IASLonline

Problemfeld Renaissance-Dialog

  • Bodo Guthmüller / Wolfgang G. Müller (Hg.): Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance. (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 22) Wiesbaden: Harrassowitz 2004. 324 S. Gebunden. EUR (D) 79,00.
    ISBN: 3-447-05086-1.
[1] 

Dialogizität im Dialog

[2] 

Jede Untersuchung literarischer Dialoge muss sich mit einer umstrittenen Begrifflichkeit auseinandersetzen. Die Wurzeln des Problems liegen in der Rezeption Michail Bachtins. Bachtin hatte in seinen Untersuchungen zum europäischen Roman zwei Entwicklungslinien dieser Gattung bestimmt: in der ersten bedienen sich die Personen einer einheitlichen Sprache (d.h. eines soziokulturell definierten Sprachregisters), in der zweiten kommen verschiedene Sprachen vor, die in einer spannungsreichen Beziehung zueinander stehen. Diese spannungsreiche Beziehung nennt Bachtin Dialogizität. Ein Dialog, in dem die Gesprächspartner dieselbe Sprache sprechen, ist nicht dialogisch, sondern nur zweistimmig:

[3] 
Eine solche Zweistimmigkeit, die innerhalb eines geschlossenen und einheitlichen Sprachsystems und ohne authentische sozial-sprachliche Orchestrierung bleibt, kann nur als stilistisch zweitrangige Begleiterscheinung des Dialogs und der polemischen Formen bestehen 1 .
[4] 

Bachtin folgend müsste man diese nicht dialogischen (»zweistimmigen«) Dialoge von den dialogischen unterscheiden. Dabei suggeriert die Begrifflichkeit, dass Dialogizität ein Merkmal des ›wahren‹ Dialogs sein muss – Bachtin selber sagt, dass ein zweistimmiger Dialog einen stilistischen minderen Wert hat.

[5] 

Obwohl Bachtins Dialogizitätsbegriff, der für den Roman entwickelt worden war, immer wieder kritisiert wurde, beeinflusste er die Beschäftigung mit dem literarischen Dialog in Mittelalter und Renaissance. Es blieb die Frage, wie Dialogizität in Bezug auf den literarischen Dialog bestimmt werden soll. Und es blieb vor allem eine Verunsicherung: Gibt es denn also echte und unechte Dialoge? Wie sind sie voneinander zu unterscheiden?

[6] 

Dialogizität und Gesprächskultur

[7] 

Die Gefahr einer unscharfen Begrifflichkeit ist naturgemäß für eine Aufsatzsammlung besonders groß. Um so erfreulicher ist es, dass die Herausgeber der besprochenen Sammlung für Klarheit sorgten. Das Gebiet, in dem sich die folgenden Aufsätze bewegen, wurde von ihnen in der »Einleitung« (S. 7–16) klar abgesteckt. Drei Quellen seien für den Renaissance-Dialog am wichtigsten: die noch vitalen Traditionen des Mittelalters, die wiederbelebten antiken Formen und ein bestimmter Aspekt der Renaissance-Kultur, die Aufwertung der Diskussion:

[8] 
Dialog ist in der Epoche gesellschaftliches Agieren, das oft auch regelrecht inszeniert wird. Das zeigt sich im Humanistengespräch genauso wie in der höfischen Konversation. Darin liegt der Grund dafür, daß mit Bezug auf die Renaissance von einer Dialogkultur oder auch von einer dialogischen Kulturepoche gesprochen werden kann, was hinsichtlich des Mittelalters schwerlich möglich ist. (S. 7)
[9] 

Die Herausgeber stellen ebenfalls einen wichtigen Punkt klar: Diese Gesprächskultur und ihre Beziehung zum literarischen Dialog stehen in dieser Aufsatzsammlung zwar in Mittelpunkt, die so definierte Dialogizität ist aber kein notwendiger Bestandteil und kein Qualitätsmerkmal des literarischen Dialogs der Renaissance. Darauf weist eindringlich Wolfgang G. Müller (»Dialog und Dialogizität in der Renaissance«, S. 17–31, hier S. 24) hin. So bildet der Bezug Dialog – Gesprächskultur den gemeinsamen Fluchtpunkt der Aufsätze, aber die Verfasser behalten die gesamte Produktion der Zeit im Blick und gehen immer wieder auf andere Aspekte ein. Das Ergebnis ist eine so vielfältige wie homogene Aufsatzsammlung, deren roten Fäden wir nachgehen wollen.

[10] 

Die Quellen der Gesprächskultur

[11] 

Wie kam es dazu, dass die Renaissance eine »dialogische Kulturepoche« wurde? Und wie ist es möglich, eine vergangene Gesprächskultur zu rekonstruieren? Auf diese Fragen gehen mehrere Aufsätze ein.

[12] 

Wolfgang G. Müller blickt in bereits erwähntem Aufsatz zuerst auf die Lehrinhalte und Lehrmethoden der Zeit: Die Rhetorik, ein wesentlicher Bestandteil der Schulbildung, wurde vornehmlich als Argumentationstechnik vermittelt; die Kunst der Konversation nahm einen wichtigen Platz sowohl in den Sprachlehrwerken als auch in den Anstands- und Benimmlehren ein. Dazu kamen literarische Anregungen, die vom platonischen Dialog und einer sich rasch weiterentwickelnden Gattung, dem Drama, ausgingen.

[13] 

In seinem Aufsatz »Zum politischen Dialog bei den oberdeutschen Humanisten« (S. 293–317) behandelt Dieter Mertens die Gesprächskultur einer Gruppe von Humanisten, die wichtige politische Ämter innehatte. Es sind vornehmlich drei Textsorten, die Zeugnis dieser Gesprächskultur geben und hier vom Verfasser präsentiert werden: die fiktiven literarischen Dialoge (die zum Teil zum Zweck des Sprachenlernens aufgeführt wurden!), die literarischen Dialoge, die Bezug auf tatsächlich geführte Gespräche nehmen, und die Gesprächslehren. Hinzu kommen verstreute Hinweise in anderen Texten, wie Einladungen, Briefen oder Prologen. Im 15. Jh. werden in diesen Texten noch keine politischen Themen aufgenommen, erst ab 1501 kann Mertens ihr Vordringen beobachten. Die Texte, die politische Gesprächsrunden widerspiegeln und hier untersucht werden (die Sermones convivales Konrad Peutingers und das Opusculum des Michael Coccinius), haben eine Mischform, teils Dialog, teils Bericht. Der Grund dafür mag sein, so Mertens, dass solche Themen für literarische Dialoge bislang ungewöhnlich waren.

[14] 

Hinweise zur höfischen Gesprächskultur in Frankreich findet Joachim Leeker bei Marguerite de Navarre (»Dialog und Gesprächskultur im Heptaméron von Marguerite de Navarre«, S. 203–227). Zu Marguerites Zeit hat es Diskussionsrunden gegeben, ihre Mutter Louise de Savoie leitete z.B. einen Gesprächskreis von Intellektuellen. Leekers gelingt es, Interaktionsmuster in den Rahmengesprächen des Heptaméron zu erkennen, wie sie wohl in den höfischen Diskussionen auch vorkamen: die Orientierung der Gesprächspartner an den ranghöheren unter ihnen und das Abbrechen der Diskussion bei drohendem Gesichtsverlust. Diese Rahmengespräche kommentieren die Erzählungen der Personen und übernehmen gegenüber dem Vorbild Boccaccio eine neue Funktion: die moralische Belehrung. Die Rezensentin fühlt sich an die monastischen Dialoge des Mittelalters erinnert und fragt sich, ob ein Werk wie die Dialogi Gregors des Großen auf Marguerite direkt oder indirekt gewirkt hat. Dass hier die Belehrung nicht von Mönchen, sondern von Laien kommt, entspringt der evangelischen Gesinnung Marguerites.

[15] 

Theoretische Begründung und
praktische Anwendung

[16] 

Aus der zweiten Hälfte des 16. Jhs. stammen die ersten Traktate, die eine Poetik der Gattung Dialog entwerfen. In seinem Aufsatz »Zur Theorie des Dialogs im späteren Cinquecento: die Apologia dei Dialogi des Sperone Speroni (1574)« (S. 165–181) arbeitet Bodo Guthmüller die dialogischen Aspekte heraus. Bei Speroni sind die Polarisierung der Positionen und die Ergebnisoffenheit für den literarischen Dialog grundlegend, denn der Leser wird dadurch zu einer kritischen Reflexion und zur eigenen Meinungsbildung angeregt. Speroni begründet diese Förderung mit einer Differenzierung zwischen drei Formen der Erkenntnis, die er mit den drei Disziplinen Logik, Dialektik, Rhetorik in Verbindung setzt. Der Dialog ziele nicht auf die objektive Erkenntnis von Wahrheiten mit Hilfe der Logik, sondern auf die Meinungsbildung, und müsse mit den Mitteln der Dialektik und der Rhetorik die Wahrscheinlichkeit verschiedener Standpunkte ergründen. Die letzte Entscheidung soll aber beim Leser bleiben.

[17] 

Speroni begünstigt Tendenzen, die in der literarischen Produktion bereits präsent waren. Dies zeigen zwei weitere Aufsätze.

[18] 

Wolfang G. Müller analysiert in seinem erwähnten Aufsatz »Dialog und Dialogizität in der Renaissance« (S. 17–31) einen Dialog, der durch Kontroverse und Ergebnisoffenheit die Leser zur weiteren Diskussion führen soll: Thomas Morus’ Utopia.

[19] 

Sabrina Ebbersmeyer präsentiert einen der seltenen von Frauen geschriebenen Renaissance-Dialoge: »Zwischen Imitation und Subversion. Der Dialog Über die gleiche bzw. ungleiche Sünde Adams und Evas von Isotta Nogarola (1418–1466)«, S. 105–123. Isotta Nogarola bringt darin innovative Meinungen zu einem theologischen Thema vor. Wie die Verfasserin zeigt, ist dies ein gewagtes Unternehmen für eine Frau dieser Zeit. Ebbersmeyer ist der Meinung, dass die Dialogform eine strategische Funktion hat: Hier wird keine Lehrmeinung ausgebreitet, wie es in einem wissenschaftlichen Traktat der Fall wäre, sondern ein Meinungsstreit vorgeführt. Isotta ist so weniger angreifbar.

[20] 

Warum die Dialogform?

[21] 

Die Frage, warum ein Autor die Dialogform wählt, beschäftigt ebenfalls Heribert Smonlinsky, »Dialog und kontroverstheologische Flugschriften in der Reformationszeit« (S. 277–291). Am Beispiel eines Textes, Ein gesprech auff das kurtzt zwuschen eynem Christen und Juden, auch eynem Wyrthe sampt seynem Hausknecht [...], erschienen 1524 in Erfurt und 1533 in Köln, erörtert der Verfasser die Vorzüge der Dialogform für eine Flugschrift. Sie macht es möglich, eine Vielfalt von Standpunkten übersichtlich vorzuführen und beispielhaft Argumentationsstrategien für mögliche Streitgespräche der Leser zu zeigen. Die Wiedergabe tatsächlich geführter Diskussionen wird zurecht in Zweifel gezogen, zumal bei einem Text, deren Figuren stark typisiert sind und der zum Teil einen ausgeprägten lehrhaften Charakter aufweist.

[22] 

Gestörte Kommunikation

[23] 

Einige Renaissance-Schriften geben Aufschluss über die Störungen im Kommunikationsprozess. So kritisiert Petrarca scharf die kommunikative Praxis der Ärzte seiner Zeit und entwirft gleichzeitig ein Gegenmodell, wie Klaus Bergdolt (»Der Dialog mit Ärzten aus der Sicht Petrarcas«, S. 47–58) nachzeichnet. Petrarca beklagt, dass sich die Ärzte nur mit den materiellen Grundlagen der Krankheit befassten und sich wegen ihrer formalistischen Rhetorikausbildung unverständlich ausdrückten. Beides verunsichere die Patienten und sei für ihr Wohlbefinden nicht förderlich. Die Lösung liege in einer humanistischen Bildung der Mediziner, die ihnen erlauben würde, auch auf moralische Aspekte der Krankheit, des Alters, des Todes einzugehen, und je nach dem Bildungsgrad des Patienten angemessen zu reden.

[24] 

Auf die Beziehung zwischen Auftraggeber und Architekt geht Andreas Tönnesmann (»Filarete im Dialog: Der Architekt, der Fürst und die Macht«, S. 153–163) ein. Der Mailänder Hofarchitekt Filarete (Antonio Averlino, ca. 1400–1469) inszeniert in seinem Libro architettonico ein Gespräch zwischen dem Fürsten und dem Architekt, in dem letzterer als Lehrer fungiert. Dies kontrastiert mit den tatsächlichen Verhältnissen der Zeit, denn der Architekt galt nicht als Künstler, sondern als ausführender Handwerker. Tönnesmann sieht darin eine kühne Innovation, in der Filarete seinem Wunsch nach einer gesellschaftlichen Aufwertung seiner Tätigkeit Ausdruck gibt. Allerdings bleibt dabei die reiche mittelalterliche Tradition der fachbezogenen Lehrgespräche ausgeblendet, in denen der lehrende Schützling und sein lernender Fürst immer wieder inszeniert werden: Alkuin und Karl der Große, Wilhelm von Conches und Geoffrey Plantagenet, Michael von Prag und Rupert von Bayern sind einige Beispiele dafür. Man müsste der Frage nachgehen, inwieweit Filarete direkt oder indirekt von dieser Tradition inspiriert wurde.

[25] 

Die sorgfältige Inszenierung einer misslingenden Kommunikation entdeckt Gernot Michael Müller bei Alamanno Rinuccini (»›Nam quid ego priscam illam dicendi licentiam cum hodierna taciturnitate conferam?‹ Alamanno Rinuccinis ›Dialogus de libertate‹ und die Auflösung einer humanistischen Diskussionskultur in Florenz unter Lorenzo de’ Medici«, S. 125–151). Alamanno bezieht sich immer wieder auf Ciceros De oratore und setzt damit auch die Umstände, unter denen beide Dialoge stattfinden, in Bezug zueinander: die Dekadenz der Republik in Rom und in der Stadt Florenz unter der Herrschaft Lorenzos de’ Medici. Aber dieser Vergleich soll den humanistischen Leser auch auf die Unterschiede aufmerksam machen. Zu Ciceros Zeiten war ein Gespräch unter Gleichgesinnten noch möglich. Lorenzos Herrschaft hat jedoch dem offenen Meinungsaustausch ein Ende gesetzt, so dass sogar unter Freunden und außerhalb der Stadt die Verständigung unmöglich geworden ist. Detailliert und nah am Text wird diese Interpretation dargelegt.

[26] 

Eine ähnliche Kritik misslungener Kommunikation zeigt Rainer Thiel in Platons Dialog Eutydemos, in dem Socrates die argumentative Praxis der Sophisten als ausweglos entlarvt und die Kunst einer gelungenen Argumentation beispielhaft vorführt (»Aporie und Erkenntnis. Strategien argumentativen Fortschritts in Platons Dialogen am Beispiel des ›Eutydemos‹«, S. 33–45). Der Dialog soll zum Weiterdenken anregen: nur an einigen Beispielen zeigt Socrates die Fehler der Sophisten, bei anderen Argumenten soll der Leser sie entdecken. Wenn auch der Leser zuerst überrascht ist, einen Aufsatz über Platon in einem Sammelwerk über Renaissance-Dialoge vorzufinden, scheint seine Aufnahme eine richtige Entscheidung, denn immer wieder wird in den restlichen Aufsätzen die wichtige Rolle der antiken Vorbilder in der Entwicklung von Dialog und Gesprächskultur der Renaissance gezeigt.

[27] 

Ein wenig erschlossenes Forschungsfeld

[28] 

Wie soll man die Gattung Dialog für eine Zeit abgrenzen, in der die poetologische Reflexion fehlt? Entschieden wehren sich die Herausgeber der Sammlung dagegen, die Dialogizität als Definitionskriterium anzusetzen. Wenn man ein realistisches Bild des Renaissance-Dialogs gewinnen will, ist es also notwendig, die gesamte Produktion von Texten in Dialogform ins Auge zu fassen. Aber diese ist kaum erschlossen , wie zwei Aufsätze eindrücklich zeigen.

[29] 

Als Einleitung zur Untersuchung zweier Trostdialoge, die anlässlich des Todes vom Thronerben Don Juan 1497 geschrieben wurden, entwirft Dietrich Briesemeister (»Humanistische Dialoge in Spanien im Übergang zur Frühen Neuzeit«, S. 183–202) ein Panorama der Dialogliteratur auf der Iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert und zeichnet die wirkenden Einflüsse nach: das Fortleben der mittelalterlichen Tradition, die Rezeption der antiken Literatur und des zeitgenössischen italienischen Humanismus. Dabei macht er eine interessante Beobachtung: Die Dialoge der Zeit werden in der Regel ›tractado‹ genannt, die Bezeichnung ›diálogo‹ kommt zum ersten Mal 1448 vor und breitet sich erst im 16. Jh. aus, was das geringe ›Gattungsbewusstsein‹ der Dialogautoren bestätigt. Briesemeister zeigt, wie wenig bekannt eine doch schmale Dialogproduktion ist und wie viele Fragen sie aufwirft. Die Wege der Rezeption in In- und Ausland, die Variationen in der Form und der Hintergrund der Autoren kommen in seinem Aufsatz kurz zur Sprache und eröffnen Perspektiven für weitere Forschung.

[30] 

Walther Ludwig (»Formen und Bezüge frühneuzeitlicher lateinischer Dialoge«, S. 59–103) stellt sich eine noch schwierigere Aufgabe, geht es ihm doch um die gewaltige lateinische Literatur der Frühen Neuzeit. Er mahnt zurecht, dass die Forschung sich bisher auf nur wenige Dialoge gestützt und nur zu gerne auf Verallgemeinerung gesetzt habe. Es sei jedoch unerlässlich, die gesamte Produktion ins Auge zu fassen, wenn wir in Erfahrung bringen wollen, was Autoren und Publikum der Zeit als Dialog angesehen und verstanden haben. Die erste Schwierigkeit liege darin, die Schriften in Dialogform zu identifizieren, da sie nur selten (wie auch Briesemeister für die spanischen Texte beobachtete) dialogus genannt werden. Der Reichtum der Formen, der Motive, der Traditionen, die die Autoren frei kombinieren, erschwere die Erstellung einer Typologie.

[31] 

Dies ist eine Aufgabe, die in einem Aufsatz nicht zu bewältigen ist. Ludwig will hier deshalb »Bekanntes vertiefen, neue Perspektiven bieten und einen gewissen Einblick in die Entwicklungslinien und die Formenvielfalt der Dialoge geben« (S. 69). Diese Ziele erreicht er ohne Zweifel. Er bietet eine erste Sortierung in Dialoge für Schüler (colloquia zur Erlernung der Sprache, Lehrbücher in Frage-Antwort-Form, Dramatisierungen von Bibelerzählungen) und Dialoge für Erwachsene, die nach dem antiken Vorbild in lukianische, platonische und ciceronische gegliedert werden. Anhand drei ausgewählter Beispiele führt Ludwig vor, wie wichtig die antiken Dialoge für das Verständnis des humanistischen Dialogs und der humanistischen Gesprächskultur sind und wie die intertextuellen Bezüge häufig die Interpretation eines Textes erst möglich machen. Im ganzen Aufsatz kommen eine Fülle interessanter Beobachtungen zur Sprache, die Ausblicke auf ein faszinierendes Forschungsfeld öffnen.

[32] 

Der lukianische Dialog, bei Ludwig kurz besprochen, wird von Manuel Baumbach (»›Wenn Tote Politik betreiben‹ – Das Totengespräch und seine Rezeption am Beispiel von Erasmus und Hutten«, S. 261–275) in seiner Entwicklung von der ersten Rezeption im 15. Jh. bis zur Aufklärung dargestellt. Die Colloquia familiaria des Erasmus und der Phalarismos des Ulrich von Hutten sind Beispiele für die Adaptation des antiken Vorbildes an neue Bedürfnisse.

[33] 

Ein Blick nach England

[34] 

Oliver Schoell, »Der Prosa-Dialog der englischen Renaissance: Formen und Funktionen« (S. 243–259), richtet den Blick auf eine Sprache, deren Renaissance-Dialoge bisher wenig erforscht und gleichermaßen wenig geschätzt wurden. Er untersucht vier Werke aus dem 16. Jh. (Thomas Elyots Of the Knowledge Which Maketh a Wise Mann, Thomas Morus’ A Dialogue concerning heresies, Thomas Starkeys Dialogue between Pole and Lupset, Roger Starkeys Toxophilus) und fragt nach gemeinsamen Merkmalen der vordergründig sehr unterschiedlichen Texte. Die wichtigste Verbindung sieht er in der Bemühung »den öffentlichen Diskurs zu beleben und Vorbilder für angemessene Kommunikationsformen zu liefern.« (S. 259)

[35] 

Mit der englischen Literatur beschäftigt sich ebenfalls Eva-Maria Orth in ihrem Aufsatz »Gesprächsstile in der Erzählliteratur der englischen Renaissance: hoher und niederer Stil bei John Grange und Thomas Deloney« (S. 229–242). Die Autoren der Zeit bevorzugen einen der beiden Stile, sie setzen jedoch den anderen ein, um die Personen zu charakterisieren oder ironische Distanz zu schaffen, wie die Verfasserin anhand von John Granges The Golden Aphroditis und Thomas Deloneys Jack of Newberie zeigt.

[36] 

Fazit

[37] 

Die Aufsatzsammlung löst ihr Versprechen ein, die vielfältigen Bezüge zwischen literarischem Dialog und Gesprächskultur der Renaissance zu beleuchten. Sie bietet aber auch mehr. Bestimmte Fragestellungen (die Abgrenzung einer Gattung Dialog, die nicht weniger schwierige Typologisierung, das Zusammenspiel verschiedener Einflüsse, die herausragende Rolle antiker Vorbilder) kommen immer wieder zur Sprache. Dies, zusammen mit der mehr oder weniger ausführlichen Kommentierung einer Fülle von Einzelwerken, lässt einen anschaulichen Überblick über die Dialogliteratur der europäischen Renaissance entstehen und gibt zahlreiche Anregungen für künftige Forschung. Ein ausführliches Personenregister bietet dem Leser eine willkommene Hilfe.

[38] 

Nur ein wichtiger Aspekt kommt in diesem Panorama kaum vor: die noch vitale, noch einflussreiche mittelalterliche Tradition wird meistens nicht angemessen berücksichtigt. Allerdings muss diese Kritik gleich relativiert werden. Die Dialogliteratur des Mittelalters, vor allem des Spätmittelalters, ist noch weitgehend unbekannt. Da ist Zurückhaltung klüger als vorschnelle Verallgemeinerungen.



Anmerkungen

Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman. In: M. M. B.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel, übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt / M.: Suhrkamp, 1979, S. 154–300, hier S. 214.   zurück