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German Travel Cultures

Rudy Koshars Studie schließt die Forschungslücke zum 20. Jahrhundert

  • Rudy Koshar: German Travel Cultures. Oxford / New York: Berg 2002. 241 S. Gebunden. GBP 15,99.
    ISBN: 1-85973-451-0.
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Zur Funktion des Reiseführers für
den modernen Tourismus

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Die mit Fleiß und Präzision recherchierte, in ihren Informationen ungewöhnlich kompakte Arbeit untersucht die Reisekultur vom späten 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhundert. Das Augenmerk des Verfassers – Historiker an der University of Wisconsin-Madison – gilt dabei hauptsächlich der Funktion des Reiseführers für den modernen Tourismus. Ausgangs- und Orientierungspunkt der Expertisen bildet »der Baedeker« von seinem ersten Erscheinen 1836 an über die rasch folgenden revidierten und sich stetig verdickenden Neuauflagen (15. Ausgabe mit ca. 1.000 Seiten und zahlreichen Karten bereits 1872) bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – ein historisches Unternehmen, über viele Jahrzehnte vom Gründer, einem Buchhändler in Koblenz, an Söhne, Enkel und Urenkel weitergereicht. Prominente Gelehrte (Mommsen und Gurlitt) arbeiteten ihm zu. Neben der Präzision ihrer Auskünfte und einer stilbildenden Textdichte (»textual density« – aufgrund von Parenthesen, Abkürzungen, topographischen Skizzen), zeichnete sich die »first great Bible of the modern tourist experience« durch die Informationsfreiheit aus, welche sich dieser Führer bei seinen Ratschlägen, Kostenangaben, Tipps gegen Übervorteilung durch Hotelbesitzer oder andere Lobbyisten herausnimmt, symbolisiert u.a. in seinem »Sternchen«-Bewertungssystem.

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Baedeker-Reisehandbuch –
Der Klassiker der »middle-class«-Touristen

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Insgesamt entsprach der Baedeker bei seinem Vorsatz, vor allem der »middle-class« das touristische Vergnügen (»leisure travel«) zu erleichtern, dem einfachen, namentlich dem protestantischen Bürgersinn und gab zugleich Zeugnis von ökonomischer Macht und neuem Selbstbewusstsein des zweiten deutschen Kaiserreichs. Den Führern für Deutschland folgten alsbald weitere spezielle Handbücher für einzelne deutsche Landschaften und Städte, ebenso für außerdeutsche Länder wie Italien, Ungarn, die USA (mit Teilen Mexikos), für Städte wie Paris oder Straßburg (jeweils mit ihrer Umgebung). Der verkehrstechnischen Entwicklung (Dampfboot, Eisenbahn, Automobil) passte sich der Baedeker an und erschien – in Konkurrenz zu ausländischen »Guides« – früh auch schon mit englischen und französischen Ausgaben.

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Satchel Guide, Michelin und Grieben
Reisehilfen der europäischen Konkurrenz

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Es bleibt natürlich nicht bei diesem Reisebegleiter. Der Verfasser nennt und charakterisiert eine große Reihe deutscher wie anderer Reisehilfen (etwa Satchel Guide, Michelin, Grieben), die oft in Absetzung vom Baedeker eine neue Art des Sehens propagieren und den Blick auf bisher eher vernachlässigte Dinge, politische Orte und Denkmäler, auf Fabriken oder Geschäftshäuser lenken.

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Reisehandbücher der Moderne –
Zwischen Abenteuerlust und Schlachtfeld-Tourismus

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Der Verfasser teilt die Entwicklung des/der Reiseführer/s zwischen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und der Zeit nach 1945 in fünf Phasen und folgt dem, allerdings ohne pedantisch zu sein, in der Gliederung des Buchs. So knapp wie zuverlässig unterrichtet er jeweils über historische sowie sozial-, wirtschafts- und technikgeschichtliche Vorgaben des Reisens und über die Anleitungen, womit die Reiseführer dem folgen. So wird der »Weltkrieg« mit Erlebnissen von fremder Natur, anderen Ländern und Leuten; von Gefahr, Abenteuer, auch Kameradschaft; von Angst, zerstörerischer Kriegstechnik, Trümmern in seiner Wirkung auf die Welterfahrung einer jungen Generation erörtert; auch hingewiesen auf den folgenden Schlachtfeld-Tourismus, eine Art Pilgerwesen, für das allein das französische Unternehmen Michelin 29 verschiedene Führer zu je einem »important battlefield« feilhielt.

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»Sex und Class« –
Reiseführer durch die »lasterhaften« Großstädte Europas

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Das reichhaltige Kapitel »Sex and Class« widmet sich einer innovativen Gruppe von Reisebüchern, die ausdrücklich zum Ziel hatten zu ergänzen, was in Reiseführern nach Art der Baedeker fehlte. Es sind Gegenschriften, die ihre Absicht bisweilen schon im Titel (Was nicht im Baedeker steht) anzeigen und sich explizit um eine unbourgeoise, antipedantische, witzig-subjektive und literarisch anspruchsvolle Darbietung bemühen. Genannt und in ihren Texten teilweise gewürdigt sind hier Ludwig Hirschfeld, Eugen Szamari, Harro von Wedderkopp oder Egon Erwin Kisch. Ihre Initiativen fallen, zumindest zeitlich, mit dem zusammen, was ›sexuelle Emanzipation‹ heißt und was, wenn nicht geradezu einen Sextourismus (»spermatic journey«), so doch eine merkliche Freizügigkeit, auch für reisende Frauen, mit sich bringt.

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»By-Gaslight Guides«
oder was nicht im Baedeker steht

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Jetzt kommen, in Nachfolge der für New York oder Chicago schon früher angebotenen »so-called by-gaslight guides«, Bücher auf den Markt, die sich »Berlin[s] Nightlife!« annehmen, Wege zu den Vierteln erotischen Vergnügens (Kurfürstendamm, Tauentzien- und Lutherstraße) weisen, Nachtclubs, Bordelle und Stundenhotels nennen. Auch weibliche Touristen finden jetzt spezielle Tipps für Bars, Kinos oder Sportstätten, ebenfalls für lesbische Begegnungsorte. Der berühmteste Name in diesem Zusammenhang lautet Curt Moreck (d. i. Kurt Haemmerling), dessen »Führer durch das ›lasterhafte‹ Berlin« 1931 erscheint.

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Billig Reisen und Wandern –
Sozialistische Reiseführer des Verlages J. H. W. Dietz Nachfolger

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Auch sozialistisch oder sozialdemokratisch bestimmte Reiseführer schieben sich in den 1930er Jahren nach vorn. Am ausführlichsten beobachtet Koshar den 1932 im Verlag J. H. W. Dietz-Nachfolger erschienenen »Arbeiter-, Reise- und Wanderführer«, der für »billige Reise und Wanderung« (so im Untertitel) gut sein will. Er antwortet unter anderem auf die gewachsene Bewegung der »Naturfreundejugend« und animiert anders als der traditionelle Baedeker, der die männliche Individualreise favorisiert, zum »group travel«. Wichtiges Reiseziel ist auch hier wieder die Reichshauptstadt Berlin, für die auf organisierte Touren des Republikanischen Studentenbundes hingewiesen wird, Schwergewichte der Besichtigung sind moderne Siedlungsbauten für Arbeiter und Angestellte (Max Taut oder Mies van der Rohe); hinzu treten Stätten demokratischer Erinnerung wie der Friedhof Friedrichshain (Gräber der 48er) oder Rosa Luxemburgs Grab in Friedrichsfelde; Berlin wird stellenweise in »a site of pupular martyrdom« verwandelt.

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Reiseempfehlungen richten sich auch auf das Ruhrgebiet, wo man »Kumpel« erleben und die Stahlschmieden des Reichs besichtigen könne, ebenso den Duisburger Hafen oder die Arbeiterkolonie Altenhof in Rüttenscheid. Wie neben den Industrieanlagen des Reviers zugleich auf die Schönheit der Ruhrlandschaft aufmerksam gemacht wird, so an anderer Stelle wieder auf die Natur der Alpen, die nunmehr ein bevorzugter Ort zum erholsamen Bergwandern der »arbeitenden Klasse« geworden seien.

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»Savage Tourism« –
oder »Wir wandern durch das nationalsozialistische Berlin«

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Das mit »Savage Tourism« betitelte Kapitel über die Nazizeit zeigt, wie vor allem Berlin zu einer »necropolis for the SA tourists« wird, etwa in Engelbrechten-Volzens Stadtführer »Wir wandern durch das nationalsozialistische Berlin« (1937). Kultziele, jetzt auch vom zeitgenössischen Baedeker empfohlen, sind daneben andere Orte der nationalsozialistischen Bewegung wie Feldherrnhalle und Hofbräuhaus in München, der Obersalzberg, neue Konstruktionen und bauliche Anlagen des Reichs, etwa der Münchner Königsplatz, das Berliner Olympiastadion oder die Autobahnen.

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Volkswagenboom und »Kraft durch Freude«-Tourismus –
Vorstufen der militärischen Mobilität

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Was Koshar hier über die allgemeine Mobilisierung durch den Autobahnausbau, die rasante Entwicklung der Autoproduktion, über die mit dem Volkswagen verbundene »Kraft durch Freude«-Bewegung berichtet, geht an informativem Wert weit über das hinaus, was von einer Spezialstudie über Reisekultur und Reiseführer zu erwarten ist. Dasselbe gilt für die Auskünfte zur ausgefeilten nationalsozialistischen Propaganda, beispielhaft in Verbindung mit der Berliner Olympiade von 1936 dargestellt – hier wird um ausländische Touristen geworben und der in- wie der ausländische Tourismus propagandistisch genutzt. Bedacht wird erwartbarer Weise vom Verfasser der Zusammenhang zwischen der Erhöhung touristischer und einer damit bereits trainierten militärischen Mobilität.

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»Herrenmenschen«-Ideologie und Antisemitismus –
Baedeker-Handbücher für die besetzten Gebiete im Osten

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Den Reiseführern für heimatliche Gebiete folgen während der deutschen Aggression im Osten Handbücher für besetzte Städte, etwa Posen und Warschau; das Haus Baedeker bringt 1943 unter dem Titel Das Generalgouvernement ein »Reisehandbuch« für Polen heraus, worin der Antisemitismus des Naziregimes ebenso erkennbar ist wie seine Herrenmenschen-Ideologie gegenüber der einheimisch-polnischen Bevölkerung. Detaillierte Kenntnis nationalsozialistischer Weltanschauung, ihrer Rassen- und Eroberungsideologie, wie auch des realen historischen Geschehens unterfängt die im engeren Sinne reiseliterarischen Darlegungen zurzeit zwischen 1933 und 1945.

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»The last chance to see the ruins« –
Reiseführerproduktion in den Nachkriegsjahren

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Koshars viertes, nach dem Namen eines amerikanischen Deutschlandführers der Nachkriegszeit »Fodor’s Germany« überschriebenes Kapitel überwältigt dann aufs neue durch exakte, quantitativ-empirisch mit Daten untermauerte Beschreibung der deutschen Mentalität nach 1945; Befunden zum emotionalen Verhältnis gegenüber den »Amis«; umgekehrt zu deren Denken über die Deutschen, zur (ältere Stereotypen neu belebenden) Vorstellung von deutscher »Tüchtigkeit« und »Reinlichkeit« (im Unterschied zu südlichen, etwa französischen Zuständen); zur Übernahme amerikanischer Lebensart (Kleidung, Haarschnitt, Musik, Tanz, Redeweisen) vornehmlich durch die junge Generation in Deutschland; zu den deutschen Mädchen, die sich bei der ›fraternization‹ als »far remowed from the braided Gretchen type« zu erkennen gaben; zu den regionalen Besonderheiten in Deutschland, dem unterschiedlichen Charakter seiner Einwohner, besonders nördlich und südlich der Mainlinie; zur Entwicklung des anwachsenden Tourismus über den Atlantik in beiden Richtungen, zur allgemeinen Vermehrung der deutschen Reiselust seit den frühen 1950ern, den Reisezielen und Reisemitteln (mit rasch ansteigendem Individualverkehr), Verbesserungen im deutschen Hotelwesen und alternativen Unterkunftsmöglichkeiten (etwa Camping).

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Der Verfasser hat sich bis in kommunale Werbeschriften, Firmen- und Behördenstatistiken, bis in Gewerkschaftsprogramme und die Angebote von Reiseveranstaltern hinein umgetan. Natürlich stehen im Vordergrund wieder die Reiseführer, amerikanische etwa, welche die »last chance to see the ruins« bieten möchten, andere, die hauptsächlich in Berlin nicht nur das neu gegründete Nachtleben, sondern auch die nazistischen Denkmäler, zugleich jedoch den Wiederaufbau zeigen wollen. Für die US-Besatzungstruppen gab es spezielle Reiseführer.

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Tourismus im »geteilten« Deutschland –
Das Baedeker-Nachkriegsprogramm »Berlin« und »Leipzig«

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Kaum ein Jahrfünft nach Kriegsende war auch der Baedeker, so sehr er sich nazistisch kompromittiert hatte, mit Programmen für Berlin und für Leipzig wieder da, bei teilweise personeller Kontinuität der Herausgeberschaft. Koshar beleuchtet in diesem Kapitel auch Gemeinsamkeiten wie Unterschiede (letztere findet er bemerkenswert gering) zwischen dem jungen touristischen Furor in beiden deutschen Staaten seit 1950. Bemerkenswert in jedem Fall, was der Autor zu referieren weiß über die Regsamkeit der Deutschen beim Wiederaufbau und die damit fatal einhergehende Verdrängung deutschen Schuldbewusstseins, etwa des Holocaust bis zum Beginn der 1970er Jahre – und wie das eine und das andere sich in einheimischen Reisebüchern wie in ausländischen über Deutschland spiegelt.

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Fazit

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Um den Anfang meiner Rezension wieder aufzunehmen und zu unterstreichen: ein stupend informierter Autor legt eine umfassend belehrende Arbeit vor. Mit ihr wird der bis dato, was jedenfalls den deutschen Bereich angeht, defizitären Reisekulturforschung für das 20. Jahrhundert abgeholfen. Ein wichtiges Buch, packend geschrieben. Man bedauert, dass es nicht auch auf Deutsch zu lesen ist.