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Empfindsamkeit - kulturwissenschaftlich

  • Achim Aurnhammer / Dieter Martin / Robert Seidel (Hg.): Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung. (Frühe Neuzeit 98) Tübingen: Max Niemeyer 2004. VIII, 275 S. Leinen. EUR (D) 72,00.
    ISBN: 3-484-36598-6.
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Die Aufsatzsammlung vereinigt fast alle Vorträge (14 von 16), die vom 29. September bis zum 2. Oktober 2002 im Gleimhaus zu Halberstadt im Rahmen eines Kolloquiums über Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung gehalten wurden. Der Begriff »Gefühlskultur« klingt altmodisch. Es handelt sich dabei um den seltenen Fall eines germanistischen Neologismus der frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Herausgeber der »Reihe Aufklärung« der »Deutschen Literatur in Entwicklungsreihen« (DLE) wählte für den 7. Band den Titel Der Anbruch der Gefühlskultur in den fünfziger Jahren (Hg. von Fritz Brüggemann unter Mitwirkung von Helmut Paustian. Leipzig 1935). Für die Empfindsamkeit selbst war Band 3 der Reihe »Irrationalismus« (1932 ff.) unter dem Titel Erwachen des Gefühls: Empfindsamkeit (Young. – Ossian. – Proben aus deutscher empfindsamer Dichtung bis zu Sophie v. Laroche). – Religiöse Gefühlsdichtung (pietistische Lehre und Dichtung seit Zinzendorf. – Lange. – Pyra. – Klopstock: Messias; Oden; Geistliche Dramen; Bardiete; Theoretisches) vorgesehen. Der Gesamtherausgeber der DLE, Heinz Kindermann, wollte diesen Band selbst zusammenstellen – er ist nicht erschienen. 1 Der Terminus »Gefühlskultur« fehlt im großen Duden-Wörterbuch. Ich nehme an, die Herausgeber ließen sich von dem Aspekt »Kultur« im Kontext des gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Paradigmas leiten; »Gefühl« ist semantisch so komplex, dass es den Skopus der Sammlung, die sich der empfindsamen Literatur und Kommunikation widmet, nicht trifft. Wenn Faust in Marthens Garten sein Glaubensbekenntnis mit den Worten beginnt, »Gefühl ist alles«, so meint er damit kaum die Empfindsamkeit.

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Das Kolloquium war zeitlich sehr gut platziert. Die Erforschung der Empfindsamkeit ist inzwischen selbst zum wissenschaftshistorischen Sujet geworden. Neue Ansätze wurden diskutiert. 2 Die Erschließung neuer Quellen ließ allerdings zu wünschen übrig. Die Herausgeber weisen auf die interdisziplinären Sammelbände über »Freundschaft« und »Geselligkeit« hin. Darüber hinaus blieb es in der Regel bei kürzeren Studien zu Detailproblemen. Die hier veröffentlichten Aufsätze lassen sich drei Themenkomplexen zuordnen: a) Theorien und Konzepte empfindsamer Geselligkeit, b) repräsentative Einzelphänomene und Textsequenzen aus unterschiedlichen literarischen Gattungen und c) Studien zur Rezeption und kritischen Reflexion der ›Gefühlkultur‹.

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Das Schreiben und Lesen von Gefühlen

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In seinem Beitrag »Die ›Baumgartensche Schule‹ und der Strukturwandel der Lyrik in der Gefühlskultur der Aufklärung« skizziert Kevin F. Hilliard ästhetische, poetologische und gesellschaftliche Veränderungen der Lyrik im Zeitraum zwischen 1720–1775. Baumgarten und sein Schüler Georg Friedrich Meier stehen im Zentrum der Untersuchung, die schließlich Herders bedeutende Lyriktheorie als Produkt und Ausdruck der Empfindungen ausführlich würdigt.

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Um die »Metaphorik des Schreibens und Lesens um 1770« geht es in der Studie von Katrin Kohl. Sie untersucht Vorstellungen von Literatur, wie sie sich in poetologischen Texten, im Diskurs über Literatur und im literarischen Werk selbst artikulieren. Für besonders aufschlussreich hält sie dabei die Metaphorik, die sie als Kommunikationsnetz zwischen dem literarischen Text und dem kommentierenden Diskurs, zwischen Autor und Leser situiert. Sie nutzt auch Einsichten der kognitiven Linguistik und fasst Metaphern als Phänomene auf, durch die auch das Denken mitstrukturiert und sprachlich wie stilistisch wirksam wird. Ausführlich analysiert sie Wielands Vorrede für Sophie La Roches Roman Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771). Sie entdeckt darin eine binäre Metaphorik, die mit anderen Texten des zeitgenössischen Diskurses in Beziehung gesetzt wird. Das Augenmerk gilt vor allem der Definition geschlechtlicher Rollen durch Wieland im Umfeld der Rousseau-Rezeption. Wieland habe damit seinen rationalen Kunstbegriff verteidigt, indem er dem weiblichen Schreiben immer einen emotionalen und damit argumentativ schwächeren Anteil zugeschrieben hat. Am Ende der ergebnisreichen Untersuchung findet sich ein Blick auf Sturm und Drang-Autoren. Die alten Autoritäten werden abgelehnt. Die Macht der Metapher erweist sich im literarischen Diskurs in den Verschiebungen zu individueller Kreativität hin. Die gefühlsbetonte Metaphorik tritt aus der Privatsphäre, die öffentliche Instanzen moralisch einschränken, heraus. »Indem der literarische Text Gefühle erzeugt, stiftet er durch das Wort eine lebendige Gemeinschaft zwischen Autor und Rezipient«. (S. 45)

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Christian von Zimmermann hat sich mit einer Thematik beschäftigt, die in der Erforschung der empfindsamen Kultur bislang kaum berücksichtigt wurde: »Verinnerlichung der Trauer – Publizität des Leids. Gefühlskultur, Privatheit und Öffentlichkeit in Trauertexten der bürgerlichen Aufklärung«. Der Verfasser hält wenig von einer psychohistorischen Basis des literatur- und kulturgeschichtlichen Wandels der Trauerdarstellung im Sinne von Freuds Trauerkonzeption. Er stellt die These in Frage, wonach die spätaufklärerische Debatte um ›Abschaffung‹ der Trauer als historische Zäsur zu werten sei. Die Differenz zwischen Privatheit und Öffentlichkeit der Trauer und ihrer Bekundung sei selbst historisch wandelbar. Entsprechende Wandlungsprozesse haben in neuen rhetorisch-stilistischen Konzeptionen der Trauersprache und ‑gattungen Ausdruck gefunden. Dabei zeige sich eine Intimisierung, breitere öffentliche Toleranz privaten Traueräußerungen gegenüber und eine gewandelte Trauerrhetorik. Am Beispiel von Herders frühen Leichenreden kann die Integration einer empfindsameren Trauerrhetorik in das Genre ›Leichenrede‹ als Zeichen einer Veränderung von der öffentlichen und didaktischen zur eher familialen, privaten und seelsorgerischen Funktion des Leichenredners dokumentiert werden. Schließlich wird auch die Entwicklung des Trostarguments – »wir sehen uns wieder« – dazu benutzt, den Wandel der Distanz zwischen privater und öffentlicher Sphäre zu belegen. Die materialhaltige Untersuchung kann eindrucksvoll zeigen, wie sich Trauer zu einer Verinnerlichung und Inszenierung von Intimität und zu einer Sentimentalisierung öffentlicher Rhetorik wandelt.

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Die Post der Gefühle
und die empfindsame Freundschaft

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Mit Robert Seidels Abhandlung setzt eine Reihe von Arbeiten ein, die sich mit dem Medium ›Brief‹ in der empfindsamen Kommunikation befassen: »Der empfindsame Freundschaftsbrief und die humanistische Tradition«. Seidel möchte zeigen, dass es eine größere Zahl von Parallelen zwischen Freundschaftsbriefen von Akademikern und literarisch ambitionierten Beamten des 18. Jahrhunderts und ihren humanistischen Vorgängern gibt, die lateinische Briefe schrieben. Der Hintergrund der wichtigen literarischen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen wird gesehen. Zunächst wird die Tradierung humanistischer Briefvorschriften bis ins 18. Jahrhundert hinein dokumentiert und an ausgewählten Texten exemplifiziert. Der Leitgedanke der Analysen ist die »Überlegung, daß die ›Freundschaftsbriefe‹ über ihren jeweils aktuellen, praktischen Zweck hinaus dazu dienten, die labile Identität der Vertreter einer um ihre gesellschaftliche Reputation kämpfenden Gruppe zu stützen«. Die Individualfreundschaft sei stets als Funktion einer Identitätsbildung innerhalb der Gruppe zu sehen (S. 78). Als Beispiele aus dem 18. Jahrhundert werden Briefe von Möser, Heinse, Rabener, Merck und Jacobi gewählt.

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Die Studie von Achim Aurnhammer über den »Lorenzo-Orden. Ein Kult empfindsamer Freundschaft nach Laurence Sterne« ist einer der Glanzpunkte des Sammelbandes. Die Zeugnisse für diesen empfindsamen Orden sind spärlich und überaus verstreut. Umso erstaunlicher ist es, wie viele Details der Verfasser zusammenfassen konnte. Er vermag die Chronologie des Ordens zu rekonstruieren, dessen Konzeption von empfindsamer Freundschaft und die Veränderungen dieses Konzepts zu skizzieren. Ausführlich wird die »Stiftungsurkunde«, Johann Georg Jacobis offener Brief an Gleim vom April 1769, analysiert. Durch eine Fülle von Material lässt sich die prozessuale Wandlung des Ordens verfolgen. Erklärt wird auch, warum dieser empfindsame Freundschaftskult nach Sternes Vorbild so schnell ein Ende fand. Schließlich gab es nur noch Äußerungen des Spotts und Parodien – der Orden war eine Übergangserscheinung, die wie die Empfindsamkeit selbst in kurzer Zeit in Empfindelei und Sentimentalität ausartete. Dankenswerterweise ist im Appendix der Brief Jacobis an Gleim nach dem ersten Druck und im Vergleich mit zwei weiteren Druckfassungen in Jacobis Sämtlichen Werken zu finden.

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Walter Hettche widmet sich der »Geselligkeit im Göttinger Hain«. Dieser Aspekt sei in der bisherigen Erforschung des Dichterbundes wenig beachtet worden. Vor allem die poetischen Implikationen möchte der Verfasser herausarbeiten, die gemeinsame Arbeit der Hainbündler an ihren dichterischen Produktionen und die Inszenierung von Geselligkeit in Briefen, Urkunden und Gedichten. So werden auch die empfindsamen Aspekte deutlich, wenn die Gefährdung des Freundschaftsbundes bedacht und formuliert wird – so etwa in Höltys Gedicht An meine Freunde vom 12. März 1773. Wichtig ist der Nachweis der Inszenierung, der in allen Äußerungsformen eine Rolle spielt. Hettche hört aus dieser geselligen poetischen Praxis einen Vorklang der frühromantischen »Sympoesie« heraus.

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In der Reihe der Studien zur Geselligkeit und empfindsamen Freundschaft ist der Beitrag von Ferdinand van Ingen, »Der Liebesabschied zwischen Zärtlichkeit und Sentimentalität«, nicht optimal platziert. Gewiss ist das Motiv des Liebesabschieds in literarischer Formulierung vorzüglich geeignet, empfindsames Verhalten zu beschreiben. Dazu wählt der Verfasser vor allem den Liebesabschied zwischen Werther und Lotte. In differenzierten Interpretationen werden die wichtigsten Szenen beleuchtet. Der Ossian-Komplex wird berücksichtigt, wie auch das Verfallensein Werthers an die »Droge Literatur«. Am Ende verweist der Verfasser noch auf literarische Abschiedsszenen bei Günther, Cronegk, Klopstock, Hölty und Lenz. Wichtig ist der Hinweis am Ende, dass die literarische Evokation des Liebesabschieds leicht übersteigert wird und damit der Empfindelei verfällt.

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Mit der Studie von Barbara Becker-Cantarino ,»Reliquien empfindsamer Freundschaft: Sophie La Roche, Julie Bondeli und die Schweiz«, wird die Reihe der Untersuchungen zum empfindsamen Brief, die mit Robert Seidels Arbeit begann, fortgeführt. Sie versteht die Briefe, die früh zwischen den beiden Autorinnen gewechselt wurden, als ›Reliquie‹. Die Verfasserin konzentriert sich auf den Geschlechterdiskurs, die Ritualisierung der Freundschaft und das Ineinander von Geselligkeit und Literatur nach 1750. Der Zeichensprache empfindsamer Freundschaft zwischen den beiden Frauen gilt zunächst die Aufmerksamkeit. Dabei wird die Perspektive von La Roche eingenommen. Ein weiterer Untersuchungsschritt gilt dem Zusammenspiel von Freundschaft und Geschlechterpolitik in Sophies früher Freundschaft mit Wieland und dessen Zürcher Freunden Zimmermann und Schinz. Der Inszenierungscharakter der Freundschaft Sophies mit der Verlobten von Schinz, Barbara Meyer, durch Wieland wird betont. Die Untersuchung kann durch die Analyse dieses Briefwechsels zahlreiche neue Details der empfindsamen Briefkommunikation herausarbeiten.

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Auch Eda Sagarra untersucht Briefe: »Zur Kultur der Umgangsformen junger Frauen in der Aufklärung: Therese Heynes Jugendbriefe«. Die Analyse dieser Briefe aus der Jugendzeit Therese Hubers, geb. Heyne, von 1774 an bis zur Heirat mit Georg Forster im September 1785 zeigen verschiedene Tonlagen der empfindsamen Briefschreiberin. Auch hier wird ein bisher übersehenes Briefkorpus erstmals zur Differenzierung unserer Kenntnis vom empfindsamen Brief ausgewertet. Zunächst werden Briefe an den Vater, dann an Freundinnen und schließlich an junge Männer analysiert. Zahlreiche Aspekte aus dem Alltags- und Gefühlsleben einer bürgerlichen Frau ihrer Zeit kommen zur Sprache. Die Briefe sind u.a. Beiträge zur Emanzipationsdebatte, zur empfindsamen Freundschaft und zur Intertextualität.

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Kritik der Empfindsamkeit

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Marie-Theres Federhofer untersucht einen einzelnen Text unter dem Aspekt von »Persiflage. Wielands Konzept einer ›antisentimentalischen‹ Literatur am Beispiel des ›Neuen Amadis‹«. Wieland hat dieses Werk noch in Biberach 1768 begonnen, erst in Erfurt vollendet, 1771 publiziert und in revidierter Fassung in die Gesamtausgabe 1794 aufgenommen. Er hat sein Versepos wie manchen anderen Text als »Korrektiv und Therapeutikum schwärmerischer Empfindsamkeit« (S. 191) verstanden. Der Neue Amadis, der in der Wieland-Forschung kaum Beachtung fand, gehört so in die Reihe der sogenannten »Schwärmerkuren« Wielands. Die methodisch vor allem auch durch die Klärung des Terminus ›Persiflage‹ im Deutschen verdienstvolle Untersuchung stützt sich auf Arbeiten von Preisendanz und versucht sie im Hinblick auf Inter‑ oder Transtextualität zu erweitern. Die Verfasserin kommt zu dem Ergebnis, dass Wieland in die Diskurse der Empfindsamkeit einen persiflierenden Ton eingeschrieben habe, der unterhaltsam und geselligkeitsstiftend gewesen sei.

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François Genton schließt sich in der Thematik am ehesten dem Beitrag Ferdinand van Ingens an, indem er sich den »Weinenden Männer[n]. Zum Wandel der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert« zuwendet. Er hat damit ein Sujet gewählt, das schon länger der Bearbeitung würdig gewesen wäre. Über Klopstocks »menschenfreundliche Tränen« und Voltaires satirisches »gräßliches Lächeln« führt seine Untersuchung über die Tränen Rousseaus zu Goethe und Lenz.

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Dieter Martin untersucht »Pygmalions Glück und Krise: Ein Wunsch- und Warnbild empfindsamer Liebe«. Es ist zu begrüßen, dass endlich dem Pygmalion-Motiv in der französischen und deutschen Erzählliteratur der Spätaufklärung, seinem Charakter als »Bild empfindsamer Liebe« die ihm zukommende Bedeutung eingeräumt wird. Mit bewundernswerter Kenntnis der französischen Literatur der Zeit (Restif de la Bretonne, Baculard d’Arnaud) und dem subtilen Vergleich mit Jacobis Woldemar liefert der Verfasser eine empfindsame Motivgeschichte. Sie ist mit der Pygmalionsfigur zugleich Wunschbild und Warnbild empfindsamer Liebe.

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Elena Agazzi umreißt das Thema »Die Alpen-Idylle im deutsch-dänischen Freundeskreis um 1800 zwischen literarischer Tradition und Krise des Genres« auf wenigen Seiten. Sie geht aus von der Idyllenkritik Friedrich Schlegels und versucht zu zeigen, dass Matthisson, zentrale Figur des deutsch-dänischen Kreises, der sich am Ende des 18. Jahrhunderts in der Schweiz um Mme. de Staël gebildet hatte, eine letzte Erneuerung der Idylle versucht habe. Zu Matthissons Kreis gehörte die deutsch-dänische Dichterin Friederike Brun und der bedeutende Schweizer Aufklärer Karl Viktor von Bonstetten. Außer den idyllischen Versuchen von Friederike Brun wendet sich die Verfasserin am Ende auch Gedichten von Jens Baggesen zu, der noch einmal die Alpenlandschaft idyllisierend evoziert hat. Allerdings bricht das Idyllenmodell nun zusammen. Die Gattung hat sich am Ende des 19. Jahrhunderts nur als Idee eines sorglosen und freien Lebens gehalten. Mit einem Hegel-Zitat, worin die Idylle als weit von der Moderne entfernt abgewertet wird, schließt die Arbeit.

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Klassik und Empfindsamkeit

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Im besten Sinne als ›letztes Wort‹ des Kolloquiums-Bandes ist die Abhandlung von Rüdiger Nutt-Kofoth über »Weimarer Klassik und Empfindsamkeit – Aspekte einer Beziehung. Mit einigen Überlegungen zum Problem von Epochenbegriffen« am Ende des Sammelbandes platziert. Der Verfasser untersucht, welcher Stellenwert der Empfindsamkeit im Kontext der Klassik als Epoche oder periodische Tendenz eingeräumt wird. Das Fehlen einer Reflexion über diesen Zusammenhang motiviert ihn, selbst auf einige Zusammenhänge zwischen beiden Phasen der Literatur hinzuweisen. Mit dem zentralen Begriff des ›Herzens‹ kann er, ausgehend von Gellert, auf überraschende Verbindungen zu Goethe, v.a. zur Iphigenie, aber auch zu weiteren Texten bis zu Tasso verweisen. Auch bei Schiller (Wallenstein) lassen sich entsprechende Korrespondenzen (Ethik des Herzens) finden. So wird das Humanitätsideal der Klassik als Fortführung der empfindsamen Ethik verstanden. Die Analyse kommt zu dem Schluss, dass »Verzahnungen und Verflochtenheiten der das 18. Jahrhundert bestimmenden literarischen Bewegungen wie Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang oder Klassik« (S. 268) inhaltlich und zeitlich sehr stark sind. Wichtig sind die Überlegungen, wie sich solche Zusammenhänge terminologisch fassen ließen, ohne einer gewaltsamen Unifizierung zu erliegen. Gleichzeitig wird eine Profilierung der Spezifika solcher kleineren literarhistorischen Zeiträume gefordert, mit welchen es die Literaturgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu tun hat. Es geht nicht um den Nachweis von Diskontinuitäten, sondern um die »Mehrdimensionalität« literaturgeschichtlicher Prozesse.

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Fazit

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Obwohl die Herausgeber mit neuen methodologischen Paradigmen recht harsch umgehen und die »systemtheoretischen« oder »diskursanalytischen Ansätze« der späten achtziger und frühneunziger Jahre als »Zwischenspiel« deklarieren, ist es doch bedauerlich, dass eine Auseinandersetzung mit neueren Ansätzen (Wegmann, Koschorke) nicht stattfindet. Zumindest wäre gelegentlich Zustimmung zu oder Kritik an einer diskursanalytischen oder mediologischen Darstellung der Empfindsamkeit sinnvoll gewesen. Warum muss die literaturwissenschaftliche Diskussion immer wieder abbrechen oder weniger genehme Positionen ausgrenzen? Es ist gewiss erfreulich, dass in mehreren Arbeiten das neue Paradigma der Kulturwissenschaft insofern Früchte trägt, als es über ältere sozialhistorische Modelle hinausführt. Bei der Konzeption der Tagung hat man aber offenbar darauf verzichtet, intermediale und interdisziplinäre Arbeiten einzuwerben. Die bildende Kunst, der Garten des 18. Jahrhunderts, das Singspiel, die empfindsame Musikkultur sind hier so wenig repräsentiert wie eine intensive Beschäftigung mit der empfindsamen Ästhetik. Aspekte der für die empfindsame Tendenz so wichtigen Rezeption der kanonischen empfindsamen Texte, Wandlungen des Lesers oder des Zuschauerverhaltens hätten sehr gut in dieses Kolloquiumsprogramm gepasst. Schade ist es auch, dass zum Drama nur gelegentlich etwas gesagt wird. Aber auch dieser Mangel entspricht einer gegenwärtigen Distanz zur Gattungspoetik.

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Alles in allem stellt der Sammelband eine vielseitige Bereicherung unseres Wissens über die Empfindsamkeit dar. Erfreulich sind die zahlreichen neuen Quellen, die, vor allem in Briefwechseln, hier für die empfindsame Thematik entdeckt worden sind. Auch die neuen Blicke auf die Motivgeschichte sind zu begrüßen. Am meisten überzeugen – auch im Hinblick auf eine behutsame methodologische Innovation – die Untersuchungen, die besonders konsequent als kulturwissenschaftliche konzipiert sind. Dies gilt für die Arbeit von Christian von Zimmermann zu Trauertexten, für die Studie von Achim Aurnhammer zum Lorenzo-Orden, für die Untersuchungen von Barbara Becker-Cantarino und Eda Sagarra zu Briefwechseln und Dieter Martins Motivgeschichte des empfindsamen Pygmalion. Dankenswerterweise erleichtert ein Namenregister die Benutzung des sorgfältig redigierten Bandes.

 
 

Anmerkungen

Vgl. zu seinem Konzept von »Irrationalismus« Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. I. Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 23 f.   zurück
Vgl. auch Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Tendenzen der Forschung aus der Perspektive eines Betroffenen. In: Aufklärung 13 (2001), S. 307–338. Rüdiger Nutt-Kofoth nennt auf S. 264 (Anm. 33) meine Darstellung »parteiisch« (=parteilich?). Wie anders soll sich ein »Betroffener« äußern?   zurück