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Interdisziplinäres Grenzgebiet

Eine Einführung in Dichtung und Musik im Mittelalter

  • Achim Diehr: Literatur und Musik im Mittelalter. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt 2004. 156 S. 11 Abb. Kartoniert. EUR (D) 34,80.
    ISBN: 3-503-07916-5.
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Kontext

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Die Erkenntnis, daß sich die Verbindung von Wort und Musik im Mittelalter nicht auf den klerikalen Bereich beschränkte, sondern daß auch volkssprachliche Gattungen wie Minnelyrik, Spruch und Leich sowie Spielarten der Epik und Teile der religiösen Dichtung gesungen und instrumental begleitet vorgetragen wurden, ist nicht neu. Die Untrennbarkeit von Musik und Dichtung läßt sich aus der überschaubaren Anzahl alt- und mittelhochdeutscher Quellen, in denen die Texte zusammen mit Melodie überliefert werden, freilich nur mit Mühe herauslesen.

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Die unbefriedigende Überlieferungssituation kann jedoch nicht über die Bedeutung der Musik für den Vortrag volkssprachlicher Dichtung und – aus heutiger Sicht – deren Interpretation hinwegtäuschen. Gleichwohl beschränkt sich die interdisziplinäre Ausrichtung der germanistischen Mediävistik, wie sie mit anderen Fächern bereits praktiziert wird, in Richtung Musikwissenschaft oft noch auf Einzelfälle. Ein Grund hierfür könnte in dem fachimmanenten ›Spezialwissen‹ der Musikwissenschaftler liegen, das sich aus Sicht des Germanisten vor allem in den verschiedenen, zum Teil komplexen mittelalterlichen Notationsformen ausdrückt. Und weiter: Welcher Mehrwert läßt sich für den Germanisten überhaupt aus der Beschäftigung mit mittelalterlichen Notenschriften beziehen, wo doch zumindest für den deutschsprachigen Raum nur ein eher schmales Korpus mit paralleler Text- und Melodieaufzeichnung bezeugt ist?

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Dies ist der Fragen- und Problemkontext, in den Achim Diehr sein Buch Literatur und Musik im Mittelalter: Eine Einführung stellt und in dem er den interdisziplinären Brückenschlag versucht. Neben der Vermittlung von Theorie und Praxis einstimmiger Musik des Mittelalters hat es sich der Autor zum Ziel gesetzt, »das Zusammenspiel von Text und Melodie vor allem auf seinen Erkenntnisgewinn für die Literaturwissenschaft zu befragen« (Rückseitentext).

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Aufbau und Analyse

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Achim Diehr gliedert sein Buch in sechs größere Abschnitte. Dem eigentlichen Hauptteil (S. 11–124) geht eine kurze Einleitung voraus (S. 7–10); als Anhang folgen ein Glossar (S. 125–130), eine Übersicht über wichtige Handschriften weltlicher Melodieüberlieferung (S. 131–134), eine Diskographie (S. 135–137), das Literaturverzeichnis (S. 138–154) und ein Register (S. 155–156). Ich orientiere mich im folgenden an der Gliederung des Buches und stelle ausgewählte Schwerpunkte der Kapitel heraus.

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Zur Einleitung

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Für Achim Diehr besteht die interdisziplinäre Hürde vor allem in dem erwähnten Problemfeld fehlender Notenkenntnisse vieler Germanisten sowie der schlechten Quellenbasis: »Ist eine Beschäftigung mit den oft nur schwer zu entziffernden Melodien unter diesen Bedingungen überhaupt lohnenswert« (S. 7)? Eine fächerübergreifende Arbeitsweise ist für den Autor eine Notwendigkeit, da die Herauslösung des Textes aus dem Zusammenhang von Gestik, Mimik, Kleidung und Stimme der komplexen Aufführungssituation nicht gerecht werde (S. 7). Die schlechte Überlieferungslage mache aber einen Perspektivenwechsel notwendig: weg vom Minnesang, hin zu jenen Quellen, bei denen die Melodieüberlieferung günstiger ist. Dementsprechend richtet der Verfasser den »Fokus der Untersuchung auf von der Überlieferungslage vorgezeichnete Schwerpunkte« (S. 7), nämlich den Sangspruch, Frauenlob, Neidhart, den Mönch von Salzburg, Eberhard von Cersne, Oswald von Wolkenstein und Hugo von Montfort (S. 8).

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Neben Bemerkungen zu Methodik und Aufbau informiert die Einleitung über den Anspruch des Buches. Erklärtes Ziel ist es, »auf möglichst einfache Weise in einige grundlegende Aspekte der Musik im Mittelalter einzuführen« (S. 8). Die Einschränkungen, denen Achim Diehr sein Buch unterwirft (z.B. die Ausblendung der Mehrstimmigkeit), scheinen angesichts des Umfanges der eigentlichen Ausführungen (nur 113 Seiten) dringend notwendig. Dementsprechend wird auch kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben: Der Verfasser will seine Einführung nicht als »enzyklopädischen Rundumschlag« (S. 8) verstanden wissen. Zahlreiche Impulse bezieht das Buch übrigens aus Achim Diehrs lesenswerter Dissertation aus dem Jahre 1997. 1

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Literatur und Musik im Mittelalter: Eine Einführung wendet sich ausdrücklich nicht an Musikwissenschaftler, sondern an Germanisten und Interessierte benachbarter Disziplinen (S. 9), von denen grundlegende Notenkenntnisse erwartet werden (S. 10). Weiter ausdifferenziert wird das Zielpublikum – Lehrende? Studierende? – nicht.

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Kapitel 1

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In Kapitel 1 wird ein Überblick über die Semantik des Musica-Begriffs in lateinischen Traktaten von der Spätantike (Augustinus, Boethius) bis hin zu Johannes de Grocheio im 14. Jahrhundert geboten. Überzeugend gelingt es dem Verfasser auf knappen Raum das Wesentliche der Abhandlungen herauszufiltern und weiterzugeben. Für die darüber hinausgehende Beschäftigung hat er weiterführende Literaturangaben anhand von Kurzzitaten in seinen Text eingearbeitet. Man hätte die vollständige Literaturangabe aus Gründen der Praktikabilität auch an das Ende der jeweiligen Abschnitte setzen können, um die relevanten Editionen und die zitierte Forschungsliteratur thematisch geordnet beisammen zu haben.

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Beschlossen wird das erste Kapitel mit einem Überblick über Musik-Definitionen in der weltlichen Literatur. Der Autor weist darauf hin, daß »sich kaum Stellen unter dem Lemmata ›Musica‹ (S. 19) in der volkssprachlichen Literatur finden lassen und dort nur selten »Aspekte der spekulativen Musiktheorie thematisiert« (S. 19) würden. So hat es hier mit einer selektiven Sammlung von Belegstellen zur Aufführungspraxis v.a. aus den höfischen Romanen sein Bewenden.

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Für eine Einführung, die sich insbesondere an Germanisten wendet, ist es schade, daß gerade im musiktheoretischen Kontext Notkers des Deutschen volkssprachlicher Traktat De musica überhaupt keine Erwähnung findet. Obgleich es sich bei dem althochdeutschen Text um keine Auseinandersetzung mit dem Musica-Begriff im eigentlichen Sinne handelt, fehlt dieses singuläre Zeugnis hier schlichtweg. Das ist bei aller Notwendigkeit zur Beschränkung und Gewichtung doch bedauerlich. Eine Einordnung in das Kapitel ›Instrumente‹ wäre aufgrund des Inhalts ebenso denkbar gewesen.

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Kapitel 2 und 3

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In den beiden folgenden Kapiteln informiert der Verfasser über die Träger des mittelalterlichen Musikgeschehens sowie über die mittelalterlichen Instrumente. Es wird u.a. ein kompetenter Abriß über die Begriffe Musicus, Cantor und Spielmann geboten, gefolgt von Informationen über die gesellschaftliche Stellung der Musiker. Aufschlußreich sind auch die Ausführungen zu den Instrumenten und ihre Einteilung (Instrumenta pulsatilia, Instrumenta inflatilia, Stimme). Bei allem Zwang zur Kürze ist Achim Diehr in der Lage, dem Leser eine erste Orientierung zu bieten und mittels der sorgfältig eingearbeiteten Forschungsliteratur konkrete Hilfen für die eigene Weiterbeschäftigung mit an die Hand zu geben.

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Kapitel 4

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Nach Bemerkungen zum kontrovers diskutierten ›formulaic system‹ 2 und zur Melodieimprovisation richtet der Verfasser sein Augenmerk auf die mittelalterlichen Notenschriften. Er referiert zunächst die gängigen Theorien zur Entstehung der Neumenschriften, um dann konkret auf die adiastematischen und diastematischen Neumen einzugehen. Hier hätte man sich etwas mehr Ausführlichkeit gewünscht: Vorgeführt wird die Neumennotation lediglich anhand eines Walther-Liedes (53, 25). Vollkommen ausgeblendet werden die althochdeutschen Denkmäler: Das Petruslied, Ratperts althochdeutsches Galluslied (das immerhin in drei lateinischen, mit Neumen versehenen Übersetzungen autograph von der Hand Ekkehards IV. überliefert ist) und die neumierte Kontrafaktur Hirsch und Hinde finden ebenso wenig Erwähnung wie etwa die Diskussion zu den Neumen in Otfrids Evangelienharmonie. Die letztgenannte Dichtung hätte man auch im Zusammenhang mit den Entstehungstheorien der Neumenschriften (Stichwort: Akzenttheorie) nennen können. 3 Gewiß: Der Schwerpunkt soll auf der weltlich-einstimmigen Musik liegen, und insofern ist der Verfasser in der Ausblendung geistlicher Dichtung nur konsequent. Die Trennung weltlich / geistlich erscheint allerdings nicht sonderlich glücklich, da hierdurch – neben den erwähnten althochdeutschen Dichtungen – für die mittelalterliche Melodieüberlieferung bedeutende Bereiche (z.B. die geistlichen Spiele) unerwähnt bleiben.

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Den folgenden Ausführungen zur Quadrat-, Hufnagel- und Buchstabennotation sind Abbildungen beigegebenen (aus der Jenaer Liederhandschrift, der Wiener Liederhandschrift, dem Melker Fragment Q mit einem Ausschnitt aus Frauenlobs Marienleich sowie aus Der Minne Regel des Eberhard von Cersne). Das ist einerseits sehr praktisch, da den Abbildungen vereinzelte – man wünscht sich zuweilen mehr davon – Transkriptionen folgen. Andererseits sind die Wiedergaben zuweilen sehr klein, wodurch ihr Informationsgehalt einschränkt wird. Mit einem Exkurs zur sog. Daseia-Notation der Musica Enchiriadis (9. Jhd.), die in der Praxis nie Anwendung fand, wird das Kapitel beschlossen.

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Kapitel 5

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Hier gibt der Autor einen Überblick über die mittelalterlichen Tonsysteme, die Kirchentonarten, die Hexachordlehre und Solmisation sowie den Rhythmus. Dabei werden Informationen geliefert, die man mit Interesse liest. Übertragen auf den weltlichen Bereich können sie, worauf Achim Diehr selbst hinweist, oftmals nur den Status einer unverbindlichen Spekulation für sich beanspruchen.

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Unter dem Punkt ›Rhythmus‹ (und auch später) fallen häufiger die Begriffe Modalnotation und Mensuralnotation, die v.a. für die Mehrstimmigkeit relevant sind. Diese komplexen Notationsformen, deren Anwendung im Minnesang zuweilen diskutiert wurde, versucht der Verfasser rein verbal zu umreißen. Es ist fraglich, inwieweit sich für einen Leser ohne musikwissenschaftliche Vorkenntnisse die Mensuralnotation aus Definitionsversuchen wie dem folgenden erschließen läßt:

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Die ab dem 13. Jahrhundert entstehende Mensuralnotation ist ungleich differenzierter und komplizierter [als die Modalnotation]. Hier sind die Tondauern auf die Grundeinheit des Notenwertes ›Brevis‹ bezogen; der größte Notenwert ist die ›Duplex Longa‹, die aus zwei Longae besteht, jede Longa besteht aus drei Breven, jede Brevis aus drei Semibreven. Jede der Dauern wird nun durch ein eigenes Notenzeichen repräsentiert, wobei sehr viele der Zeichen in zwei- und mehrtönigen Ligaturen zusammengefaßt werden. Jede dieser Ligaturen gibt deshalb nicht nur über die Tonhöhen Aufschluß, sondern auch über die Tondauern. (S. 89)
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Hier fehlen Beispiele, die das Gesagte veranschaulichen. Zumindest aber hätte man dem Interessierten einen Hinweis auf Willi Apels Die Notation der polyphonen Musik 4 mitliefern können, einem Grundlagenwerk, in dem u.a. die Modal- und Mensuralnotation mittels zahlreicher praktischer Beispiele detailliert erklärt wird.

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Kapitel 6

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Am besten ist Achim Diehr das letzte, »Das Zusammenspiel von Musik und Text« überschriebene Kapitel seiner Arbeit gelungen. Überzeugend legt er dar, wo und auf welche Weise musikologische Untersuchungen dazu beitragen können, literaturwissenschaftlich determinierte Begrifflichkeiten wie ›Referentialität‹, ›Mouvance‹ oder ›Intertextualität‹ differenzierter zu betrachten und sie zumindest partiell neu zu bedenken. Daß sich musikalische Befunde nicht nur als interpretatorische Hilfsmittel eignen, vermittelt z.B. die Annäherung an den Begriff der ›Mouvance‹ (S. 112). Das mit Notation tradierte Fragment Q von Frauenlobs Marienleich ist Paradigma dafür, wie ein zugrundeliegendes musikalisches Gebilde für »eine Stabilität der Überlieferung« (S. 113) und eine Textverfestigung sorgen kann, durch welche Mouvance verhindert wird: Dem Marienleich ist ein komplexes musikalisches Gerüst unterlegt, das in Form eines umfassenden Tonartenplans nicht nur Sprecherwechsel markiert, sondern gleichsam »die Überlieferung der Strophenfolge« (S. 113) sichert. Indem der Musik hier eine konkrete Funktion zukommt, geht sie weit über ihre Bedeutung als Instrumentarium der Interpretation hinaus.

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Abschließende Beurteilung

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Achim Diehr ist mit seinem Buch ein informativer und lesenswerter Versuch gelungen, sich auf interdisziplinäres Grenzgebiet vorzuwagen und eine Brücke zwischen Musikwissenschaft und germanistischer Mediävistik zu schlagen. Die einzelnen Kapitel sind sprachlich verständlich geschrieben, was angesichts der teilweise komplexen Materie keine Selbstverständlichkeit ist. Aus dem Anhang sind vor allem das Glossar und das 15-seitige Literaturverzeichnis, das sich auf Höhe der Zeit befindet und zur eigenen Weiterbeschäftigung anregt, positiv hervorzuheben. Allerdings muß man sich auf die Anlage des Buches einlassen: Es handelt sich dabei weniger um eine Einführung im klassischen Sinne, als um einen Überblick, der selektive Schwerpunkte setzt und dabei Ausblendungen bewußt in Kauf nimmt. Ob diese Schwerpunkte (und Ausblendungen) immer glücklich gewählt wurden, ist zumindest hinterfragenswert. Eine Publikation, die sich im Buchtitel als Einführung ankündigt, muß sich auch an den vom Titel ausgehenden Erwartungshaltungen messen lassen. Insofern hätte man sich zuweilen eine Verlagerung der Gewichtungen hin zu jenen Bereichen gewünscht, die für den Germanisten die größte Praxisrelevanz haben (z.B. die Notationsformen, die Überlieferungslage, das Text-Musik-Zusammenspiel) – zu Gunsten der Vermittlung von Grundlagenwissen für den Praxisgebrauch, zu Lasten von rein theoretischer Wissensvermittlung oder von mediengeschichtlichen Exkursen (wie in Kapitel 4). Denn es sind gerade die praktischen Beispiele, die auf eindrucksvolle Weise zeigen, wo der Erkenntnisgewinn interdisziplinärer Forschung liegen kann.



Anmerkungen

Diehr, Achim: ›Speculum corporis‹. Körperlichkeit in der Musiktheorie des Mittelalters (Musiksoziologie Bd. 7) Kassel u.a. 2000; zugl.: Essen, Univ., Diss., 1997.   zurück
Das ›formulaic system‹ gründet sich auf der Annahme, daß die Sänger in der Zeit vor dem Einsetzen der Verschriftlichung in der Lage gewesen seien, die Gesänge zu den liturgischen Texten mittels memorierter, melodischer Formeln zu ›improvisieren‹, mit der Konsequenz einer unfesten Melodieüberlieferung.   zurück
Die Untersuchung von Bielitz, Matthias: Die Neumen in Otfrids Evangelienharmonie. Zum Verhältnis von Geistlich und Weltlich in der Musik des frühen Mittelalters sowie zur Entstehung der raumanalogen Notenschrift. Heidelberg 1989, findet sich bei Diehr zwar im Literaturverzeichnis, allerdings in einem anderen Kontext. Vgl. zu dieser Thematik zuletzt: Klaper, Michael: Musikhistorische Interpretationen. In: Kleiber, Wolfgang (Hg.): Otfrid von Weißenburg. Evangelienbuch. Band I: Edition nach dem Wiener Codex 2687 (zwei Teile), Teil 2. Tübingen 2004, S. 148–153.   zurück
Apel, Willi: Die Notation der polyphonen Musik 900–1600. Wiesbaden 1989.   zurück