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Gute Stücke - schlechte Regie

  • Heinz Ludwig Arnold / Christian Dawidowski (Hg.): Theater fürs 21. Jahrhundert. (text + kritik Sonderband) München: edition text + kritik 2004. 250 S. EUR 24,50.
    ISBN: 3-88377-769-2.
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Der Anspruch

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Ein gewagter Auftritt! Das Spektrum der Themen, das der Leser zu erwarten hat, ist imposant:

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Neue Regisseure drängen in die Theater, neue Texte von oftmals unbekannten, noch jungen Autoren provozieren mit scheinbar randständigen Themen und auf Schockeffekte getrimmten Inhalten, neue Inszenierungsformen machen aus dem Theater entweder dadaistische Soiréen, Popkonzerte, literaturwissenschaftliche Hauptseminare oder schlicht Comedy-Acts. So jedenfalls schallt es aus den Feuilletons, und man gewinnt den Eindruck, das eben doch noch ein wenig bürgerliche Theater verfalle nun endgültig. (S. 5)
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Heinz Ludwig Arnold und Christian Dawidowski, die Herausgeber des text + kritik-Sonderbandes Theater fürs 21. Jahrhundert, nennen eingangs ihres Buches aber nicht nur ein beeindruckendes Themenfeld. Zudem, der Titel kündigt es bereits an, reklamieren sie Aktualität:

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Die Aktualität der in diesem Band vorliegenden Analysen und Betrachtungen liegt gerade auch darin, dass dieses tastende Erschließen in seinem Werden vor allem auch von theaterpraktischer Position her beobachtet und kommentiert wird. So gehört es zu unserem Konzept, literatur- und theaterwissenschaftliche Analysen mit Beiträgen von Regisseuren, Schauspielern und Dramatikern zu verbinden, um dem Leser das Panorama eines Theaters im Wandel vor Augen zu führen: eines Theaters fürs 21. Jahrhundert. (S. 7)
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Ein großer Anspruch also, den Arnold und Dawidowski formulieren. Ihn zu erfüllen, ist angesichts der Pluralität theatraler Ausdrucksformen und -mittel kein leichtes Unterfangen.

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Die Form

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Der Aufbau des Buches lässt vermuten, dass die Vielfalt des zeitgenössischen Theaters vergleichsweise systematisch eingezäunt werden soll. Der Band wird eröffnet durch die Aufsätze der Theaterwissenschaftler Patrick Primavesi und Hans-Thies Lehmann. Beide liefern eine Übersicht über unterschiedliche Theaterformen der Gegenwart – Primavesi im Hinblick auf die Orte des Theaters, Lehmann äußert sich zum Verhältnis von Inszenierung und Text. Ergänzt werden ihre Aufsätze durch Jens Roselts Beitrag zum Umgang mit akustischen und visuellen Medien und ein Gespräch von John von Düffel und Franziska Schössler zum Theater der neunziger Jahre.

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Die folgenden vier Aufsätze gehen auf die Dramatik von Sibylle Berg (von Christian Dawidowski), Moritz Rinke (Reinhard Wilczek), Albert Ostermaier (Franziska Schössler) und Patrick Roth (im Gespräch mit Johanna Brechtken) ein. Gewissermaßen die beiden dramenästhetischen Grundpositionen zu Beginn der neunziger Jahre weisen sodann die Aufsätze von Thomas Roberg (über Botho Strauß) und Markus Steinmayr (über Heiner Müller) aus. Diese Studien zu einzelnen Dramatikern bilden den ersten Hauptteil des Buches.

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Der zweite könnte mit ›mediale Dimensionen des Theaters‹ betitelt werden: Birgit Lengers geht auf Medialität bei Pollesch ein. Doris Kolesch widmet sich der Stimme, Jens Roselt dem Schauspieler. Gisela von Wysocki und Gerald Siegmunds Aufsätze gelten dem Tanz, was vor dem Hintergrund seiner großen Bedeutung im zeitgenössischen Theater begrüßt werden muss. Auch wenn der Theaterbau angesichts der postdramatischen Vielfalt seinen Anspruch als ausschließlicher Ort des Theaters eingebüßt hat – immer noch wird Theater auch im Theater gespielt. Es ist deswegen konsequent, dass zwei Ausblicke auf zwei deutschsprachige Theater den zweiten Teil abrunden: Ralph Köhnen schildert die jüngere Geschichte des Bochumer Schauspielhauses. Judith Gerstenberg und Matthias Günther, Dramaturgen am Theater Basel, schreiben über ihren Arbeitgeber.

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Den Epilog spricht Albert Ostermaier: »Theater braucht klare Gegensätze, einen Wettstreit der Ästhetiken und Dogmen, einen bereichernden Konflikt um Inhalte und Stoßrichtungen.« (S. 224) Ergänzt wird das Buch durch eine Übersicht über »Jüngere deutschsprachige Dramatikerinnen und Dramatiker und ihre Werke« von Špela Virant.

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Das ist die Form.

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Der Inhalt

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Doch was ist der Inhalt?

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Primavesi stellt überzeugendend dar, dass der Ort des Theaters der Gegenwart nicht mehr die Guckkastenbühne ist. Der »Auszug aus dem Theater« (Meyerhold) ist freilich keine Idee der 1990er Jahre, sondern eine aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts, so dass es nur konsequent ist, wenn Primavesi zunächst zurück zu den Ursprüngen dieser Entwicklung blickt und dadurch indirekt signalisiert, dass viele Phänomene des Gegenwartstheaters nicht derart neuartig sind, wie das etwa im Vorwort postuliert wird. Gleichzeitig gelingt es Primavesi durch die Überlegungen zu den Orten des Theaters und den damit einhergehenden Wirkungsabsichten, sowohl die weiterhin eminent politischen Dimensionen des Theaters wie auch die Theatralisierungen der Politik darzustellen.

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Hans-Thies Lehmanns Beitrag, der auch als Weiterführung des Kapitels »Theater und Text« in seinem inzwischen kanonischen Postdramatischen Theater gelesen werden kann, 1 liefert eine hervorragende Akzentuierung zum Verhältnis von ›Text‹ und ›Inszenierung‹. Er verdeutlicht diese Beziehung durch eine Analyse von Inszenierungen von Sarah Kanes 4. 48 Psychosis und zeigt eben dadurch die weiterhin enge, aber eben kaum mehr zwingend erfolgende »An- und Zu-Sprache« (S. 33) zwischen Aufführung und Drama auf.

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Lehmanns Aufsatz verdeutlicht gleichzeitig ein strukturelles Problem, das der Gesamtpublikation, nicht den Einzelstudien anzulasten ist. Für eine generelle Fragestellung wählt er ein einschlägiges Beispiel und erläutert daran seine Ausführungen. Die meisten Aufsätze in diesem Buch aber sind im Gegensatz zu seinem nicht derartig generalisierend angelegt. Sie scheinen erbeten und ausgewählt zu sein, ohne dass den Herausgebern eine Vorstellung vom Gesamten zugrunde gelegen hat. So überzeugend Reinhard Wilczeks Aufsatz über den »utopischen Grundzug« in Moritz Rinkes Dramatik auch ist, es wäre Aufgabe der Herausgeber gewesen, zu fragen, inwieweit das Utopische in der gegenwärtigen Dramatik insgesamt von Belang ist. Ein Beispiel dafür ist Rinke gewiss. Doch wie sieht es mit weiteren Dramatikern aus? Hat vielleicht ein dramatisierender Träumer wie Roland Schimmelpfennig Utopien? Ist andererseits nicht gerade Utopieverlust wesentliches Merkmal der meisten neueren Dramen?

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Insgesamt scheint die Auswahl der vier Gegenwartsautoren (Berg, Rinke, Ostermaier und Roth) willkürlich, weil Versuche der Generalisierung oder Systematisierung weitgehend fehlen. Wie Fremdkörper wirken daneben die beiden Arbeiten zu Strauß und Müller. Ist es in einem Buch, das um Aktualität bemüht ist, sinnvoll, die beiden als »Antipoden« (S. 6) einander gegenüber zu stellen und dadurch zurückzublicken? Muss angesichts dessen, dass Müllers Tod nun beinahe zehn Jahre her ist, nicht vielmehr nach der Wirkung seiner Ästhetik gefragt werden?

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Im Hinblick auf Strauß kann dagegen nur eine Zwischenbilanz geliefert werden – das liegt auf der Hand. Wäre es bei einem Buch, das sich schon im Titel der Zukunft verpflichtet, deswegen nicht sinnvoller gewesen, die alten Ost-West-Grabenkämpfe hinter sich zu lassen und stattdessen Strauß’ Position im Verhältnis zu den Jüngeren darzustellen? Wo steht Strauß in der Vielfalt des gegenwärtigen Dramas tatsächlich? Ist er wirklich der letzte Dramen-Ritter, der dem postdramatischen Theaterästhetik-Imperium entgegen tritt? Oder ist nicht vielmehr das Spielerische, das Roberg überzeugend gerade in den letzten Dramen von Strauß nachweist, Indiz dafür, dass Strauß dem einen oder anderen jüngeren Dramatiker gar nicht so fern steht?

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Aus dieser enttäuschenden Gesamtkonzeption spricht ein unsicherer Umgang der Herausgeber mit der Gegenwartsdramatik insgesamt. Diesen Eindruck verstärkt die Bibliographie von Špela Virant. Hier fehlen offensichtlich zuverlässige Kategorien, wann jemand als ›jüngere Dramatikerin‹ oder ›jüngerer Dramatiker‹ gilt. So jugendlich Rainald Goetz auch gerne sein möchte: Jemanden in einer solchen Liste zu verzeichnen, der im vergangenen Jahr seinen 50. Geburtstag gefeiert hat, gibt selbst dann wenig Sinn, wenn man anerkennt, dass sich Deutschland in eine Greisenrepublik verwandelt – die älteste Dramatikerin in dieser Liste ist Marlene Streeruwitz, die 1950 geboren wurde! 2

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Auch der zweite Hauptteil des Buches zur theatralen Praxis wirft mehr Fragen auf, als dass er Antworten liefert. Der Vergleich der unterschiedlichen Intendanzen in Bochum von Ralph Köhnen ist sehr informativ und zeugt von Kenntnis des Hauses. Nur ist das Schauspielhaus vielleicht bekannt für prominente Besetzungslisten, nicht aber ist es einschlägiger für neue Dramatik und Theaterästhetik als andere große Häuser in der deutschsprachigen Theaterlandschaft. Warum also hat man sich nicht entschieden, etwa einen Artikel über die Schaubühne am Lehniner Platz schreiben zu lassen, wo einerseits die Förderung neuer Dramatik seit Beginn der Intendanz von Thomas Ostermeier zum Programm erklärt wurde und wo mit Sasha Waltz eine Choreographin in ein Haus geholt wurde, das zuvor wie vielleicht kein anderes dem Sprechtheater verpflichtet war.

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Angesichts der prominenten Nennung der Regisseure im Editorial ist es erstaunlich, dass kein einziger wichtiger Regisseur der letzten Jahre ausführlich vorgestellt wird. Wichtige Regie-Tendenzen – zu denken ist etwa an die zahlreichen Romane, die zurzeit auf die Bühne gebracht werden – bleiben ebenfalls unberücksichtigt oder werden in den einleitenden Aufsätzen lediglich angerissen, aber im Folgenden nicht vertieft.

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Vergegenwärtigt man sich außerdem die vielfältigen Orte des Theaters, die Primavesi so schillernd darstellt und überzeugend deutet, fragt man sich, wo diese Orte denn im Weiteren bleiben. Kein Bericht über die inzwischen in beinahe jedem Provinztheater etablierte kleine Bühne für Experimentelles oder neue Dramatik, kein Artikel über die Off-Szene oder wichtige Festivals wie die Theaterformen in Hannover und Braunschweig, den Heidelberger Stückemarkt oder das Festival Internationale Neue Dramatik. Hätten die Herausgeber auch nur Ausgewähltes davon in den Blick genommen, wäre ihnen ferner die Internationalität der Theaterlandschaft in Deutschland aufgefallen.

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Fazit

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Die postmoderne Vielfalt des Gegenwartstheaters darzustellen, ist kein leichtes Unterfangen. Dass es daher beim tastenden Versuch bleiben darf, Tendenzen aufzuzeigen und exemplarisch vorzugehen, versteht sich. Die meisten Aufsätze dieses Buches liefern vor diesem Hintergrund sehr gute, mal anregende, mal informative Beiträge. Das Problem des Buches ist zum einen die Auswahl der Beiträge, die wiederholt recht willkürlich wirkt. Zum anderen ist dem Buch vorzuwerfen, dass im knappen Editorial und durch den Titel Erwartungen geweckt werden, die im Folgenden nicht eingelöst werden. Das zeigt schon das Zitat von Gerhard Schulze, das die Rückseite des Buches schmückt und das im Editorial erneut zitiert wird:

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Das provokative, kritische, tabuverletzende Theater der Gegenwart bezieht sein oppositionelles Stigma aus der bloßen Einbildung, dass die gesellschaftliche Majorität etwas dagegen haben könnte. Richtig ist aber, dass dieses Theater vielen gleichgültig ist, während sich die daran Interessierten durch gegenseitige Versicherung ihrer ästhetischen Radikalität das Gefühl der Freiheit erst durch eine Vorspiegelung verschaffen. 3
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Schulzes Fundamentalkritik am Theater der Gegenwart wird im weiteren Verlauf des Buches nicht wieder aufgenommen oder gar diskutiert. Sie verkommt so zum Bonmot. Dabei ist Schulzes Kritik durchaus bedenkenswert – nur muss man sie auch denken und nicht nur als Werbespot für die eigene Publikation ausschlachten.



Anmerkungen

Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt / Main 1999, S. 73–76.   zurück
Es sind auch nicht alle Angaben zuverlässig: Marius von Mayenburg wird als Dramatiker eines Stückes mit dem Titel »Gesäubert« ausgewiesen. Damit aber dürfte von Mayenburgs Übersetzung von Kanes Crave gemeint sein – mit dem deutschen Titel Gier! Gesäubert dagegen, Kanes Cleansed also, wurde von Elisabeth Plessen, Nils Tabert und Peter Zadek übersetzt. Marius von Mayenburg war lediglich Dramaturg der Inszenierung an der Schaubühne.   zurück
Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt / Main, New York 2000, S. 346 (zitiert nach dem vorliegenden Buch, S. 6).   zurück