Daniel Siemens

Falschverstandene Interdisziplinarität

Der Soziologe Vincenzo Ruggiero scheitert an seinem Thema Crime in literature




  • Vincenzo Ruggiero: Crime in Literature. Sociology of Deviance and Fiction. London / New York: Verso 2003. 244 S. Kartoniert. GBP 13,00.
    ISBN: 1-85984-482-0.


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Der Verbindung von Kriminalität, Kriminalitätsforschung und Literatur, von faktenorientierten und fiktiven Annäherungen an Devianz ist insbesondere als Folge des ›linguistic turn‹ in den Kulturwissenschaften vermehrte Aufmerksamkeit zuteil geworden. Sowohl Literaturwissenschaftler als auch Historiker gehen immer weiter davon ab, zwischen Fakten und Fiktionen kategorisch zu trennen – insbesondere, wenn es ihnen um die Rekonstruktion von Diskursen über Kriminalität und Normalität, Moral und Recht, geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen und individuelle Lebensentwürfe geht. 1

[2] 

Das hier zu rezensierende Buch des in England lehrenden Soziologieprofessors Vincenzo Ruggiero 2 steht in methodischer Hinsicht in dieser Kontinuität. Ruggiero will anhand einiger ›klassischer‹ Texte der Weltliteratur »zentrale Themen der Kriminalitätsforschung« (S. 6) herausarbeiten. In seinen eigenen Worten:

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This book uses fiction as a tool for the communication of sociological meaning and the elaboration of criminological analysis. It addresses the issues of crime and crime control through the reading of some classic literary works. It is not a book of literary criticism, but a book written by a sociologist who reads classic fiction sociologically. (S. 1)
[4] 

In der praktischen Umsetzung bedeutet dies, dass in insgesamt zehn thematisch geordneten Kapiteln Autoren wie Camus, Cervantes, Zola, Dickens und Thomas Mann, Manzoni und Mark Twain dahingehend befragt werden, wie sie in einigen ihrer fiktionalen Texte Themen behandeln, die auch den Kriminalsoziologen Ruggiero interessieren. Der Text des Buches ist dabei flüssig und verständlich geschrieben und richtet sich auch an interessierte Laien, obwohl als Hauptadressat ein interdisziplinär aufgeschlossenes akademisches Publikum angesprochen wird.

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Strukturen organisierter Kriminalität
bei Cervantes, Gay und Brecht

[6] 

Da alle Kapitel ähnlich aufgebaut sind, soll das zweite Kapitel pars pro toto etwas eingehender betrachtet werden. In diesem Abschnitt beschäftigt sich Ruggiero mit drei literarischen Texten: Miguel de Cervantes Erzählung Rinconete y Cortadillo, John Gays The Beggar’s Opera und Bertold Brechts Dreigroschenoper. Ruggiero befragt alle drei Texte nach ihrem Bild der organisierten Kriminalität, wobei er Cervantes Novelle als literarisches Porträt einer »kriminell agierenden Bruderschaft« in der Stadt Sevilla um 1600 ansieht und als Vorbild für Gays Beggar’s Opera auf Jonathan Wild hinweist, den erfolgreichsten Kriminellen im Vereinigten Königreich im frühen 18. Jahrhundert.

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Auf die genaue Einbettung der Texte in ihren historischen Entstehungszusammenhang kommt es Ruggiero jedoch kaum an; jedenfalls genügt es ihm für die historische Verortung, die entsprechenden Informationen aus den Einleitungen der von ihm benutzten Buchausgaben zu zitieren. Stärker interessiert er sich für die Strukturen der organisierten Kriminalität, wie sie von den jeweiligen Autoren geschildert werden. Unter diesem Gesichtspunkt strukturiert Ruggiero seine knappen Inhaltsangaben der drei literarischen Texte, die den größten Raum in diesem Kapitel einnehmen. Kriminalsoziologische Ergebnisse sind dagegen nur schemenhaft erkennbar. So hält Ruggiero fest, dass die von Cervantes geschilderte »Bruderschaft« zwar ähnlich wie später die italienische Mafia zeitweilig hoheitliche Aufgaben von ›Law and Order‹ übernehme. Das organisierte Verbrechen realisiere jedoch nicht – wie später dann bei Gay und Brecht – mit Gewalt einen begrenzten »freien« Markt, innerhalb dessen Grenzen »vertrauensvoll« und mit Profit »gehandelt« werden könne (S. 38). Gays Abbild der organisierten Kriminalität weise demgegenüber bereits Strukturmerkmale auf, die man auch heutigen Organisationsformen noch zuschreiben würde (S. 45): so die zunehmende Arbeitsteilung innerhalb der Unterwelt, die insbesondere die strategische Planung von der konkreten Ausführung trenne (S. 46). Brechts Darstellung gehe noch einen Schritt weiter, indem hier die Mechanismen von »Unter- und Oberwelt« ununterscheidbar würden. Deshalb könne der Oberkriminelle Peachum zugleich als erfolgreicher Geschäftsmann von den Institutionen und Gewalten des Staates wahrgenommen und unterstützt werden (S. 50 f.).

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Aber was folgt aus solchen Beobachtungen? Der Rezensent muss seine Ratlosigkeit eingestehen und zitiert deshalb aus Ruggieros knappem Fazit:

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Cervantes, Gay and Brecht see [...] a continuous competition between professional and organized criminals, with the latter attempting to co-opt the former in their structured activities. While also stressing numbers of participants and continuity [...], they attribute the variable ›organized‹ to specific criminal enterprises and the division of labour within them rather than to the seriousness of the criminal acts performed. Studying the competetive game in which Rinconete, Cortadillo, Monipodio, Peachum, Wild and Macheath are engaged is a fruitful intellectual exercise for sociologists of deviance attempting to analyse organized crime and law enforcers attempting to tackle it. (S. 52)
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Dem Rezensenten bleibt unklar, warum die Analyse dieser Texte eine »fruchtbringende intellektuelle Übung« sein soll, zumal wenn die Früchte – um im Bilde zu bleiben – ausbleiben oder allenfalls einige wenige wurmstichige Exemplare abfallen. Über die Strukturen tatsächlicher oder historischer Formen von organisierter Kriminalität erfährt der Leser wenig; ganz zu schweigen von dem völlig ausgeblendeten und methodisch in keiner Weise reflektierten Wechselbezug zwischen literarischen Texten und Kriminalität.

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Fundamentale methodische Probleme

[12] 

Schon nach der Lektüre der ersten Kapitel werden die fundamentalen Probleme des Untersuchungsansatzes sichtbar. So scheinen für die Auswahl der im Buch angeführten literarischen Texte neben der literaturgeschichtlichen Relevanz allein die subjektiven Vorlieben des Verfassers ausschlaggebend gewesen zu sein. Ruggiero verhüllt kaum, dass die von ihm ausgewerteten Beispiele Folge seiner persönlichen Freizeitlektüre sind (vgl. S. 8). Nun ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, dass ein Kriminalsoziologe Spaß am Lesen hat, nur fragt sich der Rezensent, welchen Mehrwert der Leser des Buches aus der Mitteilung der subjektiven Leseeindrücke Ruggieros ziehen kann. Zu einer historische Einordnung der analysierten Texte oder einer vertieften Auseinandersetzung mit den Positionen der behandelten Schriftsteller kommt es nur in Ansätzen. Beinahe scheint es, als ob Ruggiero seine Autoren für Seismographen des Zeitgeistes hält, die intuitiv die jeweils zeitgenössische Diskussion um Kriminalität und ihre Bekämpfung erfassen und produktiv aufnehmen.

[13] 

In einem Kapitel seines Buches Crime and Markets. Essays in Anti-criminology, das sich mit den Aussagen Daniel Defoes zur Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsethik befasst, hat Ruggiero bereits ähnlich argumentiert. 3 Auch hier nimmt er einige problematische Gleichsetzungen vor. So ist für ihn die Biographie Daniel Defoes als unmittelbare Folge der »moralischen Dilemmata seiner Zeit« anzusehen (Crime and Markets, S. 177). Gänzlich unhistorisch wird festgestellt, dass die Schriften Defoes zur Wirtschaftsethik einen »contemporary flavour« hätten (ebd., S. 176). Im Vergleich mit dem oben eingehender betrachteten Kapitel ist aber auch festzustellen, dass Ruggiero im Defoe-Kapitel dem zeitgenössischen Kontext stärkere Beachtung schenkt und seine Analogien zur Gegenwart vorsichtiger formuliert. Als anregender Exkurs im Kontext einer Studie zu gegenwärtigen Erscheinungen von Kriminalität scheint das Verfahren, ältere literarische Texte vergleichend heranzuziehen, noch legitim. Das hier zu rezensierende Buch besteht jedoch lediglich aus einer Aneinanderreihung von solchen Exkursen. Bezeichnenderweise kommt Crime in Literature ohne ein Schlusswort aus, das die Ergebnisse zusammenfassen, bewerten oder in einen größeren Kontext stellen könnte.

[14] 

Keine Rückwirkung von Literatur
auf kriminologische Diskurse?

[15] 

Negativ wirkt sich zudem aus, dass Ruggiero immer nur eine Richtung der wechselseitigen Beziehungen zwischen Literatur und Kriminologie untersucht. Er fragt stets, welche (offensichtlich statisch feststehenden) kriminologischen Konzepte sich in den von ihm ausgewählten literarischen Werken wiederfinden. Die zumindest ebenso spannende Frage, wie literarische Vorlagen auf die Herausbildung bestimmter krimineller Konzepte, zum Beispiel beim Thema der ›weiblichen Kriminellen‹, gewirkt haben, wirft Ruggiero jedoch nie auf (vgl. insbesondere das 4. Kapitel, S. 77–103). Diese Einseitigkeit ist umso erstaunlicher, als sich Ruggiero an anderer Stelle kritisch mit der ›Mainstream-Criminology‹ auseinandersetzt, für eine verstärkte Selbstreflexion plädiert und den Vorschlägen der ›Anti-Kriminologen‹, die die traditionelle Kriminologie einer radikalen linguistischen Revision unterziehen und sie als ›soziale Konstruktion‹ demaskieren wollen, mit Sympathie begegnet. 4 Unabhängig davon, ob man die kriminologischen Lehrbücher selbst als weitgehend fiktionale Texte ansieht oder nicht, so scheint dem Rezensenten zumindest eine Problematisierung der wechselseitigen Einflüsse, ebenso wie eine genauere historische Verortung der literarischen und kriminologischen Texte, unabdingbar.

[16] 

Ruggieros Buch fällt nicht nur in methodischer Hinsicht weit hinter den gegenwärtigen Forschungsstand zurück und kann weder in literaturgeschichtlicher Hinsicht noch in Bezug auf die angesprochenen wissenschaftlichen Konzepte von Kriminalität und Sozialkontrolle neue Erkenntnisse liefern. Seine unhinterfragte Verehrung für den ›Genius‹ der großen Schriftsteller, von denen der Soziologe »nichts als lernen« könne (S. 4), deren Werke ein »Geschenk« seien (S. 103), bloße Behauptungen wie zum Beispiel »Fiction offers invaluable materials for sociological analyses of imprisonment« (S. 214) oder schließlich banale Feststellungen wie die Aussage, dass die behandelten Autoren »ein wenig Licht in das Definitionschaos« auf dem Gebiet der organisierten Kriminalität bringen würden (S. 28): solche Aneinanderreihungen inhaltsleerer Formeln sind in erster Linie ein Ärgernis.

[17] 

Fazit

[18] 

Der Rezensent ist kein Soziologe und kann deshalb über die Relevanz des vorliegenden Buches für die Kriminalsoziologie keine Aussage treffen. Für die Literatur- und Geschichtswissenschaften, soviel aber ist festzuhalten, kann Crime in Literature lediglich in einer Hinsicht als Vorlage dienen: als Beispiel, wie man dieses wichtige und spannende Thema nicht behandeln sollte.


Dr. Daniel Siemens
Universität Bielefeld
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie
Arbeitsbereich Geschichte moderner Gesellschaften
Universitätsstr. 25
DE - 33615 Bielefeld

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Ins Netz gestellt am 07.01.2005

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Joachim Linder (1948-2012). Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Daniel Siemens: Falschverstandene Interdisziplinarität. Der Soziologe Vincenzo Ruggiero scheitert an seinem Thema Crime in literature. (Rezension über: Vincenzo Ruggiero: Crime in Literature. Sociology of Deviance and Fiction. London / New York: Verso 2003.)
In: IASLonline [07.01.2005]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1142>
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Anmerkungen

Vgl. von den einschlägigen deutschsprachigen Publikationen u.a. Karsten Uhl: Das »verbrecherische Weib«. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800–1945 (Band 11 der vom Hamburger Arbeitskreis zur Geschlechterforschung herausgegeben Reihe »Geschlecht – Kultur – Gesellschaft«) Hamburg: Lit-Verlag 2003; Joachim Linder / Claus-Michael Ort (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 70) Tübingen: Niemeyer 1999; Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 27) Tübingen: Niemeyer 1991; Isabella Claßen: Darstellung von Kriminalität in der deutschen Literatur, Presse und Wissenschaft 1900 bis 1930. Frankfurt / M. u.a.: Peter Lang 1988.   zurück
Vincenzo Ruggiero ist Professor für Soziologie an der Universität von Middlesex in London. Sein Spezialgebiet ist die Kriminalsoziologie, insbesondere auf dem Gebiet der politischen Kriminalität und der Wirtschaftskriminalität. Auf diesen Forschungsfeldern berät er auch die Vereinten Nationen. Zu seinen neueren Publikationen zählen: Crime and Markets. Essays in Anti-criminology (Clarendon Studies in Criminology) Oxford u.a.: Oxford University Press 2000; Movements in the City. Conflicts in the European Metropolis. Harlow: Prentice Hall 2000.   zurück
Ruggiero: Crime and Markets (Anm. 2), S. 157–177.   zurück
Ebd., S. 4–11.   zurück