IASLonline

Des Königs Wink und Wille

Die Renaissance der griechischen Tragödie
und ihre Geburtshelfer

  • Susanne Boetius: Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie auf der Bühne des 19. Jahrhunderts. Bühnenfassungen mit Schauspielmusik. (Theatron 44) Tübingen: Max Niemeyer 2005. IX, 366 S. 11 Abb. Kartoniert. EUR (D) 88,00.
    ISBN: 3-484-66044-9.
[1] 

Mit seiner 1842 uraufgeführten Oper Der Wildschütz griff der Librettist und Komponist Albert Lortzing ironisch in die nicht nur in Theaterkreisen heftig geführte Diskussion um die Aufführung antiker Dramen ein. In dem Stück veranlasst die gräkomanisch veranlagte Gräfin eine Privataufführung der Sophokleischen Antigone und zitiert den antiken Autor an passender und unpassender Stelle. Die Begeisterung der Gräfin lässt sich auf ein reales theatergeschichtliches Ereignis zurückführen, das am 28. Oktober 1841 am Potsdamer Hof Friedrich Wilhelms IV. stattgefunden hatte. Dort wurde nämlich auf Vorschlag des Königs die Antigone »unter bestmöglicher Berücksichtigung der antiken Aufführungsbedingungen« (S. 53) von Ludwig Tieck inszeniert. Und da dieser auf gesungene Chöre nicht verzichten wollte, wurde Felix Mendelssohn Bartholdy mit deren Komposition beauftragt. Lortzing wiederum war bei den ersten öffentlichen Aufführungen am Leipziger Stadttheater im März 1842 als Chorist beteiligt. Die Begeisterung in Leipzig ging so weit, dass Sophokles-Devotionalien verkauft wurden und man sich in Gesellschaft und auf der Straße mit Zitaten aus der Antigone begrüßte. 1 Der Spleen der Gräfin aus dem Wildschütz hat also durchaus reale Vorbilder. 2 Neben der Antigone ließ der preußische König im Potsdamer Theater in den folgenden Jahren zwei weitere griechische Tragödien aufführen: 1843 die Medea des Euripides und 1845 Sophokles’ Ödipus in Kolonos. Das Besondere an diesen Aufführungen war, dass es sich »um die ersten Inszenierungen griechischer Tragödien in unbearbeiteter Form auf einem deutschsprachigen Theater« (S. 3) handelte. In allen drei Fällen entschied man sich für die Verwendung der Übersetzungen Johann Jacob Christian Donners, die Musik zur Medea komponierte der Königliche Kompositionsdirektor Wilhelm Taubert, diejenige zum Ödipus in Kolonos wieder Mendelssohn Bartholdy.

[2] 

Prolog

[3] 

Diese drei Inszenierungen, so Susanne Boetius in ihrer Studie Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie auf der Bühne des 19. Jahrhunderts, die 2003 als Dissertation in München eingereicht wurde, »markieren einen Neuanfang in der deutschen Theatergeschichte« (S. 3) deshalb, weil antike Dramen seither fest im Repertoire der Theater verankert seien. 3 Sie stünden für eine neue Phase der Antikenrezeption auf dem Theater und seien Beispiele für den Einsatz von Schauspielmusik in einer Zeit, als diese, eingesetzt als instrumentales Vorspiel und Zwischenaktmusik, an Bedeutung verliere. Hauptgegenstand der Untersuchung »sind die Potsdamer Bühnenfassungen von Antigone, Medea und Ödipus in Kolonos mit ihren Aspekten Textfassung, Schauspielmusik und Ausstattung« (S. 4). Eine rezeptionsgeschichtliche Klammer umfasst damit so unterschiedliche Bestandteile einer Aufführung wie Text, Musik, Inszenierung und Darstellung, die eben durch den Willen zur umfassenden Rekonstruktion der antiken Aufführungsbedingungen zusammengehalten werden.

[4] 

Dass Boetius allerdings den Begriff der »Wiedergeburt« aus dem Titel ihrer Abhandlung in einer Art Vorwort allein damit rechtfertigt, dass die Inszenierungen von den Zeitgenossen als außergewöhnlich wahrgenommen wurden, diskreditiert diesen. Denn erst die längerfristige Wirkung über einen gewissen Zeitraum hinaus lässt aus einem folgenlosen Reanimierungsversuch eine veritable Renaissance werden.

[5] 

Vorspiele auf
und neben dem Theater

[6] 

In ihrem einleitenden Großkapitel (S. 5–48) legt die Autorin die Grundlagen für die später herausgehobene Position der Potsdamer Aufführungen. Neben der Funktion und Verwendung der Schauspielmusik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (S. 5–10) – hier müsste zusätzlich zur genannten Sekundärliteratur noch auf Thomas Betzwiesers Habilitationsschrift verwiesen werden 4 – stellt die Autorin die Rezeption der griechischen Tragödie zu Beginn des 19. Jahrhunderts anhand verschiedener Interpretationsansätze chronologisch geordnet dar (S. 18–34).

[7] 

Die abschließend (S. 35–48) vorgestellte Weimarer Aufführung der Antigone unter Goethes Theaterleitung im Jahr 1809 steht stellvertretend für Versuche im frühen 19. Jahrhundert, griechische Dramen auf die Bühne zu bringen. Goethe wie sein Bearbeiter Friedrich Rochlitz glaubten, dass die antiken Tragödien nur in bearbeiteter Form erfolgreich aufgeführt werden könnten, und so änderte und kürzte Rochlitz die Übersetzung Karl Wilhelm Ferdinand Solgers und setzte die von ihm komponierte Musik so ein, »wie es den schauspielmusikalischen Konventionen der Goethezeit entsprach« (S. 45). Nur die Bühne und die Kostüme waren antikisierend gestaltet.

[8] 

Wort und Ton: Übersetzungen
und Bühnenmusiken

[9] 

Vor der Folie dieser ›konventionellen‹ Inszenierung analysiert die Verfasserin im folgenden Hauptkapitel (»Aufführungen griechischer Tragödien in Potsdam von 1841 bis 1845«, S. 51–234) die konstituierenden Teile der Potsdamer Inszenierungen: Text, Musik und Ausstattung. An den Beginn ihrer jeweiligen Ausführungen stellt Boetius eine Art Einführung, in der sie etwa Übersetzungsmethoden, die Rolle der Musik in antiken Dramen beziehungsweise theaterbauliche Fragen generell erläutert.

[10] 

Dass das musikwissenschaftliche Kapitel den größten Raum einnimmt, ist durchaus legitim, da der große Erfolg der Aufführungen schon von den Zeitgenossen auf die Kompositionen Mendelssohns und Tauberts zurückgeführt wurde, doch bleiben die Textfassungen (S. 69–97) ein wenig unterbelichtet. Allen drei Inszenierungen wurden zwar die Übersetzungen Donners zugrunde gelegt – deren metrische Korrektheit gelobt, deren sprachliche Gestaltung jedoch bemängelt wurde – und Mendelssohn hat sich für seine Antigone-Vertonung weitgehend an die Donnersche Übertragung gehalten, doch wurden diese von Anfang an umgearbeitet, gestrichen und ergänzt. Das ging beim Ödipus in Kolonos so weit, dass Tieck die gesprochenen Passagen in der metrisch veränderten Übersetzung eines Franz Fritze spielen ließ. War das noch vom König, der doch eigentlich auf sprachliche und historische Korrektheit bedacht war, legitimiert, stellte die Medea ein Konglomerat der Übersetzung Donners und derjenigen Friedrich Heinrich Bothes dar. Hier hätte man eine philologisch gründlichere Analyse der Fassungen erwartet.

[11] 

Umfangreicher fällt das der musikalischen Umsetzung vorbehaltene Kapitel aus (S. 98–201). Die Verfasserin beschreibt hier sehr präzise die Quellenlage und wertet die Materialien im Anschluss aus. Im Falle Mendelssohns helfen Schaubilder, die Genealogie der kompositorischen Zeugnisse zu verdeutlichen. Der Komponist hielt sich meist streng an die antike Aufführungspraxis, setzte also nur lyrische Textstellen musikalisch um und empfand »die Bindung an die antiken Metren durchaus nicht als Einschränkung seiner kompositorischen Möglichkeiten« (S. 155). Er vermied es allerdings, antike Klangvorstellungen zu adaptieren, verzichtete auf »archaisierende Melodie- und Harmoniebildungen« und auf eine »antikisierend-folkloristische Farbgebung« (S. 160) in der Instrumentation. Da für ihn die Textverständlichkeit der gesungenen Chöre im Vordergrund stand, »verzichtete er auf seine exzeptionellen kontrapunktischen Fähigkeiten, was die hörbare Oberfläche der Chöre scheinbar schlicht und einfach« (S. 163) wirken lässt. Mendelssohns philologische Bildung einerseits, insbesondere die Metrik betreffend, und seine kompositorische Emanzipiertheit andererseits, die ihn davon abhielt, die gängigen Vorstellungen von antiker Musik zu kopieren, zeichnen seine Schauspielmusiken aus. Die verständliche Begeisterung der Autorin für Mendelssohns Komposition verhindert aber dann, dass sie sich mit gleichem analytischem Eifer der Musik Tauberts annimmt, die im Vergleich mit Mendelssohn immer verlieren muss.

[12] 

Auf die Bühnenarchitektur, Kostüme und Masken geht Boetius im Unterkapitel »Ausstattung« (S. 202–234) ein und beschreibt hier auch die Schwierigkeiten, die dadurch entstanden, dass die Bühne eines griechischen Theaters (Orchestra, Skene, Parodos) – verkleinert natürlich – in das Potsdamer Theater eingepasst wurde, mit dem Resultat, dass das Orchester in zwei seitlichen Nischen Platz finden musste.

[13] 

Potsdam und die Folgen:
Aufführungen an deutschsprachigen
Theatern von 1841–1881

[14] 

Im dritten Teil der Studie (»Rezeption«, S. 237–302) werden zum einen die Berichte der Zeitgenossen über die Potsdamer Aufführungen in Bezug auf Musik, Darstellung und Inszenierung (S. 237–261) ausgewertet, zum anderen solche Aufführungen vorgestellt und bewertet, die in der Nachfolge der Potsdamer Bühnenfassungen entstanden (S. 262–302). Mendelssohns Skrupel im Umgang mit Texten, die ihn immer wieder hinderten, die Komposition einer vollwertigen Oper aufzunehmen, zeigen sich auch daran, dass er für die Aufführung am Leipziger Stadttheater 1842 eine überarbeitete Textfassung akzeptierte, diese dann für die Drucklegung des Klavierauszuges aber wieder verwarf. In der Nachfolge der Potsdamer Aufführungen gab es Inszenierungen im In- und Ausland mit der Musik Mendelssohns oder mit Kompositionen ortsansässiger Kapellmeister, keine allerdings erreichte den Erfolg der Antigone von 1841.

[15] 

Epilog

[16] 

Die Autorin hat neben den ausgedehnten Materialstudien zu den drei behandelten Stücken gerade für den letzten Teil ihrer Arbeit unzählige Quellen verschiedenster Art ausgewertet (Zeitungen, musikalische Fachzeitschriften, Briefwechsel, Tagebücher), fundierte musikwissenschaftliche Analysen erstellt und für die Ausführungen zur Bühnenarchitektur aufgrund widersprüchlicher Quellenangaben eigene Messungen im Potsdamer Theater vorgenommen. Die Autorin beweist eine beeindruckende Beweglichkeit beim Spagat zwischen den Disziplinen Theater-, Musik- und Literaturwissenschaft.

[17] 

Dass sie hierbei allerdings die für die Musikgeschichte vielleicht bedeutendsten und folgenreichsten Zeugnisse übersehen hat, ist verwunderlich: Ob Richard Wagner die Dresdner Aufführungen der Antigone mit der Musik Mendelssohns im Jahr 1844 gesehen hat – immerhin war er zu dieser Zeit am dortigen Hoftheater Kapellmeister –, ist nicht bekannt, doch hat er die Potsdamer Inszenierung als Musterbeispiel für die »Monumentalisierung eines ursprünglich nicht-monumentalen Kunstwerks« genommen. 5 Wagners Theorie der antiken Kunstform, die in seinen Überlegungen von der zentralen theoretischen Abhandlung Oper und Drama (1851) bis zum Aufsatz Über die Bestimmung der Oper (1871) weiterentwickelte wurde, war entscheidend vom Formmodell der griechischen Tragödie geprägt, aber gerade angeregt und bestimmt durch den Gegensatz zu Aufführungen in der Art der Potsdamer Inszenierungen. Diese haben so ungewollt zur Konzeption des musikalischen Dramas Wagnerscher Prägung beigetragen.

[18] 

Insgesamt konzentriert sich Boetius, das wird besonders im letzten Kapitel (»Ausblick«, S. 303–307) deutlich, ein wenig zu sehr auf die drei Potsdamer Aufführungen und deren Wirkung auf nachfolgende Inszenierungen griechischer Tragödien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Bedeutung dieser Aufführungen für den Umgang mit Dramentexten generell hätte zumindest angedeutet werden müssen, spielte man doch die meisten Werke im 19. Jahrhundert in stark veränderten Fassungen. Auch die Frage, ob die Inszenierungen in Anlehnung an antike Aufführungsbedingungen etwa den historischen Realismus der Meininger Bühne beeinflusst haben, hätte gestellt werden können. So fehlen der Studie weiterführende Perspektiven, die über die Aufführungspraxis antiker Dramen hinausgehen.

[19] 

Im Anhang hat die Verfasserin Materialien zum »Leipziger Libretto« sowie die Besetzungslisten der Erstaufführungen abgedruckt. Quellen- und Literaturverzeichnisse sind übersichtlich erstellt. Nur ein Personenregister, das die Arbeit mit der quellengesättigten, ergiebigen und interessanten Studie ungemein erleichtert hätte, sucht man vergebens.



Anmerkungen

Vgl. Ute Harbusch: Zu Albert Lortzing und seinem Wildschütz. In: Programmheft zur Neuinszenierung des Wildschütz an der Stuttgarter Staatsoper 2005. Stuttgart 2005, S. 18–42, hier S. 36. Harbusch verdeutlicht in ihrem Aufsatz überdies, dass die Bezüge zwischen Lortzings Oper und Sophokles’ Tragödie über das rezeptionsgeschichtliche Moment hinaus sowohl intertextueller als auch struktureller Art sind.   zurück
In der Textvorlage des Wildschütz, August von Kotzebues Rehbock, fehlt die Gräkophilie der Gräfin. Sie ist eine Hinzufügung des Librettisten Lortzing und stellt damit einen deutlichen Bezugspunkt zur Leipziger Aufführung dar. Boetius geht zwar auf Kotzebues Stück nicht ein, weist allerdings nach, dass die von der Gräfin zitierten Passagen der in Leipzig aufgeführten Textfassung der Antigone entnommen sind.   zurück
Zur Rezeption antiker Dramen auf dem Theater vgl. Hellmuth Flashar: Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit. München 1991.   zurück
Thomas Betzwieser: Sprechen und Singen. Ästhetik und Erscheinungsformen der Dialogoper. Stuttgart, Weimar 2002. Ein ausführliches Unterkapitel beschäftigt sich mit der Schauspielmusik im frühen 19. Jahrhundert.   zurück
Vgl. Dieter Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung. Stuttgart 1982, S. 84.   zurück