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Als Hugo von Hofmannsthal 1913 eine Ausgabe der Singspiele und Opern Goethes mit einem Vorwort versah, begann er folgendermaßen: »Werfen wir einen glücklichen, nicht seelenlosen Blick auf diese ›Nebenwerke‹, so sind es, obwohl höchst zweckvoll künstliche Gebilde, doch auch wahrhaftige Naturtaten, und der volle, freie Blick des Genius kommt dem unsern aus ihnen entgegen.« Und weiter heißt es:
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Hier liegt Entstandenes nach zeitlicher Folge nebeneinander geordnet; vermögen wir es uns aufzulösen, als ein Entstehendes, zum Teil sogar als ein vergeblich Entstehendes es wieder zu gewahren, so regt sich vor uns, unseren Sinnen faßbar, die hohe dichterische Natur, und der Geist der Poesie weht auch hier unmittelbar uns an.
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Bedauerlicherweise hat die Germanistik diese Anregung von berufener Seite nicht aufgegriffen, und die Libretti Goethes wurden auch weiterhin als Nebenwerke – und zwar ohne Anführungsstriche – gewertet und dementsprechend nicht in den Kanon der Goethe-Forschung aufgenommen; eine Geringschätzung, die selbst in den Kommentaren der Frankfurter und Münchner Goethe-Ausgaben stellenweise noch spürbar ist. Auch die Tatsache, daß dem Thema ›Goethe und die Musik‹ insgesamt eine relativ große Aufmerksamkeit zu Teil wurde, konnte daran nichts verändern.
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Dieses Desinteresse der Forschung aber ist umso unverständlicher, als Goethe sich an den Potentialen und Problemen des Musiktheaters beinahe sein ganzes Leben lang regelrecht ›abgearbeitet‹ hat: Insgesamt entstanden nicht weniger als 36 Libretti für so unterschiedliche Gattungen wie das Singspiel, die Oper, das Melodram und das Festspiel, ganz zu schweigen von Faust – der summa von Goethes Bemühungen um das Musiktheater. Entgegen dem allgemeinen Vorurteil waren auch nicht alle dieser Stücke erfolglos; C. D. F. Schubart nannte etwa Erwin und Elmire – dessen Libretto häufiger vertont wurde als jedes andere deutsche zuvor und sogar außerhalb Deutschlands aufgeführt wurde – das »beste deutsche Singspiel«, und J. F. Reichardts Vertonung von Jery und Bätely stand immerhin von 1801 bis 1821 auf dem Berliner Spielplan. Goethes eigene Wertschätzung seiner Arbeiten für das Musiktheater zeigt sich unter anderem daran, daß er die Bände 6 und 7 der Göschen-Werkausgabe mit Titelvignetten verzieren ließ, die Szenen aus Lila beziehungsweise Jery und Bätely zeigen.
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Als Gründe dafür, daß Goethes Librettistik von der Forschung trotz alledem mißachtet wurde, sind neben dem in der Germanistik lange absolut gesetzten Paradigma der Autonomieästhetik die spezifischen methodischen Probleme der die Beherrschung mehrerer universitärer Disziplinen voraussetzenden Librettologie anzunehmen – Probleme, die Goethe übrigens klar gesehen hat, wie sein Brief an den Fürsten von Lobkowitz vom 7. Oktober 1812 belegt: »Der Text einer Oper gehört unter die Dichtungsarten, welche sehr schwer zu beurtheilen sind [...]. Man hat sie in Bezug auf Musik, den Componisten, die Bühne, das Publikum zu betrachten, ja sogar auf kurz vorher gegebene und andere bekannte Opern Rücksicht zu nehmen.« (Zitiert nach S. 4)
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Neues Interesse an Goethes Musiktheater
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Erst im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts hat sich die Forschungssituation langsam geändert. Die Arbeiten Benedikt Holtbernds,
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Markus Walduras
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und zumal die Habilitationsschrift Jörg Krämers
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eröffneten differenzierte, zum Teil die Grenzen der Germanistik entschieden überschreitende Perspektiven auf einen komplexen Gegenstand und seine vielfältigen Kontexte. Im Goethe-Jahr 1999 fand in Frankfurt ein interdisziplinäres Symposium statt, das sich unter anderem Goethes Musiktheater zuwandte; die Beiträge, von denen einige fundierte Analysen zu einzelnen Libretti und ihren Vertonungen bieten, liegen mittlerweile gedruckt vor.
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Im Metzler Verlag wird im Spätherbst dieses Jahres ein Handbuch zu Goethes musikdramatischen Werken erscheinen und das Teilprojekt C 8 (Musik und Theater) des SFBs 482 (Ereignis Weimar – Jena. Kultur um 1800) untersucht gegenwärtig das mit dem Musiktheater eng zusammenhängende und lange ebenso vernachlässigte Phänomen der Schauspielmusik im klassischen Weimar.
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Selbst Versuche, Goethes Singspiele zurück auf die Bühne zu bringen, wurden inzwischen unternommen.
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In diesem Kontext eines neuen wissenschaftlichen Interesses an Goethes Musiktheater ist auch eine in Tübingen entstandene Dissertation zu sehen, die sich diesem Bereich erstmals umfassend zuwendet und damit dezidiert die beschriebene Forschungslücke schließen möchte. Die Autorin Tina Hartmann strebt in der Tat nichts Geringeres an, als »erstmals die Bedeutung [zu klären] [...], die dem Musiktheater innerhalb des Goetheschen Gesamtwerks tatsächlich zukommt [...]«(S. 2). Angesichts des sich jetzt schnell entwickelnden Forschungsstandes kann vielleicht nicht mehr ganz so emphatisch von »eine[m] der vermutlich letzten unbekannten Bereiche der Goethephilologie« gesprochen werden, wie die Autorin dies in ihrer Einleitung tut (S. 1) – zumal sie beispielsweise die grundlegende Arbeit Krämers, die überdies im Literaturverzeichnis fehlt, kaum berücksichtigt hat –, doch in jedem Fall ist ihr Versuch einer ersten Gesamtdarstellung ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer angemessenen Einschätzung dieses Gegenstandes.
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Erkenntnisinteresse und Methode
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Hartmann spezifiziert die Ziele ihrer Untersuchung dahingehend, »die Werke für das Musiktheater in ihren jeweils spezifischen Strukturen zu erfassen und diese für die Interpretation der Texte zu verwenden. Ihre Bezüge zur zeitgenössischen Librettistik sollen ebenso geklärt werden, wie die in den jeweiligen Texten zum Ausdruck kommende Ästhetik des Musiktheaters« (S. 2). Ihre zu diesem Zweck entwickelte »spezifische[ ] Methodik« begreift Hartmann als eine »genuin literaturwissenschaftliche, jedoch unter Einbezug des ›komparatistischen Grenzgebietes‹, zwischen Musik und Literatur, das in Oper und Librettistik seine wohl bedeutsamste Synthese findet« (S. 2). Die Untersuchung ist chronologisch gegliedert, beginnend mit Erwin und Elmire, endend mit Faust. Flankiert werden die der Analyse der Libretti und der ihnen zugrundeliegenden Ästhetik gewidmeten Abschnitte durch eine Reihe von Kapiteln und Exkursen, die die biographischen, werk- und gattungsgeschichtlichen Kontexte nachzeichnen, in denen die jeweiligen Arbeiten zu sehen sind. Nicht oder nur am Rande berücksichtigt werden »die kleineren Werke für das Musiktheater« wie Concerto Dramatico und Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern sowie die Maskenzüge und Kantaten-Libretti (S. 3, Anm. 9). Strenggenommen ist diese Arbeit also keine Gesamtdarstellung. Doch für eine Dissertation ist dies dennoch ein riesiges Pensum. Und um es gleich vorwegzunehmen: Die Autorin hat dieses Pensum glänzend bewältigt und ist dabei zu so vielen neuen Erkenntnissen gelangt, daß sie in diesem Rahmen nicht annähernd vollständig wiedergegeben werden können; im folgenden sollen daher nur einige Aspekte herausgehoben werden.
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Goethes Opernhorizont
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Von großem Wert ist der der Arbeit beigegebene Anhang, der eine Übersicht über alle Werke des europäischen Musiktheaters bietet, die Goethe nachweislich kannte – es sind rund 200. Dabei reicht das Spektrum von den zahlreichen Aufführungen der Marchandschen Truppe mit Werken unter anderem von A. Grétry, J. A. Hiller und G. Benda, die der junge Goethe sah und die ihn bald zu eigener Produktion reizten, über diejenigen – wiederum eine beträchtliche Zahl –, die er in Italien kennenlernte, bis hin zu den Stücken, die unter seiner 26-jährigen Intendanz in Weimar aufgeführt wurden; dies waren nicht weniger als 104 Opern und 31 Singspiele in insgesamt 1084 Aufführungen. Den Weimarer Spielplan bis 1810 charakterisiert Hartmann darüber hinaus als einen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ bedeutsamen, als einen »Spiegel der erfolgreichsten und geschichtemachenden Opern des späten 18. und der Wende zum 19. Jahrhundert«: »[v]on Goethes Opernspielplan darf man daher zurecht behaupten, er fühle sensibel am Puls der zeitgenössischen Entwicklung und habe zudem ein sicheres Gespür für die gattungsbildenden Werke seiner Zeit« (S. 270 f.).
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Schon wenn man diesen Anhang nur überfliegt und dabei in erster Linie nicht auf die wenigen heute noch bekannten Stücke Glucks, Mozarts oder Rossinis stößt, sondern beispielsweise auf Die Geisterinsel (nach Shakespeares Sturm) von J. F. A. Fleischmann / F. W. Gotter oder Joseph in Ägypten von E.-N. Méhul / F. Duval, wird unmittelbar deutlich, worauf nicht nur Dieter Borchmeyer wiederholt hingewiesen hat und was dennoch noch nicht ernst genug genommen wird: Daß nämlich mit dem Ausschluß des Musiktheaters aus dem Korpus der für die Literaturwissenschaft und die Literaturgeschichtsschreibung relevanten Werke ein ganzer kultureller Kontinent versunken ist, der mit den literarischen Werken der Epoche jedoch auf vielfältige Weise intertextuell und intermedial verbunden ist. Sollten diese Zusammenhänge, was sehr zu hoffen ist, in Zukunft stärker in den Blick der Forschung genommen werden, ist mit Umwertungen größeren Ausmaßes zu rechnen.
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In jedem Fall war Goethe – das geht aus dem Anhang eindeutig hervor – mit der ganzen Bandbreite des europäischen Musiktheaters seiner Zeit und einigen historischen Formen aufs Engste vertraut, und zwar sowohl produktiv als Librettist, Regisseur und Intendant wie auch rezeptiv als Opernbesucher und Leser von Libretti beziehungsweise Partituren. Es überrascht daher nicht, daß Goethes Musiktheater, wie Hartmann an vielen Stellen überzeugend nachweisen kann, »sich von den frühen Singspielen an bis hin zu Faust II als ein intensiver und artifiziell hochstehender Diskurs mit dem europäischen Musikdrama erweist« (S. 15).
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Poetologie und Praxis des Singspiels
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Diese intime Kenntnis, die gelegentliche, zum Teil produktive Mißverständnisse freilich nicht ausschließt, spiegelt sich auch in Goethes Reflexionen des Musiktheaters wieder, die er in Briefen, Gesprächen und anderen Formen immer wieder anstellte, wobei sich diese ästhetischen Überlegungen und die librettistische Praxis »gegenseitig kommentieren und erhellen« (S. 22). Sehr ergiebig ist etwa der Briefwechsel, den Goethe anläßlich von Jery und Bätely mit dem von ihm lange favorisierten Komponisten Philipp Christoph Kayser führte und in dem er eine veritable »Poetologie des Singspiels« (S. 114) entwickelt. Im Mittelpunkt steht dabei die funktionale Einbindung der Gesangseinlagen in den dramatischen Text. Goethe strebte ein organisches Verhältnis von Dramatik und Lyrik an, »bei dem die Handlung die Gesänge gleichsam wie Blüten einer Pflanze hervorbringt« (S. 116). Damit befand er sich »[g]eradezu avantgardistisch am Puls der zeitgenössischen Entwicklung« (S. 119).
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In ihren Analysen der einzelnen Singspiele kann Hartmann zeigen, daß Goethe das theoretisch Postulierte durchaus eingelöst hat und die Singspiel-Libretti insgesamt »weit über die Praxis seiner norddeutschen Zeitgenossen« hinausgehen, da sie »nicht nur inhaltlich von äußerster Brisanz sind, sondern zudem für ihren Entstehungszeitraum und ihre Gattung avantgardistische Maßstäbe setzen [...]«(S. 133). Und darüber hinaus: »Goethe verbindet mit seinen Werken nicht nur von Anfang an den Anspruch, gattungsbildend zu wirken, sondern hat zudem stets den Horizont des europäischen Musikdramas vor Augen und antizipiert mit seinen Werken teilweise bereits die erst folgenden Entwicklungsschritte der Gattung.« (S. 253)
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Die Semantik der musiktheatralischen Formen
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Zu den Charakteristika von Goethes Libretti gehört von Anfang an, daß das semantische Potential der musiktheatralischen Formen in die Bedeutungskonstitution der Werke miteinbezogen wird. Goethe befindet sich damit durchaus im Einklang mit seiner Zeit, doch geht er auch hierin über deren Konventionen hinaus. Hartmann legt dies unter anderem an Jery und Bätely dar, wo der Bauernfigur Jery eine Dacapo-Arie zugewiesen wird und dabei die Konnotationen dieser Form dramaturgisch funktionalisiert werden: Zum einen erhält Jery so »beinahe schon tragische Dimensionen« (S. 107), zum anderen »schwingt bereits etwas von der ironischen Brechung mit, die das italienische Intermezzo und die frühe opera buffa den Formen der ernsten Oper angedeihen ließen« (ebd.). Bätely dagegen »maskiert ihre wahren Gefühle, die nach einer Arie verlangen würden, mit dem Lied« (S. 110). An anderer Stelle wird die traditionelle Funktion des Duetts auf den Kopf gestellt, da darin nicht eine harmonische Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren zum Ausdruck kommt, sondern im Gegenteil »ihr unüberbrückbarer Gegensatz« (S. 105).
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Ähnlich geht Goethe im Faust I vor, wo er auf ein Duett zwischen Faust und Gretchen verzichtet und so eine »sprechende Leerstelle« (S. 383) entstehen läßt: »Faust ist nicht durchtrieben genug, um mit aktiver Täuschung Harmonie zu heucheln und ein Duett durch Lüge möglich zu machen« (ebd.). Erst in der Walpurgisnacht kommt es dann zu einem Duett zwischen Faust und einer jungen Hexe, in dem sich zum einzigen Mal im ganzen Drama, und zwar »aus purer Libido« (S. 387), eine Harmonie zwischen zwei Liebenden einstellt. Hartmann sieht darin zu Recht eine »entlarvende Persiflage auf die kanonischen Liebesschwüre von Singspiel und Oper« (ebd.).
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Es ist zu hoffen, daß diese Ergebnisse von der Forschung gebührend zur Kenntnis genommen werden. Hartmann hat damit, nicht als erste zwar, aber mit großer Deutlichkeit, auf ein grundlegendes Phänomen aufmerksam gemacht, das auch für andere Werke nicht nur der Goethezeit relevant ist.
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Faust als »Universaltheater«
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Zielpunkt der Arbeit ist Faust, zu ihm gravitiert sie von Anfang an, und das völlig zu Recht, bedenkt man die vielfach kommentierte – aber unbegreiflicherweise kaum näher analysierte – Affinität dieses Textes zur Musik, die sich ja bereits rein quantitativ auswirkt. Wie Detlev Altenburg gezeigt hat, ist »für nahezu 20% des Textes von Faust I ein Zusammenwirken von Sprache und Musik vorauszusetzen.«
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Ein Grund für diese sich im zweiten Teil noch intensivierende Symbiose von Sprech- und Musiktheater sind die zunehmend desillusionierenden Erfahrungen, die Goethe mit seinen Opern-Projekten machte: Dies brachte ihn aber eben nicht dazu, sich vollends vom Musiktheater abzuwenden; stattdessen hat er es gleichsam in sein Hauptwerk ›hinübergerettet‹.
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Das wird bereits im ersten Teil evident, dessen Analyse eine »Spiegelung nahezu aller librettistischer Verfahrensweisen des 18. Jahrhunderts« (S. 541) ergibt. Hartmann bestimmt die Form des Faust I als die eines »Singspiels [...], in dem Gesang und Deklamation alternieren« (ebd.). Schon Faust I wird damit zu einem »Theatertext, der zugleich vertonungsunabhängiges Drama und über weite Strecken wirkungsvolles Libretto ist« (S. 346).
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Und auch hier erweist sich die Rekonstruktion von Goethes Kenntnis des Musiktheaters als ergiebig: Hartmann kann wiederholt zeigen, daß Goethe auf andere Stücke rekurriert, Anleihen macht oder daß analoge Strukturen vorliegen. Ein Beispiel sind die Chöre der Nacht-Szene, die Hartmann – anders als Schöne, der sie auf mittelalterliche Responsionen zurückgeführt hatte – mit dem zeitgenössischen italienischen Passionsoratorium in Verbindung bringt; ein anderes ist Tarare, ein einst sehr bekanntes, aber heute weitgehend vergessenes dramma tragicomico per musica von Salieri / Beaumarchais, das Goethe parallel zur Entstehung des Prologs im Himmel 1800 in Weimar aufführte und an dem Hartmann vorführt, daß »die Faustdichtung wesentliche Aspekte ihrer dramatischen Form [...] aus der klassizistischen Oper generiert« (S. 23).
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Wie Hartmann überzeugend darlegt, stellt sich Faust I insgesamt als »synthetisierende Gelenkstelle für Goethes frühe und späte Ästhetik des Musiktheaters« (S. 541) dar. Im Walpurgisnachtstraum, der einzig durchgesungenen Szene des ersten Teils, sieht sie sogar die Keimzelle des Faust II: »Das vielgescholtene ›Intermezzo‹ (per musica) erweist sich in [...] hohem Maße als konstitutiv für die Verfahrensweisen des zweiten Teils [...]«(S. 542). Mit dieser These gibt sie einer alten Diskussion der Faust-Forschung eine neue Wendung.
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Höhe- und Endpunkt der Arbeit ist schließlich das dem zweiten Teil des Faust – dem Höhe- und Endpunkt auch der Auseinandersetzung Goethes mit dem Musiktheater – gewidmete Kapitel. Hartmann leitet Goethes hierin verwirklichte »Konzeption eines alle Mittel und Gattungen verwendenden Musik-Theaters« (S. 458) zunächst von den Festspielen, insbesondere von Des Epimenides Erwachen ab, um dann die Spezifik des Verfahrens in Faust II herauszuarbeiten. Dabei schlägt sie mit einleuchtenden Argumenten vor, den immer wieder zur Charakterisierung dieses Textes herangezogenen, aber durch Richard Wagners Verwendung besetzten Begriff des Gesamtkunstwerkes durch den des »Universaltheaters« zu ersetzen. Dieses beschreibt sie wie folgt:
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Goethes Universaltheater erweist sich als eine Verbindung aller Theatermedien, die unter Verwendung nahezu aller Traditionen des Musiktheaters die vom Welttheater implizierte Totalität des Weltganzen zunehmend durch die Totalität der verwendeten Mittel auf den ›Brettern, die die Welt bedeuten‹, ersetzt. (S. 544)
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Bei ihrer Analyse der einzelnen Szenen ermöglicht Hartmann, wie auch bereits hinsichtlich des ersten Teils, immer wieder neue Perspektiven auf scheinbar Altbekanntes und kann zudem mehrfach die Forschung korrigieren, etwa die fehlerhafte typographische Wiedergabe einzelner Passagen in der Frankfurter Ausgabe (S. 485, Anm. 101; S. 506, Anm. 186). Die spezifischen dramaturgischen Funktionen der musiktheatralischen Elemente in ihren jeweiligen Kontexten und die sich daraus ergebenden interpretatorischen Schlußfolgerungen können hier nicht im Einzelnen referiert werden, doch ist festzuhalten, daß künftige Faust-Deutungen an diesem von Hartmann erarbeiteten Forschungsstand nicht vorbeikommen werden.
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Resümee
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Ein Vorwurf betrifft Hartmanns in der Einleitung angekündigten »Einbezug des ›komparatistischen Grenzgebietes‹, zwischen Musik und Literatur« (S. 2). Es ist problematisch, daß die Autorin an der – was sehr zu bedauern ist – einzigen Stelle, an der Musik etwas ausführlicher in die Argumentation miteinbezogen wird (Bernhard Anselm Webers durch Goethe autorisierte Vertonung von Des Epimenides Erwachen), auf die musikalischen Sachverhalte nur oberflächlich eingeht und darüber hinaus auf Notenbeispiele verzichtet. Da die ungedruckte Partitur äußerst schwer zugänglich ist, hat der Leser so im Grunde keine Möglichkeit, Hartmanns Ergebnisse nachzuprüfen. Auch an anderen Punkten hätte man sich gewünscht, daß die Autorin etwas weiter in den Bereich der Musik vorgedrungen wäre; so wird der Bezug zu Steven Paul Scher und dem von ihm wesentlich geprägten internationalen Forschungsfeld der Word and Music Studies (S. 2, Anm. 6) im Grunde nicht eingelöst.
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Doch das ändert nur wenig an dem Gesamteindruck: Diese Dissertation, die erfreulicherweise auch in einer klaren und jargonfreien, stellenweise sogar elegant zu nennenden Wissenschafts-Prosa geschrieben ist, ist der gelungene erste Versuch einer umfassenden Darstellung des Musiktheaters Goethes und hat damit auf einem wichtigen Gebiet der Literatur-, der Musik- und der Theaterwissenschaft nicht nur Lücken geschlossen, sondern auch neue Maßstäbe gesetzt.
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