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Welche Fragen stellt die Systemtheorie?

Gelungene Rekonstruktion und anfechtbare Kritik

  • Rainer Schützeichel: Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann. (Campus Forschung 852) Frankfurt/M.: Campus 2003. 321 S. Kartoniert. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 3-593-37132-4.
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Zielsetzung und Motivation der Studie

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Rainer Schützeichel will in seiner Dissertation Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann »eine problemorientierte Rekonstruktion der Theorie von Niklas Luhmann in theoretischer, in methodischer und in methodologischer Hinsicht« (S. 10) unternehmen. Mag dieses Vorhaben zunächst sinnvoll und interessant klingen, so schließt sich für den auf dem Gebiet der Systemtheorie nicht unbedarften Leser doch zwangsläufig eine Frage an, die der Autor lobenswerter Weise auch selbst stellt: Warum genau bedarf es einer weiteren Studie zur Systemtheorie, wenn doch schon zahlreiche Einführungen, Übersichtswerke und Studien zu speziellen Aspekten der Systemtheorie existieren (vgl. S. 8)? Schützeichel beantwortet diese Frage unter anderem mit der Behauptung, dass die Systemtheorie in Gefahr sei, »sich selbst zu ›klassifizieren‹, sich tautologisch um Begriffsexegesen zu kümmern und damit den Kontakt und den Anschluss an die allgemeine soziologische Diskussion zu verlieren«(S. 8). Dieser von ihm zu Recht festgestellten Tendenz in der Theoriediskussion möchte der Autor mit seiner Studie entgegenwirken.

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Schützeichel beabsichtigt eine ganzheitliche metatheoretische Rekonstruktion der Systemtheorie, die sich nicht »auf nur wenige Schauplätze« (S. 10) konzentriert und in erster Linie von den Fragen ausgeht, die von der Systemtheorie gestellt werden (vgl. ebd.). Diese Problemstellung erstaunt insofern, als da Luhmann klar formuliert, dass sein Theorieinteresse dem Fragetyp »wie ist [...] möglich« gilt. 1 Schützeichel impliziert dann auch bereits in der Einleitung, dass er die Frage nach den »Systemtheorie-Fragen« in kritischer Absicht stellt:

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[…] sollte die Soziologie wirklich dem ›theoretischen Skeptizismus‹ […] von Luhmann folgen und die alteuropäische Forderung aufgeben, Warum-Fragen, also explanative Fragen zu stellen? (S. 8)
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Rekonstruktion der Systemtheorie

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Nun ist Schützeichels Rekonstruktion der Systemtheorie durchaus gelungen. Ausgehend von Luhmanns Sinn-Begriff, der für den Autor den Kern der Systemtheorie darstellt, werden im Verlauf der Studie zentrale Elemente der Systemtheorie wie zum Beispiel ›Sinn‹, ›Form‹, ›Beobachtung‹, ›Kommunikation‹ und ›doppelte Kontingenz‹ nachvollzogen und zueinander in Verbindung gesetzt. Dies geschieht umfassend und auf gut lesbare Weise und dürfte für den systemtheoretischen Neueinsteiger erhellender sein als so mancher Einführungsband. Schützeichels Anspruch, »die Systemtheorie in ihren Kernstrukturen sichtbar zu machen, die wesentlichen Theorieelemente in ihren Relationen zu identifizieren und die innertheoretischen Verbindungen zu erfassen« (S. 14), kann damit jedenfalls als eingelöst betrachtet werden.

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Es bleibt hierbei natürlich zu bedenken, dass Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann nicht unbedingt als Übersichtswerk für den systemtheoretischen Neuling gedacht ist. Ob Schützeichel allerdings darüber hinaus neue Impulse in den systemtheoretischen Diskurs einbringen kann, was das eigentliche Ziel der Studie zu sein scheint, muss indessen bezweifelt werden. Weder die kohärenztheoretischen Überlegungen zu Beginn des Bandes, noch die Fokussierung auf die Luhmannsche Sinntheorie als Ausgangspunkt der Theoriekonstruktion führen dazu, der Systemtheorie bisher vernachlässigte Aspekte abgewinnen zu können. Es mag zwar zum Beispiel auf den ersten Blick provozierend und innovativ erscheinen, die Unterscheidung von System und Umwelt als nachrangig für die Theorierekonstruktion anzusehen, produktive Anschlusskommunikationen ergeben sich daraus bei Schützeichel jedoch nicht.

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Kritik an der Systemtheorie

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Im Verlauf seiner Theorierekonstruktion formuliert Schützeichel verschiedene Kritikpunkte an der Systemtheorie. Wie bereits angedeutet, ist der Autor unter anderem der Ansicht, dass die Systemtheorie explanative Fragen stellen sollte:

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Sie kann zwar zeigen, dass es für jedes Wirkliche auch andere Möglichkeiten gibt. Aber sie kann nicht der soziologisch relevanten Frage nachgehen, wieso gerade diese eine Selektion möglich und wirklich geworden ist. (S. 20)
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Dies ist natürlich keine neue Kritik, hat das Schlagwort von der »Überbetonung von Wie-Fragen« 2 doch schon seit langer Zeit Eingang in den Kanon der Contra-Luhmann-Argumente gefunden. Glücklicherweise belässt es Schützeichel aber nicht bei einer bloßen Feststellung von (seiner Ansicht nach vorhandenen) Defiziten innerhalb der Systemtheorie. Stattdessen möchte der Autor eine operative Logik entwickeln, »und diese muß sich an der Frage orientieren, warum welche Kommunikationen selektiert werden, andere nicht (S. 267).«

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Abgesehen davon, dass die Beantwortung explanativer Fragen nicht in das Theorieinteresse der Systemtheorie fällt, können Schützeichels Ausführungen zu einer ›operativen Logik‹ allerdings nicht überzeugen. Der Autor betont zwar, dass er die Systemtheorie nicht um eine Handlungstheorie ergänzen möchte beziehungsweise dass eine operative Logik nicht auf »mystische Ursachen« wie den »menschlichen Willen« abzielen kann (vgl. S. 274), sein Verständnis von ›operativer Logik‹ bleibt jedoch unklar:

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Das mit einer operativen Logik ausgerüstete Erklärungsprogramm der Systemtheorie könnte intentionale und strukturelle Erklärungen kybernetisch miteinander verknüpfen. Dabei sind intentionale Erklärungen keine, die auf Bewußtseinsakte rekurrieren, sondern sie nehmen Bezug auf Sinnformen, mit denen sich soziale Systeme steuern. Intentionale Erklärungen sind Handlungserklärungen, die in sozialen Systemen als Akte der Zuschreibung dienen – und deren sich die psychischen Systeme bedienen können, wenn sie sich zur Selektion von Handlungen aufgefordert sehen. (S. 274)
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Zur Bestimmung des Begriffs ›operative Logik‹ heißt es weiterhin bei Schützeichel: »Die elementare Selbstreferenz haben wir als operative Logik bezeichnet, die die Selektion von Handlungsalternativen analysiert« (S. 269). Hier stellt sich zunächst die Frage, ob elementare oder basale Selbstreferenz tatsächlich konkrete Handlungsalternativen im Horizont möglicher Anschlussoperationen analysiert, versteht Luhmann unter basaler Selbstreferenz doch lediglich die prinzipielle Ermöglichung von Elementen eines Systems durch Bezugnahme auf Elemente des Systems? Kommunikation wird also durch Kommunikation ermöglicht. Warum aber die Selektion einer bestimmten Kommunikation erfolgt, ist für die allgemeine Kommunikationstheorie Luhmanns nicht von Interesse. Ausschlaggebend für eine Theorie sozialer Systeme ist vielmehr die Tatsache, dass Kommunikationen aufgrund der Leitunterscheidungen, an denen sie sich orientieren, zum Beispiel bestimmten gesellschaftlichen Funktionssystemen zugeordnet werden können, die sich dadurch überhaupt erst selbst generieren. Zwar nimmt die Akzentuierung der »Strukturlogik mit ihren Überlegungen zu den strukturellen Voraussetzungen der Autopoiesis sozialer Systeme« (S.269) zweifellos Defizite auf der Seite einer ›operativen Logik‹ in Kauf; solange die Forderung Schützeichels nach einer solchen Theoriekomponente aber nicht genauer elaboriert wird, kann zumindest Luhmanns allgemeine Systemtheorie aufgrund ihres anders ausgerichteten theoretischen Interesses solcher Kritik gelassen entgegensehen.



Anmerkungen

1 Vgl. Niklas Luhmann: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme. In: Oliver Jahraus (Hg.), Niklas Luhmann. Aufsätze und Reden. Stuttgart: Reclam 2001, S.7–30, hier S. 9.   zurück
2 Detlef Krause: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. 3. neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Lucius & Lucius 2001 (UTB 2184), hier S. 9.   zurück