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Mit Luhmann Musil interpretieren

  • Ingrid Berger: Musil mit Luhmann. Kontingenz - Roman - System. (Musil-Studien 34) München: Wilhelm Fink 2004. 269 S. Kartoniert. EUR (D) 32,90.
    ISBN: 3-7705-4048-4.
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Systemtheorie als Literaturtheorie

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Luhmann hat seine Systemtheorie immer als soziologische Theorie gesehen, auch als die Theorieentwicklung schon längst über soziologische Fragen im engeren Sinne hinausgegangen war. Gerade in der Literaturwissenschaft ist in den 1990er Jahren die Systemtheorie umfassend rezipiert und diskutiert worden. Wie breit die Systemtheorie literaturwissenschaftlich indessen auch rezipiert wurde, so wenig bestand zugleich Klarheit darüber, welches Theoriedesign sie in der Literaturwissenschaft haben sollte, oder anders gewendet: wie Systemtheorie zugleich als Literaturtheorie zu konzipieren war. Zwei Literaturbegriffe standen sich gegenüber: Literatur als Sozialsystem und Literatur als Symbolsystem. Aufgrund der soziologischen Ausrichtung, aufgrund der Grundbegrifflichkeit der Systemtheorie, zielten einige der literaturwissenschaftlichen Adaptationen der Systemtheorie zunächst auf die Idee des sozialen Systems. Das philologische Interesse an Interpretation ließ demgegenüber eine Systemtheorie der Literaturwissenschaft, die sich auf das Symbolsystem konzentrierte, eher als Desiderat erscheinen.

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Fast scheint es, als sei die vorliegende Arbeit, deren erste Fassung 2003 als Dissertation im Fachbereich Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eingereicht worden ist, eine späte Einlösung dieses Desiderats. Denn im Grunde genommen geht es dieser Arbeit um eine Interpretation des Romans mit Hilfe der Systemtheorie, genauer: mit Hilfe bestimmter systemtheoretischer Theoriebausteine, nämlich der Kontingenz und der Beobachtung. So heißt es programmatisch: »Meine Untersuchung versteht sich als Beitrag der Versuche, den Roman im Sinne Musils mit einer anderen Einstellung zur Kunst zu lesen.« (S. 17) Dass dabei noch ein hermeneutisches Interesse an der Textauslegung mitschwingt, verrät die fast schon an die Autorintention erinnernde Formulierung »im Sinne Musils«.

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Parallele Lektüren

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Dennoch geht es nicht allein um eine neue Interpretationsvariante; vielmehr soll die Systemtheorie genutzt werden, um Strukturen des Romans herauszuarbeiten, die insbesondere dann hervortreten, wenn sie als literarische Umsetzungen der genannten systemtheoretischen Konzepte rekonstruiert werden. Praktisch bedeutet dies, dass die Verfasserin Musil und Luhmann geradezu stringent parallel liest und darauf achtet, wie Elemente bei Musil sich bei Luhmann und umgekehrt wiederfinden lassen. Doch auch dieses Unternehmen ist komplexer, als es hier vielleicht anklingt. Die Verfasserin fährt an das obige Zitat direkt anschließend fort: »Sie [die Untersuchung] konstituiert sich durch den Vergleich von Musils und Luhmanns Texten, der in thematischer, methodischer und theoretischer Hinsicht durchgeführt wird.« (S. 17)

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Dementsprechend hat die Arbeit zwei Teile. In einem ersten Teil werden die grundsatztheoretischen und insbesondere literaturtheoretischen Vorklärungen getroffen. Hier liefert die Verfasserin eine sehr kompakte systemtheoretische Literaturtheorie nach, die sie jenseits des alten Streites um Sozial- und Symbolsystem Literatur nicht nur als Weltform, sondern auch als Element des Funktionssystems Kunst und schließlich ebenso als Kommunikationsmedium konzipiert. Stillschweigend und schlafwandlerisch sicher geht die Verfasserin über die genannten Kategorien hinweg und zeigt dabei eine eigentümliche Leistung der Systemtheorie, nämlich als Differenztheorie immer schon zwischen den Differenzen wie Sozial- und Symbolsystem vermitteln zu können. Schade ist nur, dass die Verfasserin hier nicht den Anschluss an die genannten Theoriedebatten sucht. Das hätte es dem systemtheoretisch interessierten Literaturwissenschaftlern und Literaturwissenschaftlerinnen erleichtert, diese Leistung zu durchschauen, ja überhaupt zu erkennen, und es hätte geholfen, gelegentlich allzu schematische Rekonstruktionen etwas weiter zu differenzieren, zum Beispiel, was den zentralen Baustein einer Medium / Form-Differenz angeht.

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Der Roman als Beobachtung von Kontingenz

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Dennoch leistet diese Konzeption etwas, was im ersten Teil theoretisch fundiert und im zweiten Teil in der Lektüre von Musil mit Luhmann und umgekehrt praktisch durchgeführt wird und worin der eigentliche und durchaus beeindruckende innovative Beitrag der vorliegenden Arbeit – vielleicht nicht so sehr zur Musil-Forschung, wohl aber – zu einer produktiven Verhältnisbestimmung von Literatur und Systemtheorie besteht. Ich setze wiederum obiges Zitat fort: »Maßgeblich für die Durchführung ist der funktionale Zusammenhang von Kontingenz, Beobachtungen und Literatur […].«(S. 17)

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Das ist nun der springende Punkt: Die Verfasserin geht davon, dass jene zentralen Elemente wie Kontingenz und Beobachtung, die die Systemtheorie zu ihrem eigenen Theorieaufbau nutzt, gleichermaßen konstitutiv für Literatur im Allgemeinen, für Musil im Besonderen und für Musils großen Roman Der Mann ohne Eigenschaften im Speziellen sind. Am Beispiel von Musil und Musils Roman wird so deutlich gemacht, dass die ästhetische Form und literarische Gattung des Romans mit Hilfe der Systemtheorie ein Instrument der Beobachtung von Kontingenz, oder enger gefasst, ein Medium ist, das Welt in Beobachtungen gerade angesichts der Kontingenz von Beobachtung und Welt formt. Der Roman konstituiert sich als schriftliche Form der Beobachtung von Kontingenz.

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Besonders stark wird dabei – vom theoretischen Pol der Systemtheorie aus betrachtet – der Zusammenhang von Kontingenz und Beobachtung gemacht, was wiederum – vom anderen, literarischen Pol des Romans aus betrachtet – durchaus unterstützt wird. Hier scheint es geradezu eine Überschneidung zwischen literarischer und (system)theoretischer Konzeption zu geben, die nur erst auf den Begriff gebracht werden musste. Eine solche Idee liegt, wie die Verfasserin mit Blick auf die Forschung schreibt, »seit einigen Jahren gewissermaßen in der Luft« (S. 14).

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Aus dieser Vorgabe ergibt sich dann auch die Art und Weise des interpretatorischen Zugriffs auf den Roman. Dass Musil ein Autor ist, der seine literarischen Konstellationen sehr stark theoretisch und konzeptionell untermauert, ist hinlänglich bekannt. Dementsprechend greift die Verfasserin auch immer wieder auf theoretische Hinweise zurück, die sich im Gesamtwerk Musils (im essayistischen Werk und nicht zuletzt auch im Nachlass) wiederfinden lassen. Und insofern ist es durchaus richtig, dass Musils Roman einem solchen Vorhaben stark entgegenkommt. Dabei fungiert vor allem die Idee eines »Möglichkeitssinns« als Indikator von Kontingenz, die wiederum aus der Figur des Ulrich einen Beobachter par excellence macht. Als Mann ohne Eigenschaften ist er schon formal als ideale literarische Verkörperung eines Beobachters ausgewiesen, und angesichts der Kontingenz der Welt fungiert er als Beobachter von Beobachtungen, was wiederum die Interpretin zu einer Beobachtung dritter Ordnung veranlasst, die in ihrer Konzeption die konstitutive Form des Romans ausmacht.

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Musils Roman mit Hilfe der Systemtheorie zu lesen, bedeutet also, insbesondere jene konzeptionelle Schicht in besonderer Weise herauszuheben und im Gesamtzusammenhang deutlich zu machen, die Musils eigener literarisierter Weltbeobachtung zugrunde liegt. Der Systemtheorie kommt dabei eine doppelte Aufgabe zu: Zum einen dient sie dazu, wie in einem Röntgenschirm, das theoretische Gerüst von Musils Roman überhaupt erst sichtbar werden zu lassen, zum zweiten aber auch dazu, dafür eine einheitliche, den Roman weitgehend übergreifende Begrifflichkeit zu finden. Dass man als Leser bisweilen die Zitate nicht mehr eindeutig Musil oder Luhmann zuordnen kann (und sich in der Fußnote vergewissern muss), bestätigt indirekt, aber dennoch verblüffend, wie gerechtfertigt dieses Unternehmen einer parallelen Lektüre ist.

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Zugegeben, diese parallele Lektüre von Musil und Luhmann wirkt gerade im zweiten Teil, wo es um genaue Textanalysen und um feine theoretische Differenzierungen geht, bisweilen etwas langatmig, zumal man als Leser das Argumentationsziel aus den Augen verlieren kann. Über weite Strecken funktioniert sie überraschend gut. Dennoch finden sich aber auch Passagen, wo die Übereinstimmung eigentlich aufhört und die Systemtheorie mehr oder weniger gewaltsam zum Text hingebogen wird, zum Beispiel, wo es um das Geschlecht eines Beobachters geht (S. 231 f.), wo doch der Beobachter, streng genommen, ein geschlechtsloses Konstrukt ist, das keineswegs personalisiert und subjektiviert werden darf. Auf diesem Wege wird man die »sexuelle Differenz« schwerlich systemtheoretisch konzeptualisieren können, auch wenn unbestritten ist, dass Geschlechtlichkeit als beobachtungsleitende Kategorie durchaus bedeutsam, wenn nicht sogar konstitutiv ist – die Verfasserin spricht hier von »geschlechtsspezifischen Eigenheiten« der Information (S. 232) .

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Fazit

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Diese Frage nach dem Geschlecht des Beobachters taucht am Ende der Textanalyse auf, dort, wo es um die Form des Beobachters geht, und dort, wo aus Gründen der Dramaturgie des Interpretationsganges auch jene – fast möchte man sagen – inzestuös fundierten Utopien aufscheinen, die sich aus der Geschwisterliebe zwischen Ulrich und Agathe ergeben und auf die der Roman selbst zusteuert. Insofern stellt sich gerade an diesem Punkt die Frage nach der Leistungsfähigkeit der hier entworfenen Variante einer systemtheoretischen Literaturtheorie und Lektüreform. Die Verfasserin resümiert selbst: »Es sind die im Roman ästhetisierten Formen und die in der Systemtheorie ›bewusst‹ wiederholten Differenzierungsprozesse des Bewusstseins, die zeigen, dass und wie Veränderungen möglich sind, dass und wie ereignisförmige Einheit hergestellt werden kann: durch Beobachten, durch Selbstbeobachtung dritter Ordnung und ebenso durch Kommunikationen.« (S. 242 f.)

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Eine solche Beobachtung dritter Ordnung wird durch einen theoretischen Standpunkt markiert. Das geschieht im Roman durch Musils Konzeptionen, über den Roman hinaus durch die Lektüre auf der Basis der Systemtheorie. An diesem Umschlagspunkt zwischen Text und Theorie wird deutlich, wie groß der Anteil ist, den die Systemtheorie als Literaturtheorie in die Konstitution des beobachteten Gegenstandes Literatur, exemplifiziert durch Musils Roman, mit einfließen lässt. Aus diesem Grunde wendet sich die Frage nach der Beobachtung des Textes sofort zurück auf die beobachtende Theorie. Die Frage ist also nicht nur: was kann man mit der Systemtheorie über den Mann ohne Eigenschaften lernen, sondern daher auch: was kann man mit dem Mann ohne Eigenschaften über die Systemtheorie lernen. Um eine solche Wechselseitigkeit kommt man nicht herum, wie es auch an der vorliegenden Arbeit deutlich wird. So konstatiert die Verfasserin: »Beide [Musil und Luhmann] stellen sich die Frage, wie Ordnung in der Gesellschaft möglich ist, die als unendlich ausdifferenzierte unendliche Paradoxien erzeugt, die mit dem Begriff der Kontingenz erfasst und diskutiert werden.« (S.244)

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Dennoch wird die Wechselseitigkeit dieser Fragen nicht mehr explizit aufgegriffen. Und das macht es schwer, die eigentlichen Ergebnisse der Arbeit wirklich genau festzuhalten. Die Arbeit bezeichnet sich zum Schluss selbst – das würde sich erst am Ende der Arbeit herausstellen – als »work in progress« (S. 239). Das ist sicherlich richtig. Aber es reicht wohl nicht aus, dies allein zu konstatieren. Dieses work in progress besteht ja gerade in der wechselseitigen Erhellung von Text und Theorie – und das ist die eigentliche Leistung des systemtheoretischen Herangehens, das diesen Umstand deutlicher als manch andere Literaturtheorie hervortreten lässt. Wer sich darauf einlässt, muss immer zweierlei zeigen: Was leistet dieses Herangehensweise für die Musil-Forschung, aber auch, was leistet sie für die Systemtheorie selbst. Auf beide Fragen hätte man am Ende einer insgesamt eindrucksvollen Arbeit stärker pointierte Antworten erwartet.