Erika Greber

Der Schleier im literarischen und im literaturwissenschaftlichen Text




  • Patricia Oster: Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären. München: Wilhelm Fink 2002. 362 S. 6 s/w Abb. Kartoniert. EUR 41,90.
    ISBN: 3-7705-3571-5.


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Wer sich in Zeiten kulturwissenschaftlicher Dispersion des Kanons mal wieder für die zentralen Autoren und zentralen Texte der westeuropäischen Literaturtradition begeistern möchte, findet hier das Richtige: ein gut geschriebenes, intelligentes Buch, dessen Lektüre einen spüren läßt, inwiefern diese Namen zu recht kanonisiert sind und was Kanon im glücklichsten Falle bedeuten kann: nämlich fortlaufende, auf dichter intertextueller Verbindung gründende Reflexion, die erhellende Denkmuster zeitigt – hier die literaturspezifischen Denkmuster metaphorischer Bildlichkeit. Am Bild des Schleiers läßt sich, wie Patricia Osters Studie zeigt, so etwas wie eine dichtgeknüpfte Geschichte des literarischen Fiktionsbewußtseins schreiben. Die komparatistische Habilitationsschrift (Tübingen 1999) der Saarbrückener Romanistin macht eine italienisch-französisch-deutsch-französische Entwicklungslinie auf, die von Dante, Petrarca und Tasso über Rousseau und Goethe zu Nerval, Proust und Simon führt. Mit der Materialauswahl ist ein klares methodisches Programm verbunden, das diese Studie von einer bloßen Motivgeschichte traditionellen Zuschnitts abhebt.

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Da methodologisch-systematische Fragen im Mittelpunkt dieser Besprechung stehen werden, sei für eine wesentlich inhaltsgesättigtere Rekapitulation der Arbeit auf eine schon vorliegende Rezension (deren Lektüre ebenso lohnt wie das besprochene Objekt) verwiesen: im Jahrbuch der deutschen Komparatistik hat Monika Schmitz-Emans das Buch auf eine Weise umfassend gewürdigt, die durch spätere Rezensenten kaum mehr einholbar ist. 1 Daß auch das Schreiben von Rezensionen in einer intertextuellen Kette steht, wird vielleicht gerade in einem Zusammenhang besonders bewußt, in dem es um intertextuelle Serien von Texten mit Textilmetaphern geht. Und so gesehen ist das zwischen Autoren und Rezensenten sich entspinnende literaturwissenschaftliche Gespräch auch eine Fortführung des vorausliegenden literarischen Dialogs.

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Semantisierungen
der Schleiermetaphorik

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Der Schleier ist keine beliebige und auch keine normale Textilmetapher, denn er zeichnet sich durch eine immer schon mitgeführte Semantik aus, die seine textile Materialität übersteigt. Beim Schleier interessieren weniger der Stoff und die Textur als vielmehr sein Bezug zum leichtverhüllten Objekt und die durch die Oszillation zwischen Verschleiern und Entschleiern in Gang gesetzten Sinnzuweisungsprozesse. Dementsprechend gilt die Grundbeobachtung dem imaginations-anregenden Blick auf den Schleier: Der Blick bricht sich am Widerstand der Textur und »erschafft ein Bild aus Wahrnehmung, Wahrnehmungsirritationen und imaginären Supplementen der entzogenen Wahrnehmung« (S. 9). Dies ist der Ansatzpunkt für Osters Leitgedanken, den Schleier als Metapher für das Imaginäre bzw. genauer die Imaginationstätigkeit zu fassen und in seiner poetologischen Funktion durch die Jahrhunderte hindurch zu verfolgen.

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Einen wichtigen Fluchtpunkt bilden die anthropologischen Wurzeln der Schleierfaszination, die uralte religiöse und erotische Aufladung des (zumeist an Weiblichkeit gebundenen) Schleiers: Inbild des Geheimnisses und sensueller Hinweis auf die verborgene Gottheit einerseits, Projektionsfeld sinnlicher Phantasien andererseits. Beide Vorstellungsbereiche gehen vielfältig in die literarische Imagination ein, die ihrerseits ein eigenes Spezifikum entwickelt in der ästhetischen Besetzung des Bilds als Metapher für den Text als textum / Gewobenes. Letztlich kann der Schleier »im Sinne einer Textallegorie auf die Strukturen des Textgewebes verweisen« (S. 10). Indem aber die Schleiermetapher von vornherein das Imaginäre mit ins Spiel bringt, so Oster, wird der literarische Textbegriff erweitert »um das Moment des Imaginären und dessen ästhetische Realisierung« durch den Leser (S. 9 f.). Anders gesagt, der Schleier als Medium des Imaginären wird zum Bild für den Prozeß der Lektüre, der Imaginationen durch den Leser. Im Grunde ist der so verstandene Schleier also nicht mehr Textmetapher und nicht Texturmetapher, sondern Lektüremetapher. Die hier angelegte gewisse Widersprüchlichkeit wird nicht ausdiskutiert, sie wird eher durch die funktionsgeschichtlichen Kernthesen und die Analysebefunde hervorgekehrt (s.u.).

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Mit der Fokussierung des Imaginationsaspekts schlägt Oster eine eigene Richtung ein gegenüber anderen literaturwissenschaftlichen Forschungen, die – soweit sie überhaupt theoretische Ansprüche verfolgten – an den ›Schleier-Texten‹ andere Aspekte herausstellen, etwa semiologische und texttheoretische. 2 Der wichtigste Vorläufer ist Jean Starobinski mit seiner Rousseau-Monographie Transparence et obstacle (1958), 3 in der die Vorstellung vom rein aufklärerischen Entschleiern ausdifferenziert wird zur dialektischen Doppelbewegung zwischen voile und dévoilement. An Starobinskis Theoretisierung der Schleiermetaphorik schließt Oster in ihrem Rousseau-Kapitel produktiv an; eine wesentliche Vertiefung ergibt sich durch die Einbettung in eine intertextuelle Linie (dazu unten). Zu den von Aleida und Jan Assmann veranstalteten Kolloquien über Schleier und Schwelle 4 hat Patricia Oster selbst beigetragen.

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Exkurse zur Medienästhetik –
literarischer vs. pikturaler Bildbegriff?

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Während die kultur- und religionswissenschaftliche Forschung zum Schleier im Einleitungskapitel lediglich gestreift wird, ist der Kunstwissenschaft immerhin eine ganze Seite gewidmet, zwecks Erörterung der medialen Unterschiede von Bild und Text bzw. Bildschleier und Textschleier, und zwar im Dialog mit einer neuen kunstwissenschaftlichen Studie zum Bild als Schleier des Unsichtbaren von Klaus Krüger. 5 Eine kleine Detaildiskussion ist methodologisch sehr aufschlußreich. Das gewählte Exempel weist schön auf die italianistischen Kapitel voraus; zugleich ist es wegen der Verschränkung von Literatur und Kunst ein sehr komplexes und gefährliches Beispiel, weil es in sich intermedial ist und dem Buch im Bild kein bloßer Textstatus zukommt.

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Es ist das bekannte Laura-Portrait von Bronzino, das die historische Laura Battiferri zeigt, in völlig transparentem Schleier, in der Hand ein aufgeschlagenes ›petrarchino‹ mit zweien von Petrarcas Laura-Sonetten, Canzoniere LXIV und CCXL. Krügers kunstwissenschaftliche Deutung, das Bild sei Schleier eines unsichtbaren Ethos, versucht Oster zufolge gegen die sichtbare Präsenz der Dame etwas zu imaginieren. Der Text mache hingegen in seiner Materialität die ›Durchsicht‹ auf die ideal imaginierte Laura möglich. Obwohl auf die »im Bild deutlich sichtbaren Schriftzeichen der Sonette« (S. 14) Bezug genommen ist (übrigens sind sie keineswegs deutlich, sondern: schleierhaft), kann eigentlich nicht der gemalte Text gemeint sein, der ja gerade mit der Dame real koexistiert, sondern nur der pure Urtext, der kein konkretes Bild mitliefert. 6 Es wird nicht hinreichend klar, von welchem Text hier die Rede ist, vom literarischen oder vom gemalten literarischen, von welcher imago und von welcher Imagination: der des Malers, des Bildbetrachters oder des Lesers. Oster weist zu recht auf die Crux hin, daß die Bildende Kunst sichtbare Figurationen des Unsichtbaren schaffen muß. Hier wäre der Ort gewesen für eine bildtheoretische Grundsatzerörterung, für eine medienkomparatistische Konfrontation der Bildkonzepte und eine Klärung des im Titel geführten metaphorologischen Bildbegriffs.

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Der Seitenblick auf die Kunst bleibt beim Schleierthema eine stetige Verlockung. Ein späterer Exkurs »Der Textschleier im Bild: Simone Martini und Petrarca« (Kap. II.2), der nicht mehr unter dem Vorzeichen der Mediendifferenz und disziplinären Abgrenzungen steht, ist wesentlich einläßlicher und kann im Kapitelkontext der Petrarca-Interpretationen den unterschiedlichen Umgang mit Allegorese verdeutlichen. Ganz in die Gegenwartskunst greift das nette kleine Schlußkapitel »Christos verhüllter Reichstag« aus und regt dazu an, die übliche Sicht als Verpackung und Verhüllung durch die Idee der Verschleierung zu pointieren, wodurch die mittlerweile erarbeiteten imaginativen Konnotationen ebenso wie das selbstreferentielle Moment der Textur zum Tragen kommen.

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Zum theoretischen
und methodischen Ansatz

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Literaturtheoretische Grundlegung sucht das Buch in einer Abstoßung von Roland Barthes’ Text(ur)konzeption, weil sie zugunsten der Materialität des Textes seine imaginäre Potenzierung negiere, und einer Anwendung von Paul de Mans Gedanken der »Allegorie des Lesens« auf den Schleier, vor allem aber in einem Weiterdenken von Wolfgang Isers Fiktionstheorie; man vermißt eigentlich nur eine explizitere Anbindung der hermeneutischen Implikationen der Schleiermetaphorik an die Theorie von Schleier-macher.

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Während Iser als Anschauungsbild die Maske (Maskierung und Verkleidung) heranzieht, bringt Oster mit dem Schleier zweifellos das konkreteste Bild für das Zusammenspiel von Verhüllen und Entschleiern. Zu Isers triadischer Ausdifferenzierung zwischen Fiktivem und Imaginärem hat Oster einen innovativen Ergänzungsvorschlag, gewonnen aus ihrer Pygmalion-Lektüre. Insofern Pygmalion seine Phantasien zur Statue gestaltet und nach der Schaffung der imaginierten Figur neue Projektionen hinter deren Schleier einsetzen, gibt es in diesen verschiedenen Akten des Fingierens ein »Imaginäres vor der Fiktion« und ein »Imaginäres nach der Fiktion«; der Schleier bildet eine Scharnierstelle, an der sich der Produktionsmythos in einen Rezeptionsmythos verwandelt und auch die Imagination des Zuschauers stimuliert (S. 203). An anderer Stelle unterscheidet Oster auch außerhalb der Künstlerthematik zwei Seiten, ein »produktiv Imaginäres« und ein »rezeptiv Imaginäres« (S. 268), nicht zu verwechseln mit autorseitiger und leserseitiger Imagination.

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Osters eigene methodische Herangehensweise läßt sich dreifach bestimmen und markiert in dieser Komplexität den Mehrwert gegenüber traditionellen motivgeschichtlichen Ansätzen. Erstens die klare Profilierung der Funktion des Schleiermotivs als erstrangige poetologische Metapher für Imagination. Zweitens die Herausarbeitung der fiktionstheoretischen Relevanz der Schleiermetapher. Drittens der Nachweis ihres zentralen Status in der Geschichte des Fiktionsbewußtseins. Die solchermaßen aufgewiesene fundamentale Funktionalisierung der Schleiermetaphorik darf man (auch wenn die Verfasserin nicht auf diese Kategorie rekurriert) im besten Sinne literaturanthropologisch nennen.

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Dichte Motivgeschichtsschreibung

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Die historischen Aspekte verdienen eine eigene, über das obige Klassikerlob hinausgehende Würdigung, und zwar wegen der damit verknüpften historiographischen Lineation. Die Textauswahl erfolgte unter mehreren Gesichtspunkten: es geht um Texte, in denen jeweils der Schleier eine zentrale Rolle spielt und die für die Geschichte des Fiktionsbewußtseins wesentlich sind – und das heißt: die dem Bild eine »qualitativ neue Dimension« verleihen (S. 21). Zusatzbedingung ist die Verbindung der Texte untereinander durch Rezeptionsbeziehungen: Filiationen mit hohem Maß an intertextueller Verknüpfung (ebd.). Diese rezeptionsgeschichtliche (genetische) Perspektive sorgt für die ungewöhnliche Dichte und Überzeugungskraft der Argumentationslinien, für eine aus sich heraus plausible Relationierung der behandelten Texte. Auch ist die internationale Zusammenstellung des Textensembles, die in komparatistischen Arbeiten typologischen Zuschnitts oft der Begründung entbehrt, dadurch gut abgesichert, gerade auch bei der Überschreitung der Sprachgrenzen (etwa wenn Goethe Rousseau liest oder Nerval Goethe übersetzt).

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Die Mehrfachbedingung führt zu einer Beschränkung des Korpus – z.B. fällt deshalb Flaubert heraus (der in einem separaten Artikel besprochen ist); oder: Foscolo paßt zwar intertextuell in die Reihe, bringt aber keine produktiven neuen Punkte; Sidney würde typologisch passen, aber nicht intertextuell. Alle diese Einschränkungen dienen letztlich positiv zur Profilierung des Ensembles. Daher ist für die Korpusbildung der apologetische Ton (ebd.) gar nicht angebracht. Wichtig erscheint just die Abwahl von Texten – ist doch das Schleiermotiv ubiquitär (vor allem, wenn es wie bei Oster auch Wörter wie ›verschleiern‹, ›verhüllen‹ miteinbegreift), und ein ausufernder Vollständigkeitswahn wäre der Thesenbildung nur abträglich. Gerade die Koppelung der Motivanalyse an eine intertextuell-rezeptionsgeschichtliche Sicht ist neuartig. Sie ergibt eine insgesamt schlüssige Linie mit zunehmender Ausdifferenzierung und spezifischen Filiationen.

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Der italianistische Einsatz und Schwerpunkt (die Hälfte des Buchs und wohl sein stärkster Part) ist stringent in der literarhistorischen Situation begründet; schließlich entfaltet sich als erstes in Italien in den dichten intertextuellen Verflechtungen der imitatio-Poetik ein Bewußtsein für Fiktion und ästhetische Selbstreflexion. Von Dante aus lassen sich zuverlässig Linien ziehen. Wenig überraschend (jedenfalls für Komparatisten) ist auch der zentrale Status von Goethe als europäische Umschlagstation und être collectif, aber überraschend (und dies wohl besonders für Romanisten) ist die genaue intertextuelle Beweisbarkeit, die hier geleistete Rekonstruktion anhand der Spuren der Goetheschen Rezeption von Dante, Petrarca, Tasso und Rousseau.

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Hervorzuheben ist die umfassende Kontextualisierung der Untersuchung, die nicht eng auf die Schleiermetaphorik konzentriert ist, sondern weite Problemhorizonte auffächert und stets in einem spannenden, nuancenreichen Dialog mit der (aktuellen und älteren) Fachforschung argumentiert.

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Die Tradierung der Schleiermetaphorik wird von Oster dezidiert als verändernde Tradierung verstanden, als »Arbeit am Bild des Schleiers« – unter Bezug auf Lévi-Strauss (nicht Blumenberg) postuliert sie eine in Anführungszeichen ›mythische‹ Struktur: das immer neue Herausbilden latenter Aktualisierungsmöglichkeiten. Im Sinne dieses dynamischen Mythosmodells geht es um die fortschreitende produktive Entfaltung des Schleierbildes in qualitativen Sprüngen. Demzufolge wird die geschichtliche Aufarbeitung stark an ein progressivistisches Entwicklungsverständnis gebunden. Entsprechend die Einschätzung des historischen Ansatzpunktes: bei Dante manifestiere sich in der Auffassung des Schleiers eine Dynamik, Grundlage für die neuzeitliche Ausdifferenzierung des Bildes, vor allem seine Ästhetisierung und seine Lösung aus dem mittelalterlichen Kontext der Bibelexegese. Dantes Verwendung des Schleierbilds in allegorischer sowie poetologischer Deutung erscheint als Vermittlung zweier künftig entkoppelter Positionen.

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Kernthesen und
Untersuchungsergebnisse

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Die Kernthesen zur Funktionsgeschichte der Schleiermetapher und die Untersuchungsergebnisse lassen sich nun folgendermaßen reformulieren. Basisvorstellung ist das überkommene (zunächst religiös verankerte) allegorische Modell von Schleier und Entschleierung; in dem transhistorischen und transnationalen Textkorpus wird die allmähliche Entfernung davon und die Überlagerung mit neuen Gesichtspunkten aufgewiesen: eine intertextuelle Anreicherung des Bildfelds Schleier, insbesondere seine poetologische Besetzung. Die Vorstellung konkreter Schleier macht allmählich abstrakteren, übertragenen Bedeutungen Platz; die Erfahrung des Imaginären ist abgebildet in Schleiern des Bewußtseins, der Wahrnehmung, der Erinnerung. Über seine Funktionalisierung als Anschauungsform für das Imaginäre hinaus wird der Schleier Anschauungsform von Textualität (im Sinne von Gewebe / textus). Anfangs ist diese Autoreferentialität noch implizit, sie kommt zunehmend (besonders ab Goethe) zum Vorschein. Für die Moderne wird postuliert, daß die autoreferentielle poetologische Funktion des Schleiers in den Vordergrund tritt, während der konkrete Schleier und das hinter ihm aufscheinende Imaginäre nurmehr den Bedeutungshorizont oder Hintergrund bildet.

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Für etliche Punkte in dieser Synopse gibt es sehr genaue Korrelate in der Metaphernsprache der Dichter. So rekurriert etwa die Formulierung »Schleier des Bewußtseins« auf »voile tissu dans le cerveau« bei Rousseau und ähnliche Wendungen bei Goethe (S. 251). Überhaupt kann zum Lob dieser Studie gesagt werden, daß sie textnah verfährt und enorm viele Primärzitate verarbeitet (allerdings leider ohne Übersetzung, wo doch Nichtromanisten sicher für die Verdeutschung wenigstens von Latein und Italienisch dankbar wären).

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Auch sei an dieser Stelle erwähnt, daß sämtliche Kapitel mit schön gewählten Zitatformeln überschrieben sind und schon das ansprechende Inhaltsverzeichnis die Neugier darauf weckt, wie alle diese Schleier literaturwissenschaftlich gelüftet werden.

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Der Schleier
als textus-Metapher?

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Die These, daß der Schleier in den frühen Werken immerhin implizit auf die ›textile‹ Materialität des Textes verweise, führt erfreulicherweise zu einer verstärkten Aufmerksamkeit für selbige. Auf diese Weise können die bekannten Namensanagramme und Paronomasien als ein Texturverfahren verstanden werden, das zum Schleierparadigma gehört: der Text läßt Personen durchscheinen, die Namen sind im Text verborgen, verschleiert. Somit wird ein Kunstgriff, den die Forschung gemeinhin als Wortspielerei oder Schmuckornament oder Manierismus verbucht, in seiner Bedeutung für das Imaginäre erschlossen. Das reicht von Dante (S. 43 / Anm.54, S. 77, S. 78 / Anm.117) über Petrarca (S. 98, S. 103, S. 123 / Anm.92) zu Tasso (S. 153) und zeigt sich noch bei Proust (S. 312). Führt man die verstreuten Anmerkungen zusammen, so erweist sich der systematische Status des Anagramms als eine Erscheinungsform ›textiler Texte‹. 7 Der ältere Terminus für anagrammatische Verfahren war nicht umsonst ein textiler: Logogriph / Wortnetz.

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Die diachrone Intensivierung der poetologischen Dimension der Schleiermetaphorik setzt Oster keineswegs gleich mit purer Selbstreferentialität, im Gegenteil unterstreicht sie immer wieder, daß auch bei den modernen Autoren nicht die Materialität des Textes als solche selbstgenügsam dastehe und daß auch hinter ihren Texturen Anderes lesbar sei. Das Charakteristikum des Schleiers, auch wo er zum Wortschleier tendiert, bleibt immer das imaginäre Potential.

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Umgekehrt ist dann die Frage, wie weit die Rede von der poetologischen Bedeutung des Schleiers trägt. »Der Schleier ist eine elementare Metapher dafür, wie der Text in seiner Durchsichtigkeit auf das, was er als Text gerade nicht ist, erfaßt werden kann.« (S. 20). Das Problem ist also, inwieweit die Lektüremetapher auch als Textmetapher und Texturmetapher fungiert.

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Wahrscheinlich ist es die relative Bedeutungslosigkeit des Texturaspekts beim als Imaginationsbild aufgefaßten Schleier, die es bedingt, daß in dieser Studie die Unterschiede zwischen verschiedenen Textilarten und Textilverfahren unberücksichtigt bleiben. So steht trame gleichrangig neben voile; so kommt es zu falschen Begriffskombinationen wie »textiles Geflecht aus Kette und Schuß« (S. 9 u.ö.) – wo doch Kette und Schuß nichts mit Flechten, sondern mit Weben zu tun haben und im Gegensatz zum regelmäßigen Gewebe das archaischere irreguläre Geflecht sogar aus nur einem Strang geflochten sein kann (ein kultursemantischer Unterschied großer Tragweite). 8 Wofern auch der Schleier Metapher für Text als Textur (also Struktur) wird, würde es sich lohnen, stärker auf den Strukturaspekt und damit auch auf Stilpoetik zu achten, was natürlich über das Untersuchungsinteresse des Imaginären hinausführen würde.

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Weiter ist es die Frage, ob das diagnostizierte Fehlen konkreter Schleier nicht ein grundlegendes Problem für das »Bild des Schleiers« aufwirft. Ab Goethe ist einfach der Objektbereich ausgeweitet auf Motive, die irgendetwas mit durchsichtigem respektive opakem Stoff zu tun haben, und auf Begriffe, die mit Ver- oder Entschleiern zu tun haben.

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Spätestens hier zeigt sich, daß es an einer begrifflichen und begriffsgeschichtlichen Sichtung des Wortfelds fehlt: ›verschleiert‹, ›verhüllt‹, ›entschleiern‹, ›schleierhaft‹ etc. (für die untersuchten drei Sprachen). Denn in der Normalsprache haben sich solche abgeleiteten abstrakteren Bezeichnungen entwickelt, deren begriffsmetaphorischer Status überprüft werden müßte. Nicht immer kann die vorgeführte Interpretation darin überzeugen, daß diese Wörter in den behandelten Texten aktiv metaphorisiert sind. Des öfteren scheint es vielmehr, daß sie erst durch die am Schleier interessierte literaturwissenschaftliche Lektüre re-etymologisiert werden. Seit die Lesbarkeit des Schleiers als textus-Metapher durch die neueren Texttheorien fundiert ist, kann sie zurückprojiziert werden, selbst wenn sich keine konkreten Schleier mehr finden. Der heutige metareflexiv geschulte Blick (er)findet leicht die poetologische Dimension der Bildlichkeit.

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Grundsätzlich könnte also ein gewisser methodischer Zirkelschluß vorliegen. Denn die poetologische Bedeutung läßt sich natürlich immer postulieren, egal wie unmarkiert sie im Werk sein mag – eine reine Interpretationsfrage. Die Schleiermetaphorik »kann« im Sinn einer Textallegorie auf die Strukturen des Textgewebes verweisen, wie Oster sich vorsichtig ausdrückt (S. 10) – ja, sie kann. Ob sie es auch tut, ist im Schleierparadigma fast eo ipso unentscheidbar. Sind es doch die Projektionen des Betrachters, für die der Schleier gemacht ist. So zeigt sich, wie Methode und Untersuchungsgegenstand miteinander verflochten bzw. gar ineinander gespiegelt sind. Vielleicht brauchen wir nun eine Theorie literaturwissenschaftlichen Lesens mit der Kategorie einer schleier-erprobten Imagination.


Prof. Dr. Erika Greber
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Schellingstr. 7, Raum 002
DE - 80799 München

Ins Netz gestellt am 28.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Erika Greber: Der Schleier im literarischen und im literaturwissenschaftlichen Text. (Rezension über: Patricia Oster: Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären. München: Wilhelm Fink 2002.)
In: IASLonline [28.12.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1157>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

In: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2003 / 2004, 229–235.   zurück
Vgl. Erika Greber: Verschleiernde Textur – sensus absconditus. In: E.G.: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie: Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik (Pictura et Poesis 9) Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, Kap. IV-3.   zurück
Wiederauflage: Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau, la transparence et l'obstacle. Suivi de sept essais sur Rousseau. Paris: Gallimard 1994.   zurück
Bd.I: Geheimnis und Öffentlichkeit (1997), Bd.II: Geheimnis und Offenbarung (1998), Bd.III: Geheimnis und Neugierde (2000).   zurück
Klaus Krüger: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. München: Fink 2001.   zurück
In der Fachterminologie: »semiotic text« und gerade nicht »material text« (vgl. Peter L. Shillingsburg: Text as Matter, Concept, and Action. In: P.L.Sh.: Resisting Texts. Authority and Submission in Constructions of Meaning. Ann Arbor: Univ. of Michigan Press 1997, Kap.3, bes. Abschnitt B: Texts: Conceptual, Semiotic, and Physical, S. 70–75).   zurück
Vgl. die Anagramm-Kapitel in Greber (Anm. 2), Kap. III sowie IV-2.4.7 und V-2.1.4.   zurück
Vgl. Greber (Anm. 2), bes. Kap. I-1.6 sowie VI-2.6.4 (S. 462 ff.) und VII-1 (S. 554).   zurück