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Kämpfe an der 'Kantischen Gränzlinie'

Hölderlins Schönheitsbegriff in Theorie und Dichtung

  • Gabriele von Bassermann-Jordan: »Schönes Leben! du lebst, wie die zarten Blüthen im Winter ...«. Die Figur der Diotima in Hölderlins Lyrik und im »Hyperion-Projekt«: Theorie und dichterische Praxis. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 473) Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 228 S. Geheftet. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 3-8260-2550-4.
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Diotima und Susette

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Die literarische Gestalt der »Diotima« schlug die Forschung, aber auch darüber hinaus die oftmals begeisterte Leserschaft der Dichtungen Hölderlins seit jeher in ihren Bann. Vor allem Hölderlins Verhältnis zu seiner Arbeitgeberin Susette Gontard, das oftmals als Grundlegung der zum Topos geronnenen Kunstgestalt erhoben wurde, befeuerte das Interesse an Hölderlins Diotima-Dichtungen. Adolf Beck hat dieses offenbar unstillbare Verlangen nach einer vermittlungslosen Verschränkung von Leben und Dichtung im Motiv der geliebten Frau mit einer Dokumentation bedient und gefördert: Hölderlins Diotima Susette Gontard. 1

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Es gehört zu einem der Verdienste der Arbeit von Gabriele von Bassermann-Jordan, daß sie sich von dieser biographistischen Falle abgrenzt. Bassermann-Jordan liefert mit ihrer Münchener Dissertation eine Zusammenschau jener beiden Werkbereiche, in denen Hölderlin die Figur der Diotima literarisch ausgestaltete: des Hyperion-Projekts und der Diotima-Gedichte. Dabei will die Autorin nachweisen, daß »der Roman nicht ohne die Lyrik betrachtet werden sollte« (S. 213). Als Bezugs- bzw. Erklärungsrahmen dient Bassermann-Jordan daher keineswegs die Biographie Hölderlins, sondern vielmehr seine Philosophie, weil »Diotima als Verkörperung des Prinzips des Schönen konzipiert ist«. (S. 13) Hierfür strebt die Arbeit an, eine Vermittlung von Philosophie- und Literaturgeschichte herzustellen, weil die Dichtung Hölderlins auf einem philosophischen Begriff der Schönheit basiere, der im Ausgang von Spinoza formuliert worden sei: »Konstitutiv für Hölderlins Denken ist die Philosophie Spinozas in der Vermittlung durch Jacobi.« (S. 15) Forschungsgeschichtlich kann sich die Autorin dabei klar positionieren: »Die vorliegende Arbeit versucht, [Dieter] Henrichs Anregungen ernst nehmend, einen Brückenschlag zwischen Philosophie und Dichtung. Ein solcher ist anhand des Schönheitsbegriffes besonders anschaulich zu entwickeln.« (ebd.) Aufgrund der starken Anbindung Hölderlins an Spinoza und Jacobi ließ sich die Autorin zudem durch die Arbeit Margarethe Wegenasts 2 inspirieren.

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In drei Teilen führt Bassermann-Jordan ihren Ansatz durch: In einem ersten Abschnitt (»Zur Herausbildung von Hölderlins Schönheitsbegriff anhand der Quellen und Kontexte«, S. 17–78) wird die Entwicklung des Hölderlinschen Schönheitsbegriffes anhand der sie konstituierenden philosophischen Einflüsse in den 1790er Jahren rekonstruiert, wobei neben den zentralen Gestalten Spinoza und Jacobi insbesondere Platon, Kant, Schiller und Fichte betrachtet werden. In einem zweiten Teil (»Theorie und dichterische Praxis im Hyperion-Projekt«, S. 79–151) betrachtet die Autorin die Entwicklung des Schönheitsbegriffes in den Fassungen des Hyperion-Romans; und Teil III (»Die Diotima-Lyrik«, S. 156–209) analysiert die Diotima-Lyrik Hölderlins in bezug auf die hier weiterentwickelte Theorie des Schönen und der Liebe.

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»… noch auffallender transcendent…« – Hölderlin
zwischen Spinoza und Kant

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Spinoza sei für Hölderlin deshalb von so großem Interesse, weil er einen monistischen Immanenzgedanken ermögliche, der zugleich Potentiale für eine hieran anschlußfähige Ästhetik berge. Spinozas Gedanke der substanziellen All-Einheit enthalte dabei folgende Momente: »Erstens als Ganzheit von Geist und Materie, zweitens als Einigkeit des Unendlichen mit dem Endlichen und drittens als Einigkeit alles Endlichen untereinander.« (S. 20) Es ist also vor allem die Möglichkeit einer immanenten Ganzheitlichkeit, die – vorerst auf das kosmologische Ganze appliziert – Hölderlin laut Bassermann-Jordan zum ›Spinozisten‹ werden ließ. Gegenüber diesem zentralen Konzeptionsmoment fallen die Einflüsse Platons, Kants, Schillers und Fichtes deutlich ab.

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Gleichwohl wird die Bedeutung der platonischen Dialoge Phaidros und Symposion für Hölderlin hinsichtlich des systematischen Status, d.h. des »metaphysischen Bestimmungsgrund[s]« (S. 36) des Schönen sowie der spezifischen Rezeptions- und Reaktionsweise des Menschen auf die Wahrnehmung jener Schönheit als Enthusiasmus und Liebe rekonstruiert.

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Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft ist nach Bassermann-Jordan für Hölderlin insbesondere durch die Theorie der Subjektivität des ästhetischen Urteils sowie durch die Bestimmung der Harmonie der Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand von einschlägiger Bedeutung, wenngleich die Interpretin deutlich herausstellt, daß es Hölderlin vor allem um die Überwindung der von ihm sogenannten »Kantischen Gränzlinie« 3 zu tun war. Die in der Forschung äußerst umstrittene Formel 4 aus einem Brief Hölderlins an seinen Freund Christian Neuffer wird von Gabriele von Bassermann-Jordan in der folgenden und für ihre Studie zentralen Weise interpretiert: »Die ›Kantische Gränzlinie‹ soll daher in dieser Arbeit als die Trennung von subjektivem und objektivem Schönheitsbegriff interpretiert werden.« (S. 61) Hölderlins theoretisches wie dichtungspraktisches Interesse habe in der Formulierung und Realisation eines objektiven Schönheitsbegriffes bestanden, den er mit Kants subjektivem und Schillers objektivem Harmonieverständnis als Vermittlung Entgegengesetzter verstanden wissen wollte, gegen Schiller allerdings als eine mehr als synthetische Einheit, nämlich vermittlungslose Einigkeit (S. 62 ff.), bestimmte und gegen Fichte als Realisation eines aller Differenz voraus- und zugrundeliegenden Urgrundes ermittelte, der einer Ich-Struktur entbehren können muß. Die besondere Leistungsfähigkeit Spinozas für Hölderlins Ansinnen sieht die Interpretin vor dem Hintergrund dieses philosophischen Kontextes nun in der Bereitstellung einer systematischen Instanz – der göttlichen Substanz –, die den Anforderungen jenes im Rahmen der Formulierung eines »objektiven Schönheitsbegriffes« erforderlichen »differenzlosen Urgrundes« (S. 77) am meisten entspricht.

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Dieser philosophiehistorische Parforceritt durch Hölderlins Lektürekosmos ist weitgehend plausibel rekonstruiert – auch wenn der Frühidealist durch diese diskursive Kontextualisierung eklektizistischer erscheint als er es wohl tatsächlich war; ein kleiner, wenngleich nicht unwichtiger Einwand sei dennoch erlaubt: Hölderlins über Jacobi vermittelter Rückgriff auf die Substanzontologie Spinozas sei – so die Interpretin –»nicht als Rückfall in eine vorkritische Metaphysik [zu] diffamieren«. (S. 77) Unabhängig von der Frage, ob die Zuschreibung eines Standpunktes vorkritischer Metaphysik umstandslos als Diffamierung zu bezeichnen sei (was sicher nicht für die 1790er Jahre zutrifft), ist ein wie immer konkretisierter positiver Bezug auf Spinoza ohne traditionelle Metaphysik nicht zu haben. Wenn also Hölderlin als Spinozist interpretiert werden soll, dann nur – und dafür gibt es über Wegenast hinaus eine lange Tradition 5 – durch die Integration in eine deutlich antikantische Metaphysikkonzeption; aber: Spinoza ohne traditionelle Metaphysik – das ist ein Unding.

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Projektionen des Schönen: Hölderlins
Hyperion-Projekt

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Mit dem Roman-Projekt begleitet Hölderlin seine theoretischen Bemühungen um einen bedeutungsschweren und kohärenten Schönheitsbegriff auf dichtungspraktischer Ebene. Nicht zufällig gelingt ihm daher in einem Vorwort zu einer der zahlreichen Fassungen des Romans, an dem Hölderlin zwischen 1792 und 1798 arbeitet, nach Bassermann-Jordan erstmalig die begriffliche Bestimmung der Schönheit als einer objektiven, indem er sie aufgrund ihrer Vermittlungsleistungen auf unterschiedlichen Ebenen zur Realisation eines unvordenklichen »Seyns«, des Urgrundes alles Seienden, erklärt. Dies vermag Hölderlin allerdings erst im Vorwort der sogenannten Vorletzten Fassung während des Winters 1795/96, obwohl er »schon 1794 in Richtung eines ganzheitlichen Denkens unterwegs« gewesen sei (S. 85). Es zeigt sich in diesem Abschnitt der Arbeit, daß die Autorin Hölderlins Interesse an Schönheit als Konsequenz seines »ganzheitlichen Denkens« (S. 84) interpretiert – leider ohne vollständig darüber aufzuklären, was sie darunter versteht.

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Gleichwohl werden die Entwicklungsstadien der Schönheits- und Liebeskonzeption in den Fassungen des Hyperion rekonstruiert, wobei die Ausführungen zu den drei Jenaer Fassungen (Prosaentwurf, Metrische Fassung, Hyperions Jugend, S. 86–112) zu den gelungensten der Studie zu zählen sind. Die präzise nachgezeichnete Entwicklung kulminiert nach Bassermann-Jordan in der Vorrede der Vorletzten Fassung, die eine objektive »Bestimmung des Schönen« (S. 113 ff.) leistet:

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Hölderlin legt nun die Einigkeit von sensibler und intelligibler Welt in einen differenzlosen Urgrund, auf dessen Existenz das Schöne als sinnlich gegenwärtige Einigkeit verweist. Damit ist die [Kantische] Subjektivierung des Schönen überwunden. Das Schöne hat einen objektiven Bestimmungsgrund, der jedem einzelnen Schönen gemeinsam ist: die Ganzheit. (S. 117)
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Ob damit »Hölderlin die Ästhetik Kants und Schillers überboten hat« (S. 116), sei dahin gestellt; entscheidend ist, daß die Autorin nachweist, daß in der Endfassung des Romans ausgerechnet diese Vorstellung von Schönheit nicht im Zentrum steht. Geradezu »frappierend« scheint Bassermann-Jordan »die Nähe zu Kants Bestimmung des Schönen« (S. 131; vgl. auch S. 133 f.), wobei dieses Ergebnis auf der These beruht, im Hyperion werde »[n]icht der schöne Mensch […] fokussiert, sondern dessen Wirkung auf das Subjekt« (ebd.). Diotima sei noch als »schöne Seele« eine »Projektion Hyperions« (S. 135). Vorausgesetzt ist für diese starke These der Projektionsbegriff C. G. Jungs (vgl. S. 84, Anm. 13), was allerdings methodisch wie systematisch problematisch erscheint. Denn den ganz empirisch-psychologischen Begriff der »Projektion« als eigentümliche Konsequenz der transzendentalen Subjektivität in der Theorie des ästhetischen Urteils zu behaupten, ist ebenso unzulässig wie die weitgehend begründungslose Anwendung eines Begriffs empirisch-psychologischer Wissenschaften des 20. auf Texte des späten 18. Jahrhunderts.

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Dennoch stellt das Ergebnis der Überlegungen zum Hyperion, daß nämlich »eine Spannung konstatiert werden muß zwischen Hölderlins theoretischer Bestimmung des Schönen und der dichterischen Umsetzung« (S. 145), eine bedenkenswerte Forschungsthese dar, die weitere Debatten anregen dürfte.

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Der Durchbruch zur Objektivität des Schönen
– die Diotima-Lyrik

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Im zweiten Hauptabschnitt ihrer Arbeit betrachtet Gabriele Bassermann-Jordan die in einer Reihe von Gedichten zwischen 1796 und 1800 gestaltete Diotima-Figur. In eingehenden Analysen und Interpretationen vermag die Autorin zu zeigen, daß sich Hölderlin vom frühen Lied Diotima (1796) zur späten Ode Der Abschied (1800) sukzessive zur poetischen Gestaltung des theoretisch schon 1795 fixierten Begriffes der Schönheit als Realisation des unvordenklichen »Seyns« durcharbeitet. Sowohl in Der Abschied als auch in Menons Klagen um Diotima (ebenfalls 1800) sei eine Darstellung der Liebe als unauflöslicher Gemeinschaft zwischen lyrischem Ich und Diotima gelungen. Anders als im Hyperion setze Hölderlin »die Bestimmung der Liebe als eines Ganzen, das auf das allen Trennungen vorausliegende Seyn verweist, konsequent um.« (S. 209)

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Zuvor werden an zwei Gruppen von Gedichten die von Hölderlin erkannten »Gefährdungen der Schönheit« dargestellt: Anhand von Abbitte, Der gute Glaube, und Ihre Genesung zeigt Bassermann-Jordan Hölderlins Sicht auf die Gefahren für die Schönheit durch die Schuld des lyrischen Ich bzw. durch Krankheit Diotimas. Mithilfe der Gedichte An Diotima, An Ihren Genius und Diotima (2. Fass.) werden Hölderlins scharfsinnige Analysen zeitgenössischer – und das heißt zumeist gesellschaftlicher und politischer – Umstände als Infragestellungen der Schönheit erläutert. Stets ist zu berücksichtigen, daß die Interpretin ihre These von Hölderlins Konzeption einer inneren Schönheit, die sie als Vermittlung von Entgegengesetztem begreift, konsequent umsetzt.

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So kommt die Autorin nach aufschlußreichen Gedichtanalysen zu folgendem Ergebnis:

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Es zeigt sich also, daß eine genaue Analyse der Diotima-Lyrik den Hyperion ganz neu verstehen läßt. Vor dem Hintergrund der in der Vorrede zur Vorletzten Hyperion-Fassung formulierten theoretischen Vorgaben erweist sich im Roman die dichterische Umsetzung der Themen der Liebe und des Schönen als problematisch und spannungsreich, während in der Diotima-Lyrik Liebe und Schönheit klarer und bestimmter als Konkretionen des Seyns dargestellt werden. (S. 212)
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Die Frage, warum es Hölderlin ausgerechnet in seinem Roman nicht gelingt, diese philosophische Konzeption umzusetzen, bleibt allerdings offen.



Anmerkungen

Adolf Beck (Hg.): Hölderlins Diotima Susette Gontard. Gedichte – Briefe – Zeugnisse. Mit Bildnissen. Frankfurt / M.: Insel 1980.   zurück
Margarethe Wegenast: Hölderlins Spinoza-Rezeption und ihre Bedeutung für die Konzeption des »Hyperion«. Tübingen: Niemeyer 1990.   zurück
Hölderlins Brief an Ludwig Neuffer vom 10.10.1794. In: Friedrich Hölderlins: Sämtliche Werke und Briefe. 3 Bde. Hg. von Michael Knaupp. München: Hanser 1992/94, Bd. 2, S. 551.   zurück
Vgl. hierzu die erheblich differierenden Interpretationen dieser Formel bei Friedrich Strack: Ästhetik und Freiheit. Hölderlins Idee von Schönheit, Sittlichkeit und Geschichte in der Frühzeit. Tübingen 1976, S. 128 ff.; Dieter Henrich: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795). Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 266 ff.; Ulrich Port: »Die Schönheit der Natur erbeuten«. Problemgeschichtliche Untersuchungen zum ästhetischen Modell von Hölderlins »Hyperion«. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 61 ff.; Michael Franz: Schellings Tübinger Platon-Studien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 190.   zurück
Neben den Ausführungen Hellingraths und Georges gehört diese Interpretation des Hölderlinschen Denkens als metaphysische Konzeption natürlich in die lange und bis heute andauernde Tradition der sogenannten fundamentalontologischen Perspektiven auf sein Werk.   zurück