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Karl Sudhoffs Privatbibliothek

  • Andreas Frewer: Bibliotheca Sudhoffiana. Medizin und Wissenschaftsgeschichte in der Gelehrtenbibliothek von Karl Sudhoff. (Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte, Beiheft 52) Wiesbaden u.a.: Franz Steiner 2003. 406 S. 3 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 68,00.
    ISBN: 3-515-07883-5.
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Die vorliegende Monographie hat sich zum Ziel gesetzt, die Privatbibliothek von Karl Sudhoff (1853 – 1938) vorzustellen, der zu Recht als einer der bedeutendsten deutschen Medizinhistoriker gilt. Seit seinem Studium der Medizin hat sich Sudhoff, zunächst als Arzt in freier Praxis, mit der Geschichte der Medizin beschäftigt. Durch zahlreiche einschlägige Publikationen, vor allem über Paracelsus (1493 – 1541), hat er früh auf sich aufmerksam gemacht, und so ist es nicht verwunderlich, dass er im Jahr 1901 bei der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften deren Vorsitzender wurde. 1905 änderte sich Sudhoffs berufliche Laufbahn schlagartig. Er wurde als Extraordinarius für Geschichte der Medizin an die Universität Leipzig berufen und konnte im folgenden Jahr 1906 bereits die Gründung des Leipziger Medizinhistorischen Instituts erreichen. Dieses Institut war das erste Medizinhistorische Institut überhaupt und wurde daher wegweisend für die weitere Entwicklung des noch jungen Faches; in Anerkennung seiner Verdienste wurde es 1938 in Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften umbenannt.

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Über sechzig Jahre hat sich Sudhoff, der u.a. seit 1908 das Archiv für Geschichte der Medizin (das später nach ihm benannte Sudhoffsche Archiv) herausgab, mit der Geschichte der abendländischen Medizin beschäftigt. In seinem langen Gelehrtenleben konnte er eine Privatbibliothek aufbauen, die insgesamt rund 4000 Titel umfasst, und die schließlich in den Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek in München gelangte, wo sie heute noch aufbewahrt wird.

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Die zu besprechende Arbeit setzt mit einer kurzen Einführung zur Sudhoffschen Bibliothek ein (S. 13 – 26), die sich in drei Abschnitte gliedert. Nach einer Charakterisierung der Bestände wird der Aufbau der Bibliothek vorgestellt und die Geschichte der Sammlung vom Verkauf bis zur heutigen Aufstellung skizziert. Demnach war der Ausgangspunkt der Sudhoffschen Bibliothek seine Sammlung von Schriften zu Paracelsus, die er sich vor allem im Rahmen seiner Paracelsus-Ausgabe anlegte. Diese Werke machen etwa ein Drittel der Gesamtbestände von Sudhoffs Bibliothek aus (S. 14). Sie stellen überdies nahezu die Hälfte seiner vom Verfasser als »Cimelia« eingestuften (S. 33) Bücher dar, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gedruckt wurden. Ausgehend von dieser Spezialbibliothek erweiterte sich seine Bibliothek beständig. Sie reichte letztlich

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von Werken zur Heilkunde der Frühen Hochkulturen, Schwerpunkten in der griechischen und römischen Antike über den besonderen Akzent zur Medizin im Mittelalter und Paracelsus bis hin zu Fragen der Medizintheorie und allgemeiner Kulturgeschichte (S. 15).
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Aufbau der Bibliothek

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Der Umfang seiner Bibliothek zwang Sudhoff wohl dazu, seine Bestände neu zu strukturieren; wann er diese Neuordnung vornahm, ist unbekannt. Er gliederte sie in zwanzig thematisch ausgerichtete Gruppen, die er »Sud. I« bis »Sud. XX« durchzählte. Aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit wurden dann in jeder Gruppe meist zehn Unterabteilungen gebildet und mit arabischen Zahlen markiert, so dass auf diese Weise Signaturen wie »Sud. II.4« entstanden. Nach Frewer lässt sich die Bibliotheca Sudhoffiana grob in drei Teile gliedern (S. 22): Der erste Teil (Sud. I bis Sud. V.) umfasst »Werke zur Heilkunst der Antike« (I), »Schriften zur Volksmedizin im Altertum« (II), »Werke zur Heilkunde im Mittelalter« (III), »Neuzeitliche Medizin bis zum 18. Jahrhundert« (IV), »Schriften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts« (V); die Bezeichnungen der einzelnen Sektionen stammen dabei von Frewer.

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Der zweite Teil (Sud. VI bis Sud. IX) bildet die ehemalige Paracelsus-Bibliothek, die vor allem Werke vereinigt, welche die Schriften des Paracelsus zum Gegenstand haben.

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Der dritte Teil (Sud. X bis Sud. XX) enthält (ebenfalls in der Terminologie von Frewer) die Sektionen »Deutsche Zeitschriften, Periodika, Tagungsberichte« (X), »Internationale Zeitschriften« (XI), »Naturwissenschaft und Medizin in Kunst und Kultur« (XII), »Schriften zur Entwicklung der Heilkunde« (XIII), »Allgemeine Werke zu Ärzten« (XIV), »Schriften zur Zauberei« (XV), »Medizinische Literatur zu Goethe« (XVI), »Werke zur Medizingeschichte« (XVII), »Schriften zur Geschichte der Naturwissenschaften« (XVIII), »Schriften zu speziellen Krankheiten« (XIX) und »Varia« (XX). In die von Frewer neu hinzugefügte Gruppe XXI wurden schließlich »alle von Sudhoff nicht (mehr) klar bezeichneten bzw. später hinzugefügten oder nicht systematisierbaren Bücher aufgenommen« (S. 22).

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Geschichte der Bibliothek

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Die Geschichte der Sudhoffschen Privatbibliothek nahm einen wenig rühmlichen Verlauf. Wohl noch im Jahr 1937 verkaufte Sudhoff kurz vor seinem Tod die Bibliothek an die Reichsärztekammer. Nachdem Teile davon zunächst an das Hygiene-Museum nach Dresden gingen, kam die Sammlung letztlich nach längerem Hin und Her nach München. Während des Krieges wurden die Bestände in die Obhut der Bayerischen Staatsbibliothek übergeben, wo sie dann auch nach dem Krieg blieben. Erst in den 1990er Jahren begann man die Sammlung, die bis dahin nahezu unbeachtet blieb, zu erschließen und sie vor allem zu katalogisieren. Auf diese Weise sind die Bestände jetzt über das Internet abfragbar und zugänglich.

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Präsentation der Bestände

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Den Mittelpunkt der Arbeit bilden die auf über 300 Seiten abgedruckten bibliographischen Angaben zu Sudhoffs Büchern (S. 47 – 352). Jeder Eintrag beginnt mit der heute gültigen Signatur, die im Zuge der Katalogisierung erstellt wurde. Dabei wurden sämtliche Bücher mit der Sigle »Bibl.Sud.« und einer durchlaufenden Nummer versehen. An zweiter Stelle folgt die historische Signatur, deren Form bereits oben beschrieben wurde. Falls das betreffende Buch aus der ursprünglichen Paracelsus-Bibliothek stammt, wurde deren Notation (z.B. »Par. 17«), mit einem Gleichheitszeichen versehen, hinzugefügt. Danach folgt jeweils die bibliographische Angabe der einzelnen Titel.

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Der Abdruck des Katalogs der Sudhoffschen Privatbibliothek wird ergänzt durch einen Beitrag Sudhoffs über Medizinische Bibliotheken aus dem Jahr 1921, den Frewer mit zusätzlichen bibliographischen Angaben versehen hat. Ein Register mit den im Katalog angeführten Autoren sowie ein Zeitschriftenregister helfen, den Katalog zu erschließen.

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Sudhoffs Bibliothek und das Mittelalter

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Bei der Beurteilung der Bedeutung dieser Bibliothek kann ich Frewers Euphorie nicht teilen. Sichtet man, um sich ein Bild von der Bedeutung dieser Bibliothek zu verschaffen, z.B. den Katalog auf Sudhoffs ureigenem Arbeitsgebiet der medizinischen Mediävistik, so zeigt sich dem Kundigen sehr bald, dass dieser Bestand, der immerhin »ca. ein Drittel der Sudhoffiana« ausmacht (S. 15 Anm. 17), keineswegs so »außergewöhnlich wie faszinierend« (S. 7) ist, wie uns der Herausgeber vormachen will. Die Bücher, welche die mittelalterliche Medizin zum Gegenstand haben, finden sich dabei in der Sektion III (»Werke zur Heilkunde im Mittelalter«) und XIII (»Schriften zur Entwicklung der Heilkunde«); während die Gruppe III in der Regel nur lateinische Werke enthält, werden in Gruppe XIII die deutschsprachigen Werke vereint. Da die lateinische Medizinliteratur des Mittelalters nur in Umrissen bekannt ist, habe ich für meine Überprüfung exemplarisch die deutschsprachigen Texte ausgewählt, die wesentlich besser erforscht sind. Hinzu kommt, dass Gundolf Keil in seinem Nachruf auf Karl Sudhoff aus dem Jahr 1981 sowohl den zur Zeit Sudhoffs bestehenden Forschungsstand als auch Sudhoffs eigene Leistungen auf diesem Gebiet eingehend und überaus kompetent aufgezeigt hat. 1

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Was, so meine Frage, findet sich von dieser Literatur nun in Sudhoffs Privatbibliothek? Zunächst fällt auf, dass die Sektion XIII keineswegs so heterogen ist, wie Frewers Etikett »Schriften zur Entwicklung der Heilkunde« es nahelegt. Die ersten 50 Titel in dieser Sektion bieten Antiquariatskataloge, es folgen Werke zur Frühgeschichte (z.B. Karl Weule: Die Urgesellschaft und ihre Lebensfürsorge, 1912 oder Carl Franke: Die mutmaßliche Sprache der Eiszeitmenschen in allgemein verständlicher Darstellung, 1911), zur Volksmedizin (z.B. Georg Josef Flügel: Volksmedizin und Aberglaube im Frankenwalde nach zehnjähriger Beobachtung, 1863, Hans Liebeschütz: Das allegorische Weltbild der heiligen Hildegard von Bingen, 1930 oder Gustav Schwab: Geschichte von der wunderlichen Geduld der Gräfin Griseldis nach Boccaccios Novelle wiedererzählt, 1923) und zu deutschen mittelalterlichen Texten (nicht mehr als 30 Titel), schließlich Beiträge zur Geschichte von Fakultäten bzw. einzelnen Klinikabteilungen.

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Von der bei Keil angeführten zahlreichen Literatur (z.B. die grundlegende Ausgabe von Külz und Külz-Trosse zum Breslauer Arzneibuch oder die Ausgabe von Friedrich Wilhelm zu den medizinischen Texten des 11. und 12. Jahrhunderts) ist jedoch kaum etwas vorhanden – und dies, obwohl Sudhoff die Ausgaben kannte und sie mehrfach zitierte. Besonders aufschlussreich ist das Fehlen der Ausgabe der Pfalzpaintschen Wundarznei von Haeser und Middeldorpf. Sudhoff hat sich bekanntlich eingehend mit der mittelalterlichen Chirurgie beschäftigt und mehrfach über Heinrich von Pfalzpaint, dem wir die erste Beschreibung einer plastischen Operation, einer Nasenersatzplastik mittels eines Stieltransplantats aus der Oberarmhaut, im Abendland verdanken, geschrieben. Ihm stand nachweislich diese Ausgabe zur Verfügung. Dennoch fehlt sie in seiner Privatbibliothek.

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Insgesamt bietet diese Sektion überwiegend ein Sammelsurium an Büchern und Sonderdrucken, die heute weitgehend keinen wissenschaftlichen Wert mehr haben, und die auch Sudhoffs Forschungsinteresse nicht angemessen widerspiegeln. Von Wert für die Forschung sind heute nur die Textausgaben zur mittelalterlichen deutschen Medizin (die freilich nahezu alle in Bibliotheken verfügbar sind) sowie die Beiträge zu einzelnen Kliniken bzw. Abteilungen, die für diese Institute sicher von Interesse sind.

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Bedeutung der Bibliothek heute

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Aus meiner Sicht handelt es sich bei Sudhoffs Privatbibliothek, sieht man von der systematisch angelegten Paracelsus-Bibliothek und seiner Sammlung an frühen Drucken ab, um eine typische Privatsammlung, in der alles, was sich in einem langen Leben ansammelte, aufbewahrt wurde, seien es selbst gekaufte Bücher oder Publikationen, die der Herausgeber durch Besprechungen erhielt oder geschenkt bekam. Dass dabei medizinische Werke im Zentrum stehen, liegt freilich durch die Biographie des Besitzers auf der Hand. Die entscheidenden Bücher, insbesondere die Bücher, mit denen Sudhoff etwa auf dem Gebiet der Mediävistik seit seiner Zeit in Leipzig arbeitete, findet man aber kaum. Diese waren, so ist zu vermuten, mit Sicherheit in Sudhoffs leider verschollenen Handbibliothek bzw. in der von ihm selbst aufgebauten Institutsbibliothek. Ohne Kenntnis dieser beiden Bibliotheken, die sich in Sudhoffs Gebrauch wechselseitig ergänzt haben müssen, lassen sich daher kaum fundierte Aussagen zu Sudhoffs wissenschaftlichem Hintergrund und seinem Wirken machen.

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Die bereits erkennbare Überschätzung des Autors für die Bedeutung seines Forschungsgegenstandes zeigt sich meines Erachtens besonders deutlich bei der Einordnung in größere historische Bezüge:

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Die Sudhoffsche Sammlung wurde zunächst zur Sicherheit in Kisten aufbewahrt. Fast ist man geneigt, dies als Metapher und auch symptomatisch für die weitere Geschichte der Medizinhistoriographie in Deutschland insgesamt zu nehmen: nach dem Exodus hervorragender jüdischer Medizinhistoriker seit Anfang der 1930er Jahre verschwanden nun auch die besten Quellen. Deutschlands akademische Landschaft – in Bezug auf die medizinische Forschung lange Jahre international hoch angesehen oder gar führend – verarmte entscheidend, knapp ein Jahr nach Sudhoffs Tod begann der Zweite Weltkrieg, und die Katastrophe nahm ihren Lauf (S. 24f.).
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Das zeitweilige Verschwinden von ein paar Bücherkisten mit der Vertreibung der Juden gleichzusetzen, ist schlichtweg unangemessen. Dass man mit derartigen Vergleichen aufpassen muss, sollte eigentlich jedem, vor allem aber einem Wissenschaftshistoriker geläufig sein. Es zeigt sich, dass es dem Verfasser an historischem Gespür mangelt bzw. dass er nur sehr vage und unreflektiert von historischen Ereignissen spricht. An keiner Stelle wird dagegen erwähnt, dass Sudhoff selbst den Nationalsozialismus verherrlicht hat. 2 War es Zufall, dass er seine Bibliothek ausgerechnet an den Reichsärzteführer Gerhard Wagner, der an der Spitze der nationalsozialistischen Reichsärztekammer stand, verkaufte?

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Wem eine solch aufwendige Publikation, die eine reine Auflistung ohne begleitende wissenschaftliche Wertung darstellt, 3 dienen und nützen soll, ist mir nicht ersichtlich geworden. Dies gilt nicht zuletzt, weil die Buchbestände der Sudhoffiana (freilich, wie bereits erwähnt, mit Ausnahme der Paracelsus-Bibliothek und der frühen Drucke) in der Regel nur Bekanntes bzw. aus meiner Sicht längst überholtes Wissen und keineswegs das »Universum des Wissens« (S. 14) bieten. Bei der Durchsicht der Sammlung, die, trotz der vorgebrachten methodischen Einschränkungen, Sudhoffs Interessengebiete in Umrissen widerspiegelt, wird jedoch deutlich, wie weit sich das gegenwärtige Fach »Geschichte der Medizin« von den Gegenständen entfernt hat, die dieser erforschte. So sind das Mittelalter und die Frühe Neuzeit, mit denen sich Sudhoff hauptsächlich beschäftigt hat, weitgehend aus dem Blickfeld der Fachvertreter geraten. Wie deshalb diese Bibliographie gerade auf Sudhoffs ureigenen Arbeitsgebieten weitere Forschungen zur Medizingeschichte anregen könnte, bleibt eine offene Frage.



Anmerkungen

Gundolf Keil: Sudhoffs Sicht vom deutschen medizinischen Mittelalter. In: Nachrichtenblatt der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik 31 (1981), S. 94 – 129.   zurück
Vgl. dazu etwa Werner Friedrich Kümmel: Im Dienst »nationalpolitischer Erziehung«? Die Medizingeschichte im Dritten Reich. In: Christoph Meinel und Peter Voswinckel (Hg.): Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Stuttgart: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 1994, S. 295 – 313, hier S. 295 und 310.   zurück
Dies wird besonders deutlich bei den beiden Inkunabeln und den Drucken des 16. Jahrhunderts. Sie werden von Frewer ohne weiterführende Hinweise auf bibliographische Verzeichnisse unter der Bezeichnung »Frühdrucke« S. 33 – 43 aufgelistet. Nur bei der zweiten Inkunabel, dem massenhaft überlieferten Antidotarium Nicolai, findet sich (wohl von Frewer nicht erkannt) der Hinweis auf den Inkunabelkatalog von Goff (F. R. Goff: Incunabula in American libraries. A third census of fifteenth-century books recorded in North American collections. New York 1964 – 1972).    zurück