benediktinerklöster Tegernsee, 5 Andechs, St. Emmeram in Regensburg und Kastl stammt. Er kann nachweisen, dass es sich bei vielen Codices um Geschenke handelt, in die wohl erst nach ihrer Übergabe an das Kloster und damit lange nach der Entstehung der Handschriften Graphikblätter eingeklebt wurden. In einigen Handschrift waren die Illustrationen jedoch Bestandteil des ursprünglichen Konzepts und dienten als Medium zur visuellen Erkenntnis Gottes; die Holzschnitte können so als Reflexe der zeitgenössischen Diskussion zwischen Tegernseer Mönchen und prominenten Theologen wie Nikolaus Cusanus gedeutet werden. Die weit gespannten internationalen Beziehungen des Klosters zeigen sich auch in der Herkunft der Graphiken, die erheblich weiter gestreut ist als im Falle des Nürnberger Dominikanerinnenklosters: neben Blättern aus Bayern waren auch Graphiken vom Ober- und Niederrhein vorhanden. Dass Holzschnitte im Kloster selbst produziert wurden, zweifelt Schmidt trotz enger Bezüge zum Kloster an, die in Darstellungen des Wappens oder Patrons sichtbar werden. Stattdessen vermutet er – in Analogie zur Herstellung von Handschriften durch Lohnschreiber – eine Anfertigung durch externe ›Dienstleister‹ im Auftrag des Klosters, also eine Nutzung moderner, rationeller Produktionsstrukturen.

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Einen anderen Befund zeigen die mit Graphik illustrierten Handschriften aus dem Regensburger Kloster St. Emmeram, das nach Tegernsee über die zweitgrößte Bibliothek verfügte, 6 aus dem aber erheblich weniger Holzschnitte erhalten sind. Sie wurden fast durchwegs erst relativ spät, im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts, in ältere Handschriften eingeklebt; eine Koordination von Text und Bild lässt sich nicht beobachten. Diese Unterschiede führt Schmidt auf die – im Vergleich zu Tegernsee – weniger aktive Beteiligung des Klosters an monastischen Reformbewegungen zurück. Ein mit Nürnberger Holzschnitten ausgestattetes Beutelbuch von 1454 aus dem oberpfälzischen Kloster Kastl, 7 dem neben Melk wichtigsten Reformzentrum Süddeutschlands, ist eine der wenigen Relikte dieser fast völlig verlorenen Klosterbibliothek; eine systematische Untersuchung der Auswirkungen der Kastler Reform auf die Buchkultur steht noch aus.

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Gewerbliche Buchschreiber

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Auch gewerbliche Buchschreiber nutzten das neue Medium des Holzschnitts für die Ausstattung von Handschriften. Zu ihnen gehören Leonhard Taichstetter aus München, von dem zwei reich illustrierte Heilsspiegel erhalten sind, und Konrad Bollstatter aus Oettingen, dem drei Handschriften zugewiesen werden können (S. 225–250). Beide zeigen, daß Druckgraphik von sehr verschiedenartigen Schreibern für ganz unterschiedliche Zwecke verwendet wurde: Taichstetter hatte in Wien studiert und fertigte als Lohnschreiber für verschiedene Klöster und Privatleute Handschriften an; eine von ihm benutzte Passionsfolge hat sich auch in Tegernseer Handschriften erhalten. Für den lateinischen und den zweisprachigen Heilsspiegel war eine große Zahl von Illustrationen erforderlich; die Graphiken ermöglichten eine rationelle Serienproduktion. Taichstetter erkannte also das Potential der neuen Technik zur Effizienzsteigerung; er steht damit am Übergang vom Handschriftenschreiber zum Buchdrucker und ist so Zeitgenossen wie dem Augsburger Drucker Johannes Bämler vergleichbar. Bollstatter dagegen war als Kanzleischreiber der Grafen von Oettingen tätig; daneben schrieb er deutsche Texte für städtische und adlige Auftraggeber ab und illustrierte sie mit Federzeichnungen. Kupferstiche und Holzschnittinitiale dienten ihm als Ersatz für andere Illustrationen; die so bebilderten Codices wurden nicht verkauft, sondern blieben im Besitz des Schreibers.

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Ein neuer Buchtypus:
das Passionsgebetbuch

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Viele der von Schmidt behandelten Handschriften sind mit Passionszyklen oder einzelnen Passionsdarstellungen illustriert. 8 Bei den enthaltenen Texten handelt es sich häufig um Gebete. Einen Sondertypus stellen Passionsgebetbücher dar, »deren gesamte Struktur durch die druckgraphischen Illustrationen bestimmt ist« (S. 251). Im letzten Kapitel seiner Arbeit (S. 251–307) stellt Schmidt eine Reihe von Handschriften vor, die sich diesem Typ zuordnen lassen: ein »Holzschnitt-Bilderbüchlein zur Passionsandacht« im Berliner Kupferstichkabinett sowie ein Laien-Gebetbuch mit eingedruckten Holzschnitten in der New York Public Library. Ein weiteres Beispiel für die Serienproduktion bebilderter Codices ist eine Gruppe von Handschriften, deren Texte auf einer gemeinsamen Tradition basieren und zu der auch einer der frühesten illustrierten deutschen Drucke gehört: die mit Metallschnitten ausgestattete Stöger-Passion von etwa 1461. Dass für die Bebilderung von Passionsgebetbüchern alle verfügbaren graphischen Techniken genutzt wurden, belegt eine Kupferstichfolge aus dem Salzburger Benediktinerinnenstift Nonnberg. Verstreute Gebetbuchfragmente machen deutlich, mit welch hoher Verlustquote zu rechnen ist.

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Die Entstehung dieses Buchtyps ist mit dem Aufkommen kleinformatiger Passionszyklen in den 40er Jahren des 15. Jahrhunderts in Zusammenhang zu sehen, die sich – anders als die älteren großformatigen Blätter – für die Buchillustration eigneten. Die Holzschnitte des ›Gulden puchlein‹ und die auf sie zurückgehenden Kopien, der »umfang- wie auch erfolgreichste Holzschnittzyklus des Lebens und Leidens Christi und Mariae« (S. 304), sind vor 1450 zu datieren, als eine Massenproduktion von Kupferstichfolgen am Niederrhein und in den Niederlanden einsetzte. Um diese Zeit ist auch eine sprunghafte Zunahme von Abschriften von Texten wie dem Marienleben des Heinrich von Sankt Gallen 9 zu verzeichnen – die durch die Reformbewegungen ausgelöste Steigerung der klösterlichen Schreibtätigkeit hatte also eine zunehmende Nachfrage nach Illustrationen zu Folge, die durch seriell herstellbare druckgraphischer Bilder befriedigt wurde. Text- und Bildüberlieferung stehen also in einer engen Wechselbeziehung.

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Erkenntnisgewinn

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Während der Zusammenhang von spätmittelalterlichen Klosterreformen und der Verbreitung besonders auch deutschsprachiger geistlicher Literatur seit den 1970er Jahren von der germanistischen Forschung an zahlreichen Beispielen dargelegt wurde, konnte Schmidt erstmals aufgrund einer breiten Materialbasis belegen, dass dieser Zusammenhang auch im Bereich der Bildherstellung und -verwendung zu beobachten ist. Das neue Medium des Holzschnitts eignete sich dabei besonders für die Erfüllung eines pragmatischen Bildbedarfs und ermöglichte eine Bebilderung vorher nicht illustrierter Werke mit geringem Aufwand und auf vergleichsweise geringem Anspruchsniveau. Die Erfindung des Buchdrucks erleichterte die serielle Produktion illustrierter Bücher weiter; Handschriften mit eingeklebter Druckgraphik sind somit das Phänomen einer Übergangsphase zwischen manueller und mechanischer Vervielfältigung von Texten und Bildern.

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Schmidt Verdienst ist es, Methoden der philologisch-historischen Forschung erstmals konsequent auf einen von der Kunstgeschichte weitgehend vernachlässigten oder abgewerteten Quellentyp angewandt und damit durch Verwaltungskonventionen und Wissenschaftstraditionen errichtete Grenzen überwunden zu haben, die einem angemessenen Verständnis des Materials zuwiderliefen. Dass etablierte Verfahren der kunsthistorischen Forschung wie Stilkritik und Formgeschichte auf reproduzierende Graphik nicht anwendbar sind, wird zu recht wiederholt betont und statt dessen der Wert kodikologischer, provenienz- und überlieferungsgeschichtlicher Präzisionsarbeit eindrucksvoll demonstriert. Schmidts sorgfältigen Detailuntersuchungen verdankt sich eine Fülle neuer Befunde zur Entstehung und Verwendung der behandelten Handschriften, aber auch zahlreiche generalisierbare Erkenntnisse über die Graphik- und Buchproduktion im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts.

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Zu bedauern ist allenfalls, dass – wohl aus herstellungstechnischen Gründen – keine konsequente Verzahnung des Darstellungsteils der Arbeit mit der Materialdokumentation im Handschriftenkatalog (S. 317–456) erfolgte; auf die Verwendung von Handschriftensiglen und auf Querverweise wurde im Darstellungsteil bedauerlicherweise verzichtet. Angesichts der Fülle der herangezogenen Beispiele und der stellenweise sehr dichten Argumentation hätten hier dem Leser noch zusätzliche Hilfestellungen gegeben werden können. Den Band beschließen ein Bibliographie (S. 457–497), ein Register der Handschriften (S. 501–505) und der Orte und Personen (S. 506–511) sowie 243 Schwarz-Weiß-Abbildungen, die leider als separater Bildteil geboten werden und nicht in den Darstellungstext integriert werden konnten.

 
 

Anmerkungen

Kurt Ruh (Hg.): Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. (Texte und Textgeschichte 19) Tübingen: Niemeyer 1985.   zurück
Eine systematische Aufarbeitung aus kunsthistorischer und philologischer Perspektive steht noch aus. Immer noch grundlegend: Wilhelm Ludwig Schreiber: Manuel de l’amateur de la gravure sur bois et sur métal au XVe siècle. Bd. IV: Catalogue des livres xylographiques et xylo-chirographiques. Leipzig 1902. W. L-S.: Handbuch der Holz- und Metallschnitte des XV. Jahrhunderts. Stark verm. und bis zu den neuesten Funden ergänzte Umarbeitung des Manuel de l'amateur de la gravure sur bois et sur métal au XVe siècle. 8 Bde. Leipzig 1926–1930. Überblick über die erhaltenen Blockbücher: Blockbücher des Mittelalters. Bilderfolgen als Lektüre; Gutenberg-Museum, Mainz, 22. Juni 1991 bis 1. September 1991. Hg. von Gutenberg-Gesellschaft und Gutenberg-Museum. [Katalogtexte: Sabine Mertens, Elke Purpus und Cornelia Schneider]. Mainz: Zabern, 1991, S. 354–395. Als vorbildhafte Quellenerschließung zuletzt: A catalogue of books printed in the fifteenth century now in the Bodleian Library by Alan Coates, Kristian Jensen, Cristina Dondi, Bettina Wagner, and Helen Dixon. 6 Bde. Oxford: Oxford University Press 2005. In Bd. 1, S. 7–21: Nigel F. Palmer, Blockbooks, woodcut and metalcut single sheets.   zurück
Vgl. dazu Hardo Hilg: Das »Marienleben« des Heinrich von Sankt Gallen. Text und Untersuchung; mit einem Verzeichnis deutschsprachiger Prosamarienleben bis etwa 1520. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 75) München: Artemis 1981.   zurück
Zur Reform des Katharinenklosters vgl. zuletzt: Antje Willing: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster. (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 4) Münster u.a.: Waxmann 2004 (Teilw. zugl.: Erlangen-Nürnberg, Univ., Diss., 2000). Rezensiert für IASLonline von Falk Eisermann (13.10.2005): URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Eisermann3830913311_1032.html (Datum des Zugriffs: 27.03.2007). – Barbara Steinke: Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinenkloster zwischen Klosterreform und Reformation. (Spätmittelalter und Reformation Neue Reihe 30) Tübingen: Mohr Siebeck 2006.   zurück
Vgl. zur Tegernseer Bibliothek auch Christian Bauer: Geistliche Prosa im Kloster Tegernsee. Untersuchungen zu Gebrauch und Überlieferung deutschsprachiger Literatur im 15. Jahrhundert. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 107) Tübingen: Niemeyer 1996. Immer noch grundlegend: Virgil Redlich: Tegernsee und die deutsche Geistesgeschichte im 15. Jahrhundert. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 9) München: Verl. der Komm. 1931.   zurück
Hierzu grundlegend: Bernhard Bischoff: Studien zur Geschichte des Klosters St. Emmeram im Spätmittelalter (1324–1525). In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 65 (1953/54), S. 152–198. Nachgedruckt in B. B.: Mittelalterliche Studien: Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde und Literaturgeschichte. Bd. 2. Stuttgart 1967, S. 77–155. Als Ergebnis des Projekts zur Neukatalogisierung der etwa 1000 Handschriften aus St. Emmeram in der Bayerischen Staatsbibliothek sind bisher zwei Katalogbände erschienen: Katalog der lateinischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die Handschriften aus St. Emmeram in Regensburg. Bd.1: Clm 14000–14130, neu beschrieben von Elisabeth Wunderle. Wiesbaden 1995 (= Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis IV, Series nova pars 2,1); Bd. 2: Clm 14131–14260, neu beschrieben von Ingeborg Neske. Wiesbaden 2005 (= Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis IV, Series nova pars 2,2), vgl. hierzu die Rezension von Franz Fuchs in IASLonline (17.04.2007): URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Fuchs9783447051859_1529.html (Datum des Zugriffs: 17.04.2007); Bd. 3 befindet sich in Arbeit durch Friedrich Helmer. Zur Inkunabelsammlung des Klosters im 15. Jahrhundert vgl. Bettina Wagner: ›Libri impressi bibliothecae monasterii Sancti Emmerammi‹. The incunable collection of St Emmeram, Regensburg, and its catalogue of 1501. In: Kristian Jensen (Hg.): Incunabula and their readers. Printing, Selling and Using Books in the Fifteenth Century. London 2003, S. 179–205 und 271–277, sowie B. W: Inkunabeln im Kloster. Ein Regensburger Bibliothekskatalog von 1501 und die Rekonstruktion der Sammlung. In: Bibliothek und Wissenschaft 39 (2006) [im Druck].   zurück
Vgl. hierzu Armin Binder: ›In der Liberi vill, vill unzellich vill Puch‹. Das Benediktinerkloster Kastl und seine Bibliothek. In: Bibliotheksforum Bayern 34 (2006), S. 74–91.   zurück
Zur Texttradition vgl. jetzt Tobias A. Kemper: Die Kreuzigung Christi. motivgeschichtliche Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 131) Tübingen: Niemeyer 2006.   zurück
Vgl. hierzu Hardo Hilg (Anm. 3).   zurück