Dirk Baldes

E.T.A. Hoffmann als Adept der frühromantischen Poetik?




  • Olaf Schmidt: »Callots fantastisch karikierte Blätter«. Intermediale Inszenierungen und romantische Kunsttheorie im Werk E.T.A. Hoffmanns. (Philologische Studien und Quellen 181) Berlin: Erich Schmidt 2003. 272 S. Kartoniert. EUR 39,80.
    ISBN: 3-503-06182-7.


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Voraussetzungen und Ansatz

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Das wissenschaftliche Interesse an romantischer Literatur ist derzeit sehr groß. Dies ist keineswegs ein Zufall. Vielmehr beruht die wachsende Zahl an Publikationen darauf, dass zentrale Denkmodelle der Epoche den heutigen modernen sehr ähnlich sind. Interdisziplinarität und Intermedialität – heute wichtige Begriffe fächerübergreifender, kulturwissenschaftlicher Forschung – gehören im weitesten Sinne schon in der Romantik zu den formgebenden Prinzipien der literatur- und kunsttheoretischen Programmatik. Die Dynamisierung der Reziprozität universalpoetischer Experimente ist also damals wie heute sehr in Mode. Die Affinität moderner methodischer Analysekategorien mit traditionellen romantischen Weltdeutungsmustern bietet somit ein völlig neues Interpretationspotenzial.

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Exakt an dieser Nahtstelle setzt Olaf Schmidts Dissertation über Intermediale Inszenierungen und romantische Kunsttheorie im Werk E.T.A. Hoffmanns an. Unter ›Intermedialität‹ versteht er dabei »grundsätzlich das Zusammenspiel, also die gegenseitige Bezugnahme, Beeinflussung und Nachahmung verschiedener Medien« (S. 12). Bei seinen Überlegungen verzichtet er jedoch bewusst auf die gesamte Breite der interdisziplinären romantischen Kunstauffassung, weshalb er auf die für Hoffmann so wichtigen musikalischen Aspekte und die daraus entstehenden Konsequenzen für das Gesamtwerk nicht näher eingeht.

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Gegenstand der Untersuchung, dies wird schon durch einen Blick in das Inhaltsverzeichnis deutlich, ist ausschließlich eine Bild-Text-Korrelation in Hoffmanns Œuvre. Die literarischen Quellen, auf die er sich bei seinen Überlegungen im Wesentlichen stützt, sind – was die Romantik im Allgemeinen betrifft – Wackenroders und Tiecks Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, August Wilhelm Schlegels Kunstdialog Die Gemählde und dessen Flaxmann-Aufsatz sowie Friedrich Schlegels Gemäldebeschreibungen in der Europa und, was Hoffmann im Besonderen angeht, dessen Callot-Aufsatz zu Beginn der Fantasiestücke. Obwohl Schmidt explizit an dieser (historisch vorgezeichneten) bimedialen Beziehung von bildender Kunst und Literatur interessiert ist, wären zumindest auch einige musikästhetische Überlegungen wünschenswert gewesen – zumal es Schmidt nicht zuletzt auch um den Nachweis einer sogar im Titel angesprochenen Applikation bzw. Konstruktion von »Kunsttheorie« bei Hoffmann geht.

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Schmidt sieht in Hoffmanns Umgang mit Text und Bild – dies ist zugleich die Zentralthese der Arbeit – eine Auseinandersetzung mit den frühromantischen Postulaten zu Rezeption und Produktion von Kunst realisiert, woraus nicht nur eine »Fortschreibung« der Schlegel’schen ›progressiven Universalpoesie‹ resultiere, sondern ebenso eine ästhetische Konzeption im Hinblick auf das eigene Kunstschaffen.

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Dabei ist zu prüfen, inwiefern tatsächlich von einem theoretischen Anspruch und einer Applikation frühromantischer Paradigmen bei Hoffmann die Rede sein kann. Denn in der Forschung blieben die Beziehungen des Autors zur Frühromantik tendenziell bisher eher unbeachtet. Schmidt will nachweisen, dass sich bei Hoffmann früh- und spätromantische Weltdeutungsmuster nicht so sehr voneinander unterscheiden, wie üblicherweise vermutet wird; sogar Hoffmanns letzte Erzählung Des Vetters Eckfenster, die gemeinhin bereits als Übergang zum realistischen Schreiben gedeutet wird, sieht Schmidt noch im Kontext der sich auf die Frühromantik beziehenden intermedialen Ästhetik des Autors.

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Inhaltliche Konzeption

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Die Untersuchung ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten Kapitel beschäftigt sich Schmidt mit der geschichtlichen Entwicklung der »Wort-Bild-Problematik«, worin er zunächst die grundsätzliche Divergenz der Wertschätzung von Malerei und Dichtung in allen Entwicklungsphasen hervorhebt. Das »Verhältnis zwischen den Zeichensystemen [sei] im Laufe der Geschichte zwischen dem Ideal einer strikten Trennung der Künste und demjenigen ihrer Verschmelzung hin- und hergependelt« (S. 15). Habe sich die Malerei in der italienischen Renaissance weitgehend von der Dichtkunst emanzipieren und in deren Folge zu einem ähnlich hohen Ansehen kommen können, so sei mit der »Auflösung des Nachahmungspostulats und der Tendenz zur Subjektivierung« im 18. Jahrhundert der Weg frei zu einer »Aufwertung des ›inneren Bildes‹ als Produkt der ›produktiven Einbildungskraft‹«(S. 29).

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Das zweite Kapitel konzentriert sich auf »Theorie und Praxis der Bild-Text-Intermedialität in der Romantik«. Dabei differenziert Schmidt zunächst unterschiedliche Rezeptionsmöglichkeiten von Kunst (Wackenroder’scher Kunstenthusiasmus vs. Schlegel’sche rationale Kunstkritik), durch die der »romantische Blick« (S. 51) geschult werden müsse. Denn erst durch die produktive Rezeption fremder Kunst sei eigene Kunstfertigkeit möglich. Das »Sehen« werde – im Zuge einer »romantischen Neukonzeption des Blicks« (S. 49) und einer Konzentration auf den ›inneren Blick‹ – quasi »spiritualisiert« und leiste damit einer »Entmaterialisierung des Mediums Bild« (S. 54) Vorschub. An dieser Stelle verweist Schmidt zwar eindringlich auf Hoffmanns »serapiontisches Prinzip«, das als Applikation dieses frühromantischen Postulats gelte, nimmt aber leider hier und an späterer Stelle, wenn es konkret um den prozessualen Aspekt von Hoffmanns Kunstschaffen geht, nicht mehr Bezug auf Peter von Matts Actus-Opus-These. 1 Gerade die durch Kunstrezeption evozierte »Präformation« 2 des eigenen Kunstwerks als ›inneres Bild‹ wäre damit einsichtig zu verbinden gewesen.

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Im dritten Kapitel nähert sich Schmidt konkret den ästhetischen und poetologischen Paradigmen E.T.A. Hoffmanns. Seine Hypothese lautet, Hoffmann habe durch eine »konsequente praktische Umsetzung der Schlegel’schen ›Poesie der Poesie‹«(S. 85) die ›progressive Universalpoesie‹ fortgeschrieben. Es ist sicher nicht ganz falsch, den ›Hoch- oder Spätromantiker‹ Hoffmann auch in mancher Hinsicht als Adepten der Frühromantik zu bezeichnen. Gerade im reziproken Verhältnis von medialer Rezeption und Produktion von Kunst rekurriert er, wie Schmidt vortrefflich zeigen kann, durchaus auf die frühromantischen Paradigmen. Auch die gelegentliche Verortung seiner Geschichten in mittelalterlichen oder zeitenthobenen Fiktionsräumen verweist darauf – als Beispiel sei nur das schon für Novalis so wichtige Atlantis und dessen Verklärung am Ende des Goldnen Topfs genannt.

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Allerdings gibt es auch Texte, die Hoffmanns Distanzierung von den (zwischen 1809 und 1822 obsoleten) frühromantischen Tendenzen – nicht nur in stofflicher, sondern gerade in methodischer Hinsicht – deutlich kennzeichnen. So sind die detaillierten Beobachtungen in der letzten Erzählung Des Vetters Eckfenster, die Schmidt noch im Kontext der »Fortschreibung der ›progressiven Universalpoesie‹«sieht (vgl. S. 138 ff.) und als »Callots Manier« (S. 140) deklariert, darstellungstechnisch sicher ebenso als Antizipation realistischer Beschreibungsmodelle zu interpretieren. Dieser Gegensatz wird nicht entsprechend seiner Bedeutung diskutiert.

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Im Callot-Aufsatz, aus dem Schmidt Hoffmanns Ästhetik rekonstruiert, formuliere der Autor eine eigene Poetik, die nicht nur für die nachfolgenden Fantasiestücke gelte, sondern sein gesamtes Werk umfasse. So verstehe er sich quasi als Übersetzer, der das gegebene Bildmaterial analog in Dichtkunst übertragen müsse (vgl. S. 123 f.). Seine »Bezugnahme auf Callot« und dessen Bildkunst diene allerdings »nicht allein dazu, die eigene Erzählweise zu legitimieren [...], sie ist auch eine Rezeptionsanweisung für die Leser der Hoffmannschen Texte« (S. 93). Schmidts Folgerung, dass sich »Intermedialität [...] bei Hoffmann nicht primär auf der Oberfläche seiner Werke« abspiele, sondern »sich in der Phantasie des Rezipienten ereignen« (S. 108) solle, ist im Grunde nicht neu, sondern wird bereits von Peter von Matt angedeutet.

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Hoffmanns »Fortschreibung der ›progressiven Universalpoesie‹«drücke sich durch eine »Neuauflage frühromantischer Poetologie« aus, die »in der Neukombination verschiedener ästhetischer Entwürfe« bestehe (S. 144). Bei der Rezeption von Kunst sei also nicht allein »deren Integration in das eigene Kunstschaffen« relevant, sondern ebenso der Rekurs auf weitere »Bildimpressionen und Lektüren« (S. 150). Diese Neukombination erweise sich als »intertextuelles Spiel« (S. 153).

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Im vierten und letzten Kapitel geht Schmidt auf »Formen der Bild-Text-Intermedialität bei Hoffmann« ein, wobei er grundsätzlich zwischen drei verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten differenziert: Werden bei der »Visualisierung erzählerischer Szenen« nur »einzelne Bildeindrücke erzählerisch wiedergegeben«, so dienen bei der »Narrativierung von Gemälden« »komplette Bilder als Motive und Vorlagen Hoffmannscher Erzählungen«. Die »bimediale Komposition« (S. 174) hingegen zeichne sich darin aus, dass die dem Text zugrunde liegenden Bilder mitabgedruckt werden. Des weiteren kann Schmidt nachweisen, dass Hoffmann nicht nur mit konkreten Bildvorlagen arbeitet, sondern sich auch deren assoziativer Ausstrahlung bedient. So rufe bereits das bloße Erwähnen eines bekannten Malernamens beim Rezipienten eine ganz bestimmte Assoziation hervor, die gleichsam beim Lesen und beim Gestalten des ›inneren Bildes‹, auf das es Hoffmann vornehmlich ankommt, mitgedacht werde (vgl. S. 177), wodurch ein »imaginäres neues Bild« entstünde (S. 186). Umgekehrt könne aber auch eine poetische Bildbeschreibung die Rezeption eines ganz konkreten Bildes – Schmidt nennt Hummels Bild zur Fermate als Beispiel – maßgeblich beeinflussen (vgl. S. 171 f.).

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Exemplarische Veranschaulichung

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Abschließend demonstriert Schmidt anhand zweier Beispieltexte die konkrete Umsetzung dieser impliziten Kunsttheorie Hoffmanns. Für Doge und Dogaresse habe Hoffmann sowohl auf die historischen Fakten, die ihm Le Bret lieferte, als auch auf das der Erzählung hauptsächlich zugrunde liegende Gemälde von Kolbe zurückgegriffen (vgl. S. 192 f.). Im Wechselspiel beider Quellen ergebe sich schließlich eine Geschichte, die »gleichermaßen erfunden und authentisch« wirke (S. 200). Vor allem aber reflektiere die Novelle die Bedingungen des »poetischen Prinzips der subjektiven Nachahmung«. Damit werde deutlich, wie sich eine »Transformation eines Bildes in Text« vollziehen könne (S. 198). In der »bimedialen Komposition« der Prinzessin Brambilla hingegen zeige sich, dass die Callot’sche Intention des »balli«-Zyklus’ für die »erzählerische Umsetzung« bei Hoffmann irrelevant sei (S. 217). Dessen Text sei einerseits Interpretation bzw. Improvisation (vgl. S. 224) der Bilder, andererseits aber interpretierten die Bilder den Text (vgl. S. 213).

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In der prinzipiellen Diskussion um den Vorrang der Künste, die auch von Schmidt ausführlich dokumentiert wird, hätte sich als literarischer Beitrag Hoffmanns eine eingehende Betrachtung von Meister Martin der Küfner gelohnt. – Wird doch gerade dort die Frage von Kunst und (Kunst-)Handwerk, von der Trennung und schließlichen Wiedervereinigung von Malerei, Gesang, Goldschmiedearbeit und Küfnerhandwerk, thematisiert. Andererseits liegt auch diesem Text – wie Schmidt mehrfach erwähnt, ein konkretes Bild zugrunde, so dass sich eine Untersuchung von Intermedialitätsbeziehungen in mehrfacher Hinsicht angeboten hätte.

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Fazit

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Schade nur, dass die sonst interessante Arbeit nicht mit der notwendigen Akribie Korrektur gelesen wurde. Mindestens 25 Fehler, meist inkorrekte Flexionsformen, sind übersehen worden 3 – zu viele für eine seriöse Publikation mit wissenschaftlichem Anspruch. Eine weitere Unachtsamkeit hat im Literaturverzeichnis aus Wolfgang Promies einen »Walter« Promies werden lassen (S. 258).

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Dennoch sprechen die vielen formalen Unachtsamkeiten und die an einigen Stellen zu beobachtende Defizienz des methodischen Ansatzes nicht für eine grundsätzliche Abwertung der Arbeit. Immerhin kann Schmidt durch exakte Beobachtungen und Analysen zeigen, dass sich der Autor in produktiver Weise mit den Postulaten der frühromantischen Poetik auseinandergesetzt und sein eigenes Werk nicht als Neuansatz, sondern als Fortschreibung der ›progressiven Universalpoesie‹ verstanden hat.


Dirk Baldes, M.A.
Universität des Saarlandes
FR 4.1 Germanistik
Postfach 151150
DE - 66041 Saarbrücken

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Ins Netz gestellt am 03.03.2005

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. phil. habil. Johannes Endres. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Dirk Baldes: E.T.A. Hoffmann als Adept der frühromantischen Poetik? (Rezension über: Olaf Schmidt: »Callots fantastisch karikierte Blätter«. Intermediale Inszenierungen und romantische Kunsttheorie im Werk E.T.A. Hoffmanns. Berlin: Erich Schmidt 2003.)
In: IASLonline [03.03.2005]
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Anmerkungen

Vgl. Peter von Matt: Die Augen der Automaten. E.T.A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst. Tübingen: Niemeyer 1971, Kap. 1. Nach dieser These bildet Hoffmann sein Werk vor seiner schriftlichen Fixierung aus einem »chaotisch-lebendigen Zentrum der produktiven Einbildungskraft« als imaginären, »phantastische[n] Prototyp« (S. 30) aus. Von Matts Buch wird nur zweimal erwähnt und im Kontext von Hoffmanns Kunstschaffen leider nicht entsprechend diskutiert.   zurück
Ebd., S. 9.   zurück
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