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Literarische Kommunikation -

Geschichte(n) rund ums Lesen

  • Jost Schneider: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2004. 483 S. 36 Abb. Gebunden. EUR 49,95.
    ISBN: 3-11-017816-8.
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Das Buch will einen neuen Blick auf Literatur und Literaturgeschichte bieten. Wie der Untertitel bereits andeutet, geht es dem Autor um eine Verbindung von Literatur- und Kommunikationsgeschichte. Schneiders Kriterien für die historische Relevanz oder Bewertung eines Textes resultieren nicht aus dessen ›Qualität‹. Statt zeitlicher oder gattungsspezifischer Merkmale eines Textes – obwohl diese an gegebener Stelle durchaus als strukturierendes Mittel hinzugezogen werden – bildet die Funktion, die ein (literarischer) Text für seine Autoren und/oder Rezipienten erfüllt, den Ausgangspunkt. So arbeitet Schneider mit einem erweiterten Blickwinkel auf Literatur, in dem eine große Chance, aber auch Probleme liegen. Zunächst ist ein faszinierender Ansatz zu konstatieren, weil eben nicht nur die jeweiligen Texte, ihre Inhalte, Autorabsichten und ›qualitativen‹ Werte, sondern vor allem die Umstände der Literaturproduktion und die Gegebenheiten des jeweiligen Rezeptionsprozesses im Mittelpunkt stehen. Damit bewegt sich Schneider in einem Grenzbereich, in dem sich Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Soziologie überschneiden. Das impliziert das unausgesprochene Problem, bei einer solchen ›Grenzwanderung‹ keiner dieser klassischen Disziplinen wirklich gerecht werden zu können.

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Erweiterung der Perspektive auf Literatur

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Schneider unternimmt den Versuch einer Gliederung der deutschen Literaturgeschichte aus neuem Blickwinkel. Ausgangspunkt sind »gesellschaftsgeschichtliche[ ] Zeitalter« (S. 7) und deren jeweilige »soziale[ ] Schichten, denen die am Prozess der literarischen Kommunikation Beteiligten angehören« (S. 7). Demzufolge erklärt sich die »Pluralität und Vielgestaltigkeit des Phänomens Literatur« aus der Verschiedenheit der »Rezipienten- und Produzentengruppen mit ihrer jeweils charakteristischen literarischen Kultur« (S. 7). Schneider verfolgt das Ziel einer »funktionsanalytischen Literaturgeschichtsschreibung« (S. 437), ist sich aber bewusst, dass derzeit erst eine »Erprobung« (S. 14) derselben möglich ist.

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Diese sei jedoch notwendig aufgrund der zentralen Mängel der bisherigen Literaturgeschichtsschreibung, die versucht habe, zahlreiche »kanonische Werke durch gezielte Interpretationen in eine zusammenhängende gedankliche Entwicklungslinie zu zwingen« (S. 7) und dann »diese ideale stetige Linie als Geschichte auszugeben« (S. 7). Die hier implizierte Kritik an der Scheinhaftigkeit der bisherigen Geschichtsschreibung wird durch eine Wiederholung dieses ersten Satzes des Buches als letztem Satz der Einleitung verstärkt. Die unausgesprochene Absicht wird deutlich, nun also eine ›echte‹, wirkliche Geschichte der Literatur bzw. des Umgangs mit Literatur zu erzählen.

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Die bisherigen zu engen und deshalb unzureichenden Epochenbezeichnungen resultieren nach Schneider aus der Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, welche zunächst thesaurierenden, dann teleologischen und schließlich kanonorientierten Ansätzen folgte. Besonders kritisiert werden »logisch stimmige, aber extrem selektive Geschichtsdarstellungen, in denen nur einige wenige Promille der tatsächlichen literarischen Produktion erfasst und beschrieben werden« (S. 8). Schneider will dagegen »den Realitäten der literarischen Kommunikation« in ihrer Fülle und Vielschichtigkeit gerecht werden, er nimmt die Gesamtheit der »literarische[n] Kulturen« (S. 8) und ihre geschichtliche Entwicklung in Deutschland zum »Gegenstand einer deutschen Literaturgeschichte« (S.8).

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Bei dem Versuch einer Definition der literarischen Kultur lässt der Verfasser das im Untertitel des Buches enthaltene Spezifikum »in Deutschland« stillschweigend beiseite – diese Vorgehensweise klammert ein wichtiges Charakteristikum des Untersuchungsgegenstandes aus. Die für eine Definition von ›Deutschland‹ erforderlichen ausführlichen historisch-politisch-geographischen Reflexionen können im Rahmen einer Literaturgeschichte nur eingeschränkt geleistet werden; dennoch beabsichtigt der Autor, »die literarischen Kulturen aller Schichten, die es jemals in Deutschland und seinen staatlichen Vorgängergebilden gegeben hat, seien sie nun deutschsprachig oder nicht« (S. 18) darzustellen. In diesem Zusammenhang überrascht den Leser dann jedoch die Entdeckung, dass der gesamte Komplex ›DDR-Literatur‹ schlichtweg beiseite gelassen wird. Auch wenn Schneiders Argument überzeugt, die Geschichte der literarischen Kulturen in der Deutschen Demokratischen Republik gebe Stoff für eine eigenständige Untersuchung (vgl. S. 294), so ist diese beiläufige Mitteilung einer gravierenden Auslassung irritierend.

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Charakteristika einer literarischen Kultur

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Zunächst bemüht sich Schneider um die Klärung seiner Begrifflichkeit: »Als ›literarische Kultur‹ wird dabei eine institutionalisierte, epochen- und schichtenspezifische Praxis der literarischen Kommunikation definiert« (S. 8).

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Beginnend mit den schichtenspezifischen Besonderheiten und Unterschieden im Umgang mit Literatur und Lektüre sind diese ebenso wie die Bildungs- und Gesellschaftsschichten im Lauf der Geschichte einem Wandel unterworfen, so dass sich zumindest eine Grobeinteilung in epochenspezifische Stufen als notwendig erweist. Solche Einteilungen sind und bleiben in der Geschichtswissenschaft umstritten; Schneider verweist insbesondere auf die fließenden Grenzen und regional unterschiedlichen Ausprägungen solcher Epochen: die von ihm übernommene allgemein anerkannte Gliederung geht aus von der germanischen Stammesgesellschaft, die sich über die mittelalterliche Ständegesellschaft und die Klassengesellschaft des bürgerlichen Zeitalters hin zur demokratischen Gesellschaft der Gegenwart entwickelt (vgl. S. 9). Mit der Orientierung an soziologischen Epocheneinteilungen werden geistes- wie sozialgeschichtlich bedeutsame Ereignisse wie die Reformation oder mediengeschichtlich insbesondere auch für die Entwicklung des Lesens zentrale wie die Erfindung des Buchdrucks (vgl. die für das Thema bedeutende Untersuchung von Giesecke 1 ) jedoch stillschweigend in den Hintergrund geschoben.

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Mit dem Terminus ›institutionalisiert‹ benennt Schneider als Untersuchungsgegenstand »nicht die individuelle, sondern die typische, nach anerkannten Regeln und Gebräuchen ausgeführte Kommunikationspraxis« (S. 9). Schichtenspezifische Konventionen erlauben zwar sehr unterschiedliche Kommunikationsformen nebeneinander, schaffen aber dennoch ein »Typische[s], das […] innerhalb einer bestimmten Schicht und Epoche als selbstverständlich und alltäglich gilt« (S. 9 f.).

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Bei der Unterscheidung von literarischer und nicht-literarischer Kommunikation greift Schneider auf seine eigenen Untersuchungen in seiner ›Einführung in die moderne Literaturwissenschaft‹ 2 zurück. Da literarische Kommunikation in allen Bevölkerungsschichten zu finden ist, sollte die Literaturgeschichtsschreibung nach Schneider »mit einem weitgefassten Literaturbegriff […] arbeiten, der Texte sehr unterschiedlichen Niveaus zu berücksichtigen erlaubt.« (S. 10) Zu diesem Zweck erarbeitet Schneider eine Definition von Literatur als einer »Abfolge von Laut- oder Schriftzeichen, die fixiert und/oder sprachkünstlerisch gestaltet und/oder ihrem Inhalt nach fiktional ist.« (S. 10) Aus diesen drei Hauptkriterien »künstlerische Sprachverwendung«, »Fiktionalität« und »Fixierung« konstruiert der Verfasser sodann unter Bezugnahme auf seine frühere Untersuchung 3 eine aus sieben Kategorien bestehende Hierarchie, die sich aus den Schnittmengen der Kriterien ergibt (vgl. S. 11–13). Dies wird mit einer mathematisch anmutenden, nichtsdestotrotz sinnvollen Graphik veranschaulicht (vgl. S. 11). Für Schneiders Abhandlung relevant sind lediglich jene Texte, die mindestens zwei der drei möglichen »Kriterien erfüllen« (S. 11). Die Bezeichnung ›Literatur‹ ist in diesem Zusammenhang »kein Ehrentitel, sondern ein wertfreier Arbeitsbegriff, der die Praxis der literarischen Kommunikation innerhalb sämtlicher Schichten und Epochen zu erfassen versucht« (S. 11). Die Qualität der literarischen Texte ist lediglich insofern von Interesse, als sich daraus Rückschlüsse auf bestimmte Normen in der literarischen Kommunikation ziehen lassen (vgl. S. 11).

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Schneider erfasst als ›Kommunikation‹ jegliche »Interaktion mit und über Literatur« (S. 14), geht also über professionelle und anerkannte Kommunikationsformen hinaus. Die Wirkung von literarischer Kommunikation sei, so Schneider, auf geistiger, seelischer und körperlicher Ebene nachweisbar, werde jedoch in der Literaturgeschichtsschreibung bis dato wenig beachtet.

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Vollständigkeitsanspruch

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Schneiders ausdrücklicher »Ehrgeiz« (S. 16) besteht darin, die eigenständigen literarischen Kulturen und ihre Kommunikationsformen in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Dabei steht kein detaillierter Überblick im Vordergrund, vielmehr sollen Strukturen nachgezeichnet und an ausgewählten Beispielen exemplifiziert werden. »Sich in die innere Logik der ganz verschiedenartigen literarischen Kulturen hineinzudenken und ihre spezifische Leistung wahrzunehmen und sachlich zu beurteilen« (S. 17), erfordert vom Autor eine wissenschaftliche Sensibilität, die über eine streng philologische Literaturanalyse weit hinausgeht, verleiht jedoch möglicherweise den Schlussfolgerungen eine spekulative Tendenz, die wissenschaftlich nicht gesichert werden kann.

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Mit seiner Sicht auf Literaturgeschichte als »eine kultursoziologische und funktionsanalytische Kommunikationsgeschichte« (S. 18) stellt sich Schneider in eine Tradition, die im 19. Jahrhundert erstmals eine Einbeziehung des Leserstandpunktes forderte. Dazu gehören Untersuchungen von Prutz 4 , Schücking 5 , Weinrich 6 , Grimm 7 , Hohendahl 8 und Nusser 9 ; gerade den beiden letzteren mit ihren epochenspezifischen Arbeiten hat Schneider wichtige Anregungen zu verdanken, denn der Verfasser bewegt sich offensichtlich in einem Raum zwischen der Geschichte des Lesens und Literaturgeschichte als Rezeptionsgeschichte. Eine Abgrenzung von diskursanalytischen, systemtheoretischen, mentalitätsgeschichtlichen, medien- und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätzen findet nicht statt. Zwar berücksichtigt Schneider neuere Untersuchungen zur Geschichte des Lesens von Schön 10 und Schmidt 11 , doch grundlegende Studien von Engelsing 12 , Manguel 13 und Kittler 14 werden noch nicht einmal im Literaturverzeichnis aufgeführt.

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Schematischer Aufbau

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Die Kapitel des Buches entsprechen vier großen historischen Zeitabschnitten: Stammeszeitalter (ca. 4. Jahrhundert v. Chr. bis 8. Jahrhundert n. Chr.), feudalistisches Zeitalter (9. Jahrhundert bis 1789), bürgerliches Zeitalter (1789–1918) und demokratisches Zeitalter (seit 1918).

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In den einzelnen Unterkapiteln wird methodisch die »spezifische literarische Kultur der einzelnen Gesellschaftsschichten« (S. 15) abgehandelt, mittels Einblick in »ihre Lebensumstände, ihre Bildungsvoraussetzungen, ihr Freizeitverhalten, ihre Mediennutzungsgewohnheiten und ihre Lektüreanforderungen« (S. 15). Zunächst nennt Schneider in jedem dieser Kapitel die entsprechenden gesellschaftsgeschichtlichen Rahmenbedingungen. Danach wird die literarische Kommunikation schichtenspezifisch aufgearbeitet; je nach Zeitalter handelt es sich dabei – anerkannten soziohistorischen Gliederungen entsprechend – um Schichten, Stände, Klassen oder Milieus. Abschließend wird stets auch die außerhalb der Schichten stattfindende Kommunikation dargelegt, bevor am Ende jedes Kapitels und Unterkapitels die Ergebnisse resümiert werden. Bei dieser Vorgehensweise lassen sich inhaltliche Überschneidungen nicht vermeiden; bestimmte, für eine Schicht typische Kommunikationsformen finden sich auch in anderen Schichten oder Zeiten wieder.

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Schneider wählt bei seiner Darstellung jeweils prägnante einzelne Beispiele für die zu behandelnde literarische Kultur und Schicht in der jeweiligen Epoche aus. Dabei folgt er zwar inhaltlichen Erfordernissen, bleibt aber trotzdem im Kern willkürlich, da der Autor ja sein zwangläufig subjektiv geprägtes ›Hineindenken‹ in die jeweilige literarische Kultur trotz des Bemühens um Sachlichkeit zum Maßstab nimmt (vgl. S. 17). Zu Beginn eines jeden Unterkapitels werden mittels einer Abbildung die betreffende Schicht und/oder ihr Leseverhalten illustriert; hierbei liegt der Nutzen mehr in der Veranschaulichung einer bestimmten Schicht als in einer objektiven oder allgemeingültigen Aussage.

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Das erste Kapitel »Literarische Kommunikation im Stammeszeitalter (ca. 4. Jh. v. Chr. bis 8. Jh. n. Chr.)« kommt zu dem – nicht überraschenden – Schluss, dass die Bewohner Germaniens, die sich in ›Bauern und Sklaven‹ wie auch ›Krieger und Häuptlinge‹ als auch ›Priester und Wahrsager‹ differenzieren lassen, noch kein »Kulturvolk« (S. 46) gewesen seien. Schneider betont »im internationalen Vergleich […] die kulturelle Rückständigkeit der Germanen« (S. 46). In diesem Kapitel wird die Problematik der ausgeprägten methodischen Schematisierung am deutlichsten: der Transfer moderner Ordnungskriterien und Begrifflichkeiten auf die früheren Jahrhunderte ist schlichtweg nicht adäquat. Bei einer zum größten Teil nicht alphabetisierten Bevölkerung kann das Lesen kaum sinnvoll thematisiert werden. Historisch abgesichert sind die Einzelergebnisse nur bedingt; einzelne Textbeispiele lassen sich nicht in den Untersuchungszeitraum datieren. (vgl. S. 41)

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Im feudalistischen Zeitalter, das Schneider vom 9. Jahrhundert bis 1789 ansiedelt, lassen sich Stände Bauern, Bürger, Gelehrte und Geistliche sowie Adel und Außerständische nachweisen. Bei der Analyse des Bauernstandes der damaligen Zeit, der kaum gedruckte Schriften rezipierte und mehr mittels mündlicher Überlieferung und dramatischer Darbietung an der literarischen Kultur teilnahm, tritt naturgemäß der Begriff ›Lesen‹ in den Hintergrund. Während das Bürgertum verglichen damit als »kultivierter« (S. 106) herausgestellt wird und der Adel seine »eigene Form der literarischen Kommunikation« (S. 150) durch Pomp und »Ausschmückung« (S. 150) prägt, attestiert Schneider den Gelehrten und Geistlichen das höchste »stilistische und intellektuelle Anspruchsniveau der Literatur« (S. 127) in dieser Epoche. Angesichts der Tatsache, dass es sich explizit um Gelehrte handelt, ist dies absolut nicht überraschend und sollte auch nicht als Forschungsergebnis verbucht werden. Immerhin sieben Seiten werden den Außerständischen und ihren »Sonderkulturen« (S. 160) gewidmet. Hierzu gehören neben den Angehörigen ausgegrenzter Berufe wie Scharfrichter, Abdecker u.a. die »so genannten fahrenden Leute« (S. 155), aber auch »nach dem Verständnis vieler Menschen des feudalistischen Zeitalters […] die Juden« (sic!) (S. 157). So wird die gesamte deutsch-jüdische Kultur in einem Zeitraum von elf Jahrhunderten – in dieser Verkürzung völlig verfälschend – auf drei Seiten abgehandelt.

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Schneider konstatiert für das bürgerliche Zeitalter (1789–1918), dass auch dessen Literatur »– wie die des feudalistischen – kein homogenes Gebilde war, sondern in schichtenspezifische Formen der literarischen Kommunikation zerfiel, die nebeneinander her existierten.« (S. 285) Als parallele Existenzen sind zunächst Land- und Industriearbeiter zu verzeichnen, deren Kultur »im Vergleich mit derjenigen des feudalistischen Bauernstandes als deutlich zivilisierter und kultivierter bezeichnet werden kann« (S. 197). Kleinbürger werden als »erste deutsche Mittelstandskultur« (S. 223) hervorgehoben, während die Besitzbürger sich zwischen der »Macht des Geldes« einerseits und einer »deutschen Nationalkultur« andererseits bewegen. (S. 247) Die Bildungsbürger sind »von der Tendenz zur Intellektualisierung und zur imaginären Autonomisierung« (S. 274) bestimmt; Schneider konstatiert eine Kongruenz zwischen der literarischen Kultur dieser Schicht und der philologisch anerkannten Literatur (vgl. S. 275). Außerhalb dieser Klassen werden wiederum Fahrende sowie Juden vorgestellt, außerdem Sonderkulturen, an denen schichtübergreifend teilgenommen wurde: Kinderliteratur und Pornographie (vgl. S. 278–285).

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Die auf den Zeitraum nach 1918 datierte Epoche ›Demokratisches Zeitalter‹ wird in verschiedene Milieus eingeteilt. Die Literatur wird in dieser Epoche nicht mehr nach Gattungen abgehandelt, stattdessen steht die Mediennutzung im Fokus. Die verschiedenen Milieus beschäftigen sich teils mehr (beispielsweise das technokratisch-liberale oder konservativ-gehobene Milieu), teils weniger (beispielsweise das kleinbürgerliche oder das traditionelle Arbeitermilieu) mit Literatur, Schneider differenziert sehr ausführlich zwischen den verschiedenen literarischen Kulturen und ihren Wegen der Literaturrezeption. Insgesamt bewertet er das demokratische Zeitalter als ein »Jahrhundert der Literatur« (S. 434): »erstmals hatten nun alle Bevölkerungsschichten im Prinzip genug Freizeit, Geld und Bildung, um nach Gusto an einer der literarischen Kulturen zu partizipieren« (S. 434). Auch wenn der größere Spielraum der Möglichkeiten nicht immer von allen Milieus gleicherweise genutzt wird, kommt es zu »einer im 20. Jahrhundert sehr weitgehend realisierten Demokratisierung der literarischen Bildung« (S. 435).

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Neue zusätzliche Ordnungskategorien

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Schneider benennt in seinem Fazit als wichtigstes Ergebnis seine Feststellung, »dass ›die‹ deutsche Literatur in mehrere literarische Kulturen unterteilt war und ist, die nebeneinander existieren« (S. 437). Die bereits in der Einleitung benannten vier Haupttypen von literarischer Kommunikation werden im Fazit ausführlich im historischen Querschnitt dargestellt: Schneider spricht von »Repräsentationskultur der gesellschaftlichen Führungsschichten«, der »gelehrte[n] Kultur der Bildungseliten« gefolgt von der »Unterhaltungskultur des Mittelstandes« und der »Kompensationskultur der Unterprivilegierten«.(S. 438) Diese Typen ließen sich nach Schneider in unterschiedlicher Form in den vier behandelten großen Zeitabschnitten nachweisen. Nachdem die Hauptkapitel der Untersuchung einem Längsschnitt durch die Epochen und Schichten gewidmet waren, wird nun eine weitere Ebene zu dem durch Zeiten und Schichten bereits mehrdimensionalen Gebilde hinzugefügt.

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Probleme in der Darstellung

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Unter historischen Gesichtspunkten muss die zeitalter- und schichtenspezifische Aufarbeitung bei oder gerade wegen der angestrebten Typisierung problematisch erscheinen; die Beschreibung eines literatur-, kommunikations- oder kulturgeschichtlichen Problemfelds über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten wird zwangsläufig Lücken lassen und für bestimmte Phasen innerhalb dieser Zeitalter schlichtweg zu unzutreffenden Schlussfolgerungen führen. Fast ein Jahrtausend beispielsweise unter der Prämisse ›feudalistisches Zeitalter‹ zusammenzufassen, kann den komplexen Strukturen und der Vielschichtigkeit der Produzenten und Rezipienten von Literatur in diesem Zeitraum nur eingeschränkt gerecht werden. Außerdem führt diese raffende Vorgehensweise zu erheblichen, teils irritierenden Zeitsprüngen in der Darstellung; so steht z.B. in Kapitel 4 die Einschätzung der Reaktion einer bestimmten Schicht auf das Naziregime mehr als einmal unmittelbar neben tagesaktuellen Beschreibungen des heutigen Leseverhaltens derselben Schicht.

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Zwar entspricht der Autor insofern seinem Anspruch auf Vollständigkeit der literarischen Kommunikationsformen in den verschiedenen literarischen Kulturen, als er von Epoche zu Epoche die jeweiligen Schichten und ihre typischen Gewohnheiten ›abarbeitet‹; er kann jedoch in dem beschränkten Textumfang eines einzigen Buches trotz aller Bereitschaft und vieler Exkurse nur sehr bedingt die notwendige Differenzierung erreichen. Als lobenswert sind in diesem Zusammenhang die vielen Forschungsdesiderate zu erwähnen, die Schneider besonders im Fazit, aber auch über sein Buch verteilt immer wieder benennt.

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Das Hauptproblem der ersten beiden Kapitel (Stammeszeitalter und feudalistisches Zeitalter) ergibt sich aus der schlechten Quellenlage, zumal der Verfasser zentrale Untersuchungen von Wenzel 15 , Griep 16 und für die allgemeine Alphabetisierung im 18. Jahrhundert von Koschorke 17 nicht berücksichtigt. Über weite Strecken muss Schneider zwangsläufig im spekulativen Bereich bleiben, denn je länger eine konkrete ›Lesesituation‹ zurück liegt, desto schwieriger wird die Rekonstruktion der genauen Umstände bedingt durch kaum vorhandene Quellen. Die wenigen aussagekräftigen Dokumente können nur eine, möglicherweise überbewertete Facette des Geschehens wiedergeben, dürfen also nicht absolut gesetzt werden. Schneider weist deshalb immer wieder mittels konjunktivischer Formulierungen darauf hin, dass es eben so und nicht anders gewesen sein ›könnte‹. Er bezeichnet diese Form der Spekulation bezogen auf die frühen Jahrhunderte zwar als »begründete, aus ethnologischen Studien zu vergleichbaren Stammesgesellschaften ableitbare Hypothese« (S. 449), benennt damit jedoch gleichzeitig explizit den hypothetischen Charakter der Darstellung. Das erste Kapitel über das Stammeszeitalter bleibt dementsprechend auch notgedrungen sehr kurz und grundsätzlich verzichtbar. Die anderen Kapitel geraten deutlich umfangreicher, was einerseits mit den zahlreicher vorhandenen Quellen zusammenhängt – im letzten Kapitel schwelgt Schneider nahezu in Daten und Zahlen –, aber auch in der Tatsache begründet ist, dass die »Arbeitschwerpunkte« des Autors wie auch »der Fokus der vorliegenden Studie […] im Bereich der Neugermanistik liegen«. (S. 57)

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Ein weiteres, gravierendes Manko ergibt sich aus der Textbasis, auf die sich Schneider stützt. Er bezieht sich in größeren Teilen nur auf Kompendien, epochengeschichtliche und ähnliche Darstellungen der Historiker, ohne diese kritisch zu hinterfragen oder gar selbst Quellen zu erarbeiten. Darüber hinaus ist es etwas befremdlich, wenn im Literaturverzeichnis Werke von ›Wüstenrot‹ erscheinen – auch wenn solche Untersuchungen durchaus nach wissenschaftlichen Maßstäben gearbeitet sein mögen, muten diese Titel merkwürdig an.

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Gewinn des Rezipienten

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Der große Gewinn des Buches ist der über das Abhandeln von Literatur nach Qualitätsmaßstäben hinausgehende Ansatz. Durch das Ausklammern des Kriteriums ›Qualität‹, das im Lauf der Jahrhunderte starken Veränderungen unterworfen war, ist und sein wird, bleibt der Blick offen für eine beschreibende, ›positivistische‹ Sicht auf Literatur: was wurde wann, von wem, für wen geschrieben und wann, von wem, wie rezipiert.

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Schneider hat ein Geschichts- und Geschichtenbuch geschrieben, das sich über eine Untersuchung zur Geschichte des Lesens hinaus zu einer Kulturgeschichte mit zahlreichen Abschweifungen entwickelt. So findet sich z.B. auf S. 202 eine halbe Seite über den »Verein« als »wichtigste Kulturschöpfung« des Kleinbürgertums im 19. Jahrhundert. Durch diese Einbeziehung von im weitesten Sinne auf Lesen und Literatur bezogenen Fakten wird die Geschichtswissenschaft um farbige Elemente bereichert, umgekehrt aber auch die Literaturwissenschaft durch das Negieren jeglicher bis dato bekannter Qualitätsmaßstäbe auf ›übersehene‹ Untersuchungsgegenstände hingewiesen.

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Die Stärke des Buches ist aber auch seine Schwäche: Abschweifungen in Randgebiete scheinen überflüssig, so z.B. über den »Pionier des Zirkuswesens« Ernst Jakob Renz (S. 195). Die nur peripher für das Thema des Buches relevanten Einzelheiten schaffen zwar ein farbiges Bild vergangener Zeiten, täuschen jedoch nicht darüber hinweg, dass die angestrebte Darstellung vom Leseverhalten vergangener Zeiten aufgrund der Forschungsmöglichkeiten und Quellenlage oftmals nicht möglich ist bzw. im Spekulativen bleiben muss. Auch wenn die Fülle der Geschichten, Literaturanalysen, Einzelinterpretationen und Exkurse beeindruckt und streckenweise fasziniert, so bleibt doch beim Leser der Eindruck der willkürlichen und beliebigen Auswahl. Wie alle im Grenzbereich zwischen verschiedenen Fächern und Forschungen angelegten Untersuchungen ist auch die vorliegende für alle betroffenen Disziplinen letztendlich unbefriedigend. Es wäre besser gewesen, wenn Schneider sich auf eine – neuere – Epoche konzentriert hätte, statt einen Gesamtüberblick zu versuchen, der schon aufgrund der Quellenlage gerade in den frühen Epochen allzu oberflächlich bleiben muss.

 
 

Anmerkungen

Michael Giesecke: Der Buchdruck der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt 1998.   zurück
Jost Schneider: Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. 3., aktual. Aufl. Bielefeld 2000.   zurück
Ebd., S. 14–17.   zurück
Robert Prutz: Die deutsche Belletristik und das Publicum. In: R. P.: Die deutsche Literatur der Gegenwart. 1848 bis 1858. Band 2. Leipzig 1859, S. 69–89.   zurück
Levin Ludwig Schücking: Soziologie der Literarischen Geschmacksbildung. München 1923.   zurück
Harald Weinrich: Für eine Literaturgeschichte des Lesers. In: Merkur 21 (1967) S. 1026–1038.   zurück
Gunter Grimm: Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie. Mit Analysen und Bibliographien. München 1977.   zurück
Peter Uwe Hohendahl: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830–1870. München 1985.   zurück
Peter Nusser: Deutsche Literatur im Mittelalter. Lebensformen, Wertvorstellungen und literarische Entwicklungen. Stuttgart 1992.   zurück
10 
Erich Schön: Geschichte des Lesens. In: Bodo Franzmann u.a. (Hg.): Handbuch Lesen. München 1999, S. 1–85; Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. (Sprache und Geschichte 12) Stuttgart 1987.   zurück
11 
Siegfried J. Schmidt: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Braunschweig 1980.   zurück
12 
Rolf Engelsing: Der literarische Arbeiter 1. Arbeit, Zeit und Werk im literarischen Beruf, Göttingen 1976; Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500–1800. Stuttgart 1974; Rolf Engelsing: Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft. Stuttgart 1973.   zurück
13 
Alberto Manguel: A history of reading. London 1996 (deutsche Übersetzung: Eine Geschichte des Lesens, Berlin 1998).   zurück
14 
Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800, 1900. 3., vollst. überarb. Neuaufl. München 1995.   zurück
15 
Horst Wenzel (Hg.): Adelsherrschaft und Literatur. (Beiträge zur älteren deutschen Literaturgeschichte 6) Bern 1980; Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995; Horst Wenzel (Hg.), Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. (Schriften des Kunsthistorischen Museums 5) Wien 2000; Horst Wenzel: (Hg.): Typus und Individualität im Mittelalter. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 4) München 1983.   zurück
16 
Hans-Joachim Griep: Geschichte des Lesens. Von den Anfängen bis Gutenberg. Darmstadt 2004.   zurück
17 
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999.   zurück