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Ein constructive turn?

  • Teresa Pinheiro: Aneignung und Erstarrung. Die Konstruktion Brasiliens und seiner Bewohner in portugiesischen Augenzeugenberichten 1500-1595. (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 89) Stuttgart: Franz Steiner 2004. 355 S. 13 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 40,00.
    ISBN: 3-515-08326-X.
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Die kulturanthropologische Studie Teresa Pinheiros macht es sich zur Aufgabe, die »Konstruktion Brasiliens und seiner Bewohner« durch die Portugiesen im 16. Jahrhundert nachzuweisen. Dabei verbindet das Projekt kulturanthropologische Fragestellungen mit einem semiotischen und diskursanalytischen Instrumentarium. Brasilien und seine Bewohner, so die Ausgangsthese, werden in diesem Jahrhundert als ausgewähltem Untersuchungszeitraum durch die portugiesischen Kolonialisten als »diskursives Objekt« (S. 11) konstituiert.

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Pinheiro geht im Anschluss an Geertz’ semiotischen Kulturbegriff (vgl. S. 15) von der Idee der diskursiven oder semiotischen Konstruktion der Realität durch den jeweils Beschreibenden aus, der zufolge solche Beschreibungen stets eher den Beschreibenden als das Beschriebene darstellen. Diese Idee soll in ihrer Arbeit auf die »Konstruktion Brasiliens« durch die portugiesischen Kolonialisten übertragen werden. Die Idee leuchtet im Fall der Kolonialisierung Brasiliens deshalb ein, weil Brasilien – anders als die Länder, mit denen Portugal Handel trieb, wie insbesondere Indien und Ostafrika – zur Zeit des Beginns der Kolonialisierung um 1500 ein gewissermaßen unbeschriebenes Blatt war. Seine Einwohner waren fremd, wild, friedlich, unverständlich und hatten keinen ersichtlichen Gott, waren also nicht fehlgläubig und erschienen daher in jeder Hinsicht formbar und somit, Pinheiro zufolge, auch semiotisch konstruierbar.

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Kulturanthropologie

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Damit ist ein spannendes Thema gewählt, und insbesondere die semiotische Konstruktion Brasiliens, die mehr über die portugiesischen Kolonialisten aussagt als über Brasilien und seine Einwohner, klingt als interdisziplinäres Projekt der Kulturanthropologie und Literaturwissenschaft beziehungsweise Diskursanalyse (vgl. S. 27) sehr reizvoll. Tatsächlich ist die Darstellung der verschiedenen Phasen, Ziele und Strategien der Kolonialisierung Brasiliens während des 16. Jahrhunderts äußerst interessant. Pinheiro konzentriert sich bei ihrer Rekonstruktion auf die Textdokumente einzelner Kolonialisten, Missionare oder aber solcher Beobachter dieser wirtschaftlichen, politischen, religiösen und kulturellen »Aneignung«, die unmittelbar die Interessen der portugiesischen Krone auch gegenüber anderen europäischen Kolonialmächten vertraten.

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Der erste große Teil der Arbeit beschäftigt sich mit dieser »Aneignung«, also der kolonialen Unterwerfung Brasiliens und seiner Einwohner, im zweiten großen Teil wird danach gefragt, ob es jenseits der Berichte über diese »Aneignung« und der hierfür jeweils empfohlenen Strategien noch eigenständige, systematisierende, ethnologische Darstellungen »des Fremden« gebe, die eher wissenschaftlich als politisch, wirtschaftlich oder religiös motiviert seien. Pinheiro zeigt solche Darstellungen auf und zugleich, inwiefern diese durch den Versuch der Verallgemeinerung des akkumulierten Wissens zur »Erstarrung« des beschriebenen Konstrukts führen. Pinheiros Analyse der als Textkorpus ausgewählten Dokumente portugiesischer Kolonialisten und Missionare entfaltet eine penible und ausführliche Darstellung der sich auch im Laufe der Zeit verschiebenden Interessen an Brasilien und seinen Einwohnen und – damit verbunden – ihrer Beschreibung, die teilweise sogar widersprüchlich verlaufen kann, wenn etwa mit ein und demselben Text verschiedene politische, wirtschaftliche, religiöse oder wissenschaftliche Anliegen bedient werden sollen.

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Pinheiro zeichnet hierbei akribisch die Geschichte Brasiliens nach, sowie den Wandel der Beurteilungen der Indianer durch die Siedler auf der einen Seite und die jesuitischen Missionare auf der anderen Seite. Während die Siedler mit vornehmlich wirtschaftlichen Interessen Argumente dafür suchten, die Indianer versklaven und ihre Arbeitskraft vor allem auf Plantagen und in Zuckermühlen ausbeuten zu können, waren die Jesuiten daran interessiert, die Indianer als missionierbar darzustellen. War es einerseits aus politischen und wirtschaftlichen Gründen sinnvoll, die »neue Welt« als Paradies darzustellen, um Siedler zu werben, so war es machtpolitisch von Bedeutung, das durch die Siedler und Missionare »angeeignete« Brasilien als eine Art perfekteres Portugal darzustellen. Wissenschaftliche, enzyklopädisch orientierte Studien schließlich, die sich um ein Bild Brasiliens bemühten, wie es vor seiner Kolonialisierung »ursprünglich« ausgesehen haben mochte, stehen quer zu diesen Darstellungen, denn sie bemühen sich weder um ein idealisierendes Bild der Indianer als mögliche Christen mit europäischer Kultur noch um ein dämonisierendes Bild der Indianer als gefährliche Wilde, die durch Sklaverei bezwungen werden müssten. 1

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Semiotisierung

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Als kulturanthropologische Studie und aufgrund der vielfältigen Detailbeobachtungen ist diese Darstellung der »Konstruktion« Brasiliens sehr lesenswert. Ob und inwiefern eine semiotische »Konstruktion« Brasiliens erfolgte, muss hingegen kritisch betrachtet werden. Die Ausgangsidee, die Indianer gewissermaßen als »unbeschriebene Blätter« aufzufassen, die je nach Interessenlage interpretiert beziehungsweise »beschrieben« werden können, scheint hierbei die Motivation für Pinheiros Vorgehensweise gewesen zu sein. Phänomene, die an sich nichts zu bedeuten haben, wie beispielsweise die Nacktheit der Indianer, werden semiotisiert und als Unschuld und somit als Potential zur Christianisierung gedeutet. Diese Deutung durch die Missionare kann dann gelingen, wenn Nacktheit als Indiz für Unschuld mit der Vorstellung von Brasilien als »Paradies« verknüpft wird. Semiotisierung kann also dort stattfinden, wo keine Bedeutungsvorgaben bereits festgelegt sind, wo also Bedeutungsneutrales zum Zeichen gemacht wird.

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Hinweise auf weitere semiotisierbare Phänomene finden sich in den konsultierten Dokumenten dann allerdings offenbar nur mehr sehr vereinzelt. Ein Beispiel etwa ist die Umdeutung des Wortes »Sumé«, das eine indianische Gottheit bezeichnet, in das Wort »Tomé«, das für den Apostel Thomas stehen soll: Diese Umdeutung wird von den Missionaren dann als Beweis dafür angesehen, dass der Apostel den Indianern die Botschaft des Christentums gebracht habe. Eine solche Interpretation wird jedoch im Laufe des 16. Jahrhunderts von den Missionaren aufgegeben. Die plausible Ausgangsidee Brasiliens als »unbeschriebenes Blatt«, das durch Beschreibung semiotisiert wird, fungiert als Motivation für die gesamte Studie; vor diesem Hintergrund wird dann der Konstruktcharakter Brasiliens behauptet, der sich aus den Diskursen über Brasilien ergibt. Der recht präzise Begriff der Semiotisierung wird in der Folge zugunsten des wesentlich allgemeineren Begriffs der Konstruktion fallengelassen.

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Konstruktion

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Auch hier muss jedoch gefragt werden, in welchem Sinne »Konstruktion« eigentlich verwendet wird. Denn dass die diskursiven Darstellungen Brasiliens je nach politischer und wirtschaftlicher Lage in Portugal und in Brasilien jeweils unterschiedlich ausfallen und verschiedene Problemkreise verschieden akzentuiert werden, kann meines Erachtens einfach als Strategie betrachtet werden, die darauf angelegt ist, die jeweils angestrebten Ziele zu verwirklichen – sei es die bessere Versorgung der brasilianischen Kolonie durch Portugal oder umgekehrt, die möglichst vorteilhafte Darstellung Brasiliens als portugiesische Kolonie insbesondere gegenüber Spanien. Nicht die allmähliche »Aneignung« Brasiliens durch die portugiesischen Kolonialisten wird hieraus als diskursives Konstrukt erkennbar, sondern die zutreffende, wenn auch selektive Beschreibung einer realen Aneignung. Denn auch wenn, etwa um für die neue Kolonie zu werben, nur die positiven Seiten des kolonialisierten Landes hervorgehoben werden, bedeutet eine solche Selektion noch nicht die postulierte diskursive »Erfindung« Brasiliens.

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Wenn Pinheiro beispielsweise bei Darstellungen der ersten Begegnungen zwischen Portugiesen und Indianern rekonstruiert, dass dort dokumentiert wurde, wie die Indianer relativ schnell ihre Abwehrhaltung aufgaben und in friedlichen Kontakt zu den Portugiesen traten, so muss allerdings erklärt werden, inwiefern diese Dokumentation diese Entwicklung »konstruiert« (vgl. S. 58). Das im methodischen Teil ihrer Arbeit vorgeschlagene Modell der Ethnographie als Konstruktion von Wirklichkeit scheint in diesem Zusammenhang etwas überstrapaziert. Denn es ist offensichtlich, dass Beschreibungen stets selektiv, dass zweckorientierte Darstellungen beinahe zwangsläufig suggestiv sind, und schließlich, dass Darstellungen stets bis zu einem gewissen Grad subjektiv sind. Pinheiro versucht daher meines Erachtens, die eingangs durch die These der Semiotisierung hervorgerufene Vorstellung der Konstruktion in den Dokumenten um jeden Preis aufrechtzuerhalten und nachzuweisen. Hierdurch entsteht der Eindruck, Pinheiro wolle die Darstellung Brasiliens durch die Kolonialisten unter dem Vorzeichen eines constructive turn beschreiben, demzufolge dann alles immer schon konstruiert sei.

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Auch die »Konstruktion einer Sprache« (S. 140) durch jesuitische Grammatiken zur Vermittlung zwischen Portugiesisch und den indianischen Sprachen, wie etwa der von José de Anchieta seit Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelten, folgt gut nachvollziehbaren Strategien und Gründen der Vereinheitlichung einer Sprache in Brasilien. Vergleichbares leisteten beispielsweise die Gebrüder Grimm in Deutschland. Hieraus die »Konstruktion Brasiliens« herzuleiten, erscheint als ein wenig trivial. Ebenso wie im ersten Teil ihrer Studie die »Aneignung« Brasiliens als Konstruktion beschrieben wird, seien dann eher wissenschaftliche Untersuchungen der Sprache ebenfalls solche, die diese Konstruktion noch »erstarren« lassen.

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Noch die Methode der portugiesischen Berichterstatter beispielsweise Fremdes, also etwa fremde Tiere, durch den Vergleich mit bekannten Tieren dem portugiesischen Lesepublikum zu verdeutlichen, wird als Konstrukt dargestellt, wobei nicht plausibel wird, auf welche andere Darstellungsform hierbei zurückgegriffen werden könnte. So hilft auch Pinheiros Vergleich mit der modernen Ethnologie nicht weiter, die sich für die Bezeichnung eines bestimmten Körperschmucks auf den Begriff »metara« (S. 186) geeinigt habe, denn dieser Begriff müsste seinerseits erklärt werden, das heißt, veranschaulichend und erklärend beschrieben werden. Auch die Erklärung, mit der Verwendung des »ethnographischen Präsens« (S. 189) würden in den Darstellungen der Kolonialisten einzelne, im Imperfekt formulierte Beobachtungen durch wiederholte Beobachtung zu Verallgemeinerungen führen, und dieses Präsens sei es dann, das bewirke, dass »die Konstruktion der Indianer im Stillstand verharrt« (S. 190), beschreibt zunächst eine induktive Vorgehensweise, die an sich nicht kritisiert werden kann.

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Wenn es auch einleuchtet, dass beispielsweise soziale Strukturen in der Gesellschaft der Indianer mit sozialen Strukturen der portugiesischen Gesellschaft verglichen oder gar in Analogie gesetzt wurden, um diese verständlich zu machen, so kann hier zwar von einer Konstruktion gesprochen werden: dies allerdings nur, was den Charakter solcher Sozialstrukturen angeht, nicht jedoch, was die Tatsache betrifft, dass die indianische Gesellschaft über feste soziale Strukturen verfügt. Letzteres wird jedoch in Verbindung mit der Analogiebildung als Beschreibung der Indianergesellschaften als »starr« bezeichnet. Der »Monolith ›Indianer‹« (S. 233) entsteht, Pinheiro zufolge, nicht aufgrund bestehender sozialer Strukturen, sondern aufgrund ihrer Umdeutung nach europäischen Maßstäben.

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Ein Dokument Pêro de Magalhães de Gândavos aus etwa dem Jahr 1572, der entweder Archivar in Lissabon oder aber tatsächlich Kolonialbeamter in Brasilien gewesen sein soll, 2 bemüht sich um eine systematische Darstellung der Indianer, mit denen es die Kolonialisten und Missionare an der Küste Brasiliens zu tun hatten. In dieser Beschreibung

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werden nicht einmalige Handlungen der Indianer erzählt (etwa ein Angriff auf eine Plantage, ein Aufstand gegen die Versklavung in einer Zuckermühle, eine Begegnung), und es wird auch nicht über ihre Verwertung im kolonialen Wirtschaftssystem (als Arbeitskräfte) berichtet. Statt dessen werden systematisch Informationen über sie vermittelt, wobei condição eine Semantik der Statik aufweist: Es geht hier also um die allgemeingültigen, sich nicht verändernden Eigenschaften der Indianer (z.B. körperliche und charakterliche Züge). (S. 217) 3
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Was Pinheiro hier als angemessener vorzuschweben scheint, wäre demnach eine anekdotische Form der Darstellung anstatt einer systematischen. Dass auf diese Weise die »Illusion einer statischen Kultur« (S. 218) erzeugt werde, erscheint mir allerdings nicht sehr stichhaltig – Pinheiro verwendet teilweise einen Begriff, der wesentlich plausibler erscheint, wenn sie von einer »Bestandsaufnahme« (S. 199 et passim) spricht. 4

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In diesem zweiten Teil der Arbeit geht Pinheiro außerdem davon aus, dass die Brasilienreisenden versuchten, ihre Berichte mittels ihrer »Erfahrung und Augenzeugenschaft [zu] authentifizier[en]« (S. 180). Dadurch werde Fremdheit konstruiert. Wenn nun jedoch Pinheiro vielfältige Zitate zusammenträgt, in denen die Brasilienreisenden sich darum bemühen darzulegen, inwiefern das von ihnen Beobachtete und Berichtete möglichst authentisch und »ohne stilistische Manipulationen« (S. 180) beschrieben werde, so muss gefragt werden, inwiefern ihnen »Konstruktion« vorgehalten werden kann, wie dies Pinheiro gleichsam als selbstverständlich annimmt. Um ihr Argument zu stützen, wäre es sinnvoller gewesen, aufzuzeigen, inwiefern es den Verfassern solcher Dokumente trotz aller Bemühungen um Objektivität nicht gelingen konnte, die wahrgenommene Wirklichkeit nicht verzerrt wiederzugeben.

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Letztlich wird das Wort Konstruktion so vielfältig verwendet, dass es schließlich seine intendierte Bedeutung verliert. Wenn beispielsweise noch die »Konstruktion einer ›Wissenschaft vom Fremden‹« (S. 176) eingeführt wird, dann wird der Begriff zu sehr zerdehnt. Denn wenn alles als Konstrukt aufgefasst wird, kann nicht mehr verdeutlicht werden, was es mit der speziellen Konstruktion Brasiliens auf sich hat. Der Ebenenwechsel, auf dem dem Untersuchungsobjekt wie auch den Untersuchungsmethoden, den Interpretationen wie objektiven Tatsachen jeweils gleichermaßen Konstruktcharakter zugeschrieben wird, reduziert den Erklärungswert des Begriffs der Konstruktion auf eine Art Signalwort ohne eigentlich erklärende Bedeutung. Jedenfalls stellt die Rede von Wissen als »wahr und objektiv konstruier[t]« (S. 176) im üblichen Sprachgebrauch einen Widerspruch dar. So arbeiten die Zitate, die Pinheiro bringt, zum Teil jedoch auch ihre eigene Darstellung, ihrer Intention entgegen, den Konstruktcharakter der Brasilienbeschreibung zu plausibilisieren.

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Die durchgängige Beschreibung aller Berichte und aller verwendeten Berichtmethoden als Konstrukt erlaubt es Pinheiro schließlich, alle beschriebenen Phänomene als »Motiv« aufzufassen, womit die Semiotisierung oder die Konstruiertheit noch um ein fiktionales Moment radikalisiert wird. Wenn Pinheiro nun jedoch nur mehr von »Motiven« spricht anstatt von Themen, suggeriert dieser Ausdruck eher die Konstruiertheit der Beschreibungen Brasiliens, als dass er sie erklären würde. Wo daher das »Motiv« des Garten Eden noch einleuchtet, kann das »Motiv« einer allgemeinen, vereinheitlichten Sprache als Motiv nicht überzeugen (vgl. etwa S. 162 f.). Spätestens das »Motiv des Kannibalismus« (vgl. S. 150 ff.) verschleiert bei Pinheiro eher, worum es geht. Denn den Kannibalismus gab es nicht nur als Motiv, sondern als Realität. Dass der Kannibalismus als Argument und Vorwand dazu diente, die Dringlichkeit des Missionierens zu unterstreichen, oder aber um Sklaverei zu rechtfertigen, weist jedoch auf kein »diskursives Konstrukt« hin, das ihn als »Motiv« erkennbar machen würde.

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Fazit

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Als kulturanthropologische Studie über die Kolonialisierung Brasiliens überzeugt die Arbeit als beeindruckende Leistung, nicht zuletzt, was die aufwendige und wohl mühselige Erarbeitung des zugrunde gelegten Textkorpus angeht. Der semiotisch oder diskurstheoretisch Interessierte wird hingegen mit einer gewissen Enttäuschung zurückbleiben. Dass nämlich tatsächlich verzerrte Bilder von Brasilien entwickelt wurden, entspricht weniger den Problemen, die mit der Ethnologie umrissen werden, und der zufolge Augenzeugenberichte mehr über die Augenzeugen aussagen als über das von ihnen Beschriebene, als vielmehr jeweils gut nachvollziehbaren Strategien, mit denen für die Kolonialisierung Brasiliens in Portugal geworben werden sollte. Damit wird das eingangs formulierte methodologische Vorhaben nicht erfüllt.

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Stattdessen ergibt sich der Eindruck, der Konstruktionscharakter Brasiliens werde eher beschworen als nachgewiesen. Das ist schade, denn die Beschränkung auf die verschieden gefärbten Darstellungsweisen Brasiliens durch die unterschiedlich motivierten Kolonialisten, Missionare, Siedler und Supervisoren hätte diskurstheoretisch durchaus gereicht, um aufzuzeigen, wie Brasilien unter verschiedenen Perspektiven thematisiert wurde. Die Beharrung auf dem Konstruktcharakter Brasiliens hingegen wirkt an einigen Stellen geradezu forciert. Wenn Pinheiro beispielsweise meint, es sei anzuzweifeln, ob man überhaupt von der »Entdeckung« Brasiliens sprechen könne, da die entdeckten Gebiete zur Zeit ihrer Entdeckung »zumindest ihren Bewohnern durchaus bekannt« (S. 45) gewesen seien, so verschleiert solche Argumentation eher, was mit ihr vermutlich angesprochen werden soll, nämlich dass die Rede von der Entdeckung Brasiliens an sich noch ethnozentristisch ist.

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Auch einige semiotisch interessante Details gehen durch diese Vorgehensweise unter. Interessanterweise erwähnt Pinheiro beispielsweise, die portugiesischen Missionare hätten einen Zusammenhang zwischen den Lauten der Sprache und der Semantik derart hergestellt, dass sie aus der Beobachtung, den Indianern fehlten die Buchstaben »F, L und R« (S. 137), geschlossen haben, sie könnten demnach auch keine Konzepte von » (›Glauben‹), [...] lei (›Gesetz‹) und [...] rei (›König‹)« (S. 137) haben. Insbesondere dies stellt eine erstaunliche semiotische oder diskursive Konstruktion – und zwar in der eigenen, nicht in der fremden Kultur – dar, die Pinheiro dann allerdings nicht weiter verfolgt.

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Ingesamt leuchtet daher die Konstruktion von Brasilien und von Fremdheit nicht ein: sie müsste jedenfalls präzisiert werden. Denn nicht Brasilien und Fremdheit werden konstruiert – beides existiert ja wirklich –, sie werden nur auf verschiedene Weise gedeutet und funktionalisiert.



Anmerkungen

Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts, beispielsweise in den Schriften des Visitationssekretärs Fernão Cardim aus den achtziger Jahren, werden derartige Versuche deutlich, die Kultur der Indianer zu rekonstruieren, wie sie ursprünglich gewesen sein mag, also zu einem Zeitpunkt, an dem die Indianer durch Sklaverei und Epidemien beinahe ausgestorben, ins Landesinnere geflohen oder zu Christen bekehrt waren.   zurück
Hier muss noch angemerkt werden, dass es ebenfalls nicht einleuchtet, dass Pinheiro sich so ausführlich auf diesen Autor stützt, der, wie sie hervorhebt, in keinem Falle, also auch als Kolonialbeamter, ein eigentlicher Augenzeuge gewesen sei, da er bei dieser Tätigkeit mit den Indianern kaum in Berührung gekommen sei. Auch als Kolonialbeamter habe er es in erster Linie mit Texten zu tun gehabt (vgl. S. 216). Dies steht in Widerspruch zu der von Pinheiro eingangs behaupteten Wichtigkeit der Augenzeugenschaft der Autoren, die sie verwendet.   zurück
Der Begriff condição wird mit »Stand« im Sinne von sozialem Stand übersetzt.   zurück
Wesentlich erstaunlicher als die um die Mitte des 16. Jahrhunderts sicher stets durch das eigene Weltbild verzerrte Wahrnehmung des Fremden erscheint mir, dass sich die Berichterstatter tatsächlich um sehr objektive Dokumentationen bemühten: es ist durchaus bemerkenswert, dass katholische Missionare einen derart neutralen und unvoreingenommenen Standpunkt gegenüber Phänomenen wie Nacktheit, Kannibalismus und dergleichen einnehmen konnten.   zurück