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Geschlecht und Gattung

Eine frühneuzeitspezifische und verallgemeinerbare Autobiographietheorie

  • Eva Kormann: Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert. (Selbstzeugnisse der Neuzeit 13) Köln u.a.: Böhlau 2004. X, 357 S. Gebunden. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 3-412-16903-X.
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Ein kundiger Führer durch
die Autobiographieforschung

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Eine frühneuzeitspezifische und gleichzeitig verallgemeinerbare Autobiographietheorie – dies ist das Theorieangebot, das Eva Kormann mit ihrem als germanistische Habilitationsschrift entstandenen Buch macht. In einer autobiographietheoretischen Landschaft, die ihre Kategorien bislang von neuzeitlichen und modernen Texten (ab dem 18. Jahrhundert entstanden) herleitet, ist dies ein ebenso aufregendes wie längst überfälliges Unterfangen. Aufmerksamkeit verdient dieses Buch aber zugleich, weil es eine Lösung für die Geschlechterblindheit bisheriger Autobiographietheorien vorschlägt – überzeugend deshalb, weil im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Praxis nicht (bestimmte) Männer als Muster genommen sind, an dem Texte von Frauen gemessen und auf Ähnlichkeiten und Unterschiede geprüft werden, meist mit dem Ziel, das weibliche als das »andere Geschlecht« sichtbar werden zu lassen.

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Das Buch besticht nicht zuletzt durch den breiten Horizont der zur Kenntnis genommenen Forschungsliteratur. Kormann rezipiert die Entwicklung eines großen historischen Forschungsfeldes zur Frühen Neuzeit, das in den letzten Jahren unter dem Stichwort »Selbstzeugnisse« auch für die Literaturwissenschaft unverzichtbare Erkenntnisse zutage gefördert hat. So haben diverse Inventarisierungsprojekte zahlreiche bisher unbekannte Texte zusammengetragen, die unsere Vorstellungen von frühneuzeitlichem autobiographischem Schreiben entscheidend erweitern und ein Überdenken der Gattungskriterien erfordern. In der Geschichtswissenschaft werden mittlerweile viele Fragen gestellt, die sich mit Textformen und -strategien befassen, AutorIn-LeserIn-Beziehungen berücksichtigen und keinem naiven, faktenorientierten Positivismus mehr huldigen. Umso sinnvoller ist es, die einschlägigen Bereiche beider Disziplinen zusammenzuführen und für eigene Untersuchungen zu nutzen. Auch die Fülle der englischsprachigen theoretischen Literatur mit ihren einschlägigen Forschungskontroversen, die vor allem in Kormanns ersten, theoretischen Hauptteil einfließt, ist anderswo kaum zu finden und macht das Werk zu einem kundigen Führer durch den Dschungel der bisherigen Autobiographieforschung.

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Eva Kormanns Ansatzpunkt ist die enge Verknüpfung der Gattung »Autobiographie« mit einem bestimmten Personkonzept, dem eines autonomen Subjekts, 1 wie sie die bisherige Autobiographietheorie vorgenommen hat und die auch die textorientierten Studien zutiefst geprägt hat. Dass dieses Modell nur für bestimmte kanonische Autobiographien ab der Aufklärung zutrifft, hat sich längst in der feministischen, postmodernen und postkolonialen Autobiographieforschung und auch bereits in anderen frühneuzeitorientierten Studien herauskristallisiert. Kormann setzt nun im 17. Jahrhundert an, um diese grundlegenden Probleme der bisherigen gattungstheoretischen Diskussion erneut aufzugreifen. Damit rückt sie Texte der Frühen Neuzeit, die bisher am Rande blieben und immer im Schatten der als normativ geltenden späteren Autobiographien – Rousseau, Goethe – standen, ins Zentrum und macht sie zum Ausgangspunkt eines gattungstheoretischen Neuansatzes. Das Ergebnis ist nicht eine kleine, frühneuzeitbezogene Ergänzung eines ansonsten gesicherten Forschungsstandes, sondern eine Revision bisheriger Leitkategorien, die grundsätzliche Bedeutung weit über die Frühe Neuzeit hinaus beanspruchen darf.

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Geschlecht und Gattung

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In einem ersten von drei Hauptteilen wird auf etwa hundert Seiten die »Theoretische Grundlegung« entfaltet. Nach einem Abriss zu genusrelevanten Aspekten der Frühneuzeitforschung allgemein und der Literaturwissenschaft im Besonderen folgt ein langes Kapitel zu den »Aporien der Autobiographietheorie«. Hier kann man ausführlich, dezidiert und witzig analysiert finden, dass das Geschlecht des autonomen Subjekts – in der Autobiographieforschung meist unter dem Stichwort »Individualität« verhandelt – auch gattungstheoretisch immer männlich gedacht wird: Die Autobiographietheorie ist nicht geschlechtsneutral, sondern geschlechterblind und implizit androzentrisch.

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Theorie-Grundlagen (I):
Subjekt und Bezogenheit
(Heterologie)

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In ihrem eigenen theoretischen Konzept verbindet Kormann zwei Aspekte: Zum einen fragt sie nach dem Subjekt und wie es in den autobiographischen Texten sichtbar gemacht wird. Dabei versucht sie von der traditionellen Annahme eines autonomen Subjektes ebenso Abstand zu nehmen wie von seinem in Heteronomie gefangenen Widerpart. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als die Verabschiedung von Auto- und Heteronomie als Kategorien und gleichzeitig von bipolarem Denken in Gegensätzen. Ins Auge gefasst wird mit dem auf Verena Olejniczak zurückgehenden Begriff der Heterologie statt dessen ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen zu Anderem, das an manchen Stellen auch mit den Begriffen »Beziehung«, »relational«, »Beziehungs-« oder »Kontextorientierung« umschrieben wird. Heuristisch ist dies nicht eine neuerliche, willkürliche Setzung, sondern das Ergebnis einer Suche nach einem passenden theoretischen Konzept nach der Textlektüre.

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Die Theorie wird also in diesem Punkt nicht den Texten vorgesetzt, um diese ihrerseits zu befragen, ob und inwieweit sie der Theorie gerecht werden. Auch kann das konzeptuelle Werkzeug selbstverständlich nicht aus dem Material selbst gewonnen werden. Vielmehr wird eine Theorie gesucht, die die am Material gemachten Beobachtungen auf den Begriff bringen kann – wodurch die eigenen theoretischen Vorprägungen nicht geleugnet und ausgelöscht sind, aber in einen Dialog mit den zugrunde gelegten Texten gebracht werden, so dass sich in diesem Vorgehen die Theorie auf das Material beziehen muss. Dieser methodische Umgang mit Theorie bedeutet in der Autobiographieforschung einen erfrischenden und in seiner Tragweite gar nicht groß genug einzuschätzenden Ansatz, der meines Erachtens viel weitreichender ist als Kormanns häufig rezipiertes und inhaltlich diskutiertes Heterologie-Konzept. 2

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Theorie-Grundlagen (II):
Kommunikationssituation
(der referentielle Pakt)

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Kormanns zweiter theoretischer Aspekt ist die Definition der Gattung ausgehend von Lejeunes autobiographischem Pakt. Damit steht eine Kommunikationssituation im Mittelpunkt, die von den AutorInnen vorstrukturiert wird. Von hier aus werden viele Textmerkmale optional, können aber nicht mehr normativ sein. Folgerichtig gibt Kormann nur noch »eine heuristische Gattungsumschreibung« und bezeichnet die Textsorte, mit der sie sich befasst, als »Autobiographik«: »Als Autobiographik – ganz im Sinne der Wortbestandteile – gelten in meiner Arbeit Texte, in denen sich ein Autor oder eine Autorin auf sich selbst beziehen (im Sinne des autobiographischen Pakts Lejeunes) und in denen Leben beschrieben, das heißt ein referentieller Pakt vorgeschlagen wird.« »Der dritte Bestandteil des Wortes Autobiographik macht deutlich, daß die Autor(inn)en Ich und Leben erschreiben, das heißt: auswählen, konstruieren, modellieren.« (S. 96, 299) Genauer gesagt, hat man es nach Kormann nicht mit einer einzigen Textsorte, sondern mit einer Gruppe von Textsorten zu tun, die sich als »Autobiographik« zusammenfassen lassen – auch dies ein wichtiger Schritt in der gattungstheoretischen Debatte. 3

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Dieser offene und zugleich konsequent textuelle Zugang zu autobiographischem Schreiben ist, wie Kormann ausführt, absichtlich gewählt, um Fehlschlüsse auf »menschliches Selbstbewußtsein« zu vermeiden, die sich aus einer zu engen und auf die »Höhenkämme« begrenzten Gattungsdefinition ergeben müssten (S. 97). Es schließen sich wichtige Unterscheidungen von AutorIn, ErzählerIn und Hauptfigur an, bei denen Kormann (hier gegen Lejeune) deutlich macht, dass der autobiographische Pakt nicht allein durch die Namensidentität offeriert wird, sondern die Identität von ErzählerIn und AutorIn durch verschiedene Signale inszeniert wird. Gegen alle Versuche, aus dem Text direkte und scheinbar vollständige Rückschlüsse auf die Autorperson ableiten zu können, erinnert sie daran, dass »ein ›Ich‹ im Text niemals das vollständige Autor-Ich sein [kann], sondern immer nur das ›Ich‹ eines ›Erzählers‹, einer ›Erzählerin‹.« (S. 97) Zu Recht verweist sie darauf, dass das Wort »ErzählerIn« nicht für alle Texte angemessen ist, da es eine narrative Struktur annimmt, berichtende oder bekennende Schriften – die nicht unbedingt eine Geschichte erzählen und nicht unbedingt nur eine Sache darstellen – aber ausblendet. Auch hier aber finde sich eine erzählerähnliche, konstruierende, arrangierende, auswählende Funktion: »Auch das ›Ich‹ in einer Familienchronik ist ein ›Ich im Text‹, das mit dem ›Ich hinter dem Text‹, mit der Person des Autors oder der Autorin, in einer flexiblen, durch Textlektüre allein nicht erschließbaren Beziehung steht.« (S. 98, Hervorhebung von mir, G.J.)

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Alle unmittelbare Gleichsetzung autobiographischer Texte mit biographischen Informationen verbietet sich also und wäre erst in mittelbarer Form möglich, wenn weiteres Quellenmaterial herangezogen wird – als Quelle für die Person kann eine autobiographische Schrift also nicht ohne weiteres gelesen werden, alle Lektüren unter den Stichworten »Lebenslauf«, »Lebensgeschichte«, »Selbstbewusstsein« würden die strategische, auf eine kommunikative Situation hin orientierte Textualität autobiographischer Schriften ignorieren.

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Textanalysen

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Im zweiten Hauptteil folgen Textanalysen. Zugrunde gelegt hat Kormann autobiographische Texte von Frauen, so weit sie nicht zu fragmentarisch überliefert sind und in deutscher Sprache geschrieben wurden. Die autobiographischen Schriften sowohl der Sophie von Hannover als auch von Glikl bas Judah Leib werden ausgeschlossen, weil sie in den Kontext der jüdischen Kultur beziehungsweise der französischen Adelsmemoiren hineingehörten und damit eine germanistische Untersuchung überfordert sei. So sehr diese realistische Einschätzung der eigenen Fachkompetenzen zu respektieren ist, so wäre doch zu wünschen, dass die Germanistik nicht nur die deutschsprachigen Texte als ihren Zuständigkeitsbereich ansähe (und stattdessen die entsprechenden wissenschaftlichen Kompetenzen schon im Studium ausbilden würde). Andernfalls liefe die wissenschaftliche Praxis de facto, wenngleich meist unbeabsichtigt, nicht nur auf ein nationalstaatlich, sondern auch nationalistisch geprägtes Konzept von Literaturgeschichte hinaus. Schon gar nicht lässt sich damit der mehrsprachigen Realität vormoderner Gesellschaften und Literaturen – auch im deutschsprachigen Raum – gerecht werden. Gerade angesichts des in dieser Arbeit vertretenen kommunikationsbezogenen gattungstheoretischen Ansatzes hätte die Entscheidung in diesem Punkt eigentlich anders ausfallen müssen.

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Daneben werden einige exemplarische Vergleichstexte von Männern herangezogen, um auch hier nach heterologer Selbstdarstellung zu fragen und auf Unterschiede zu den Texten der Frauen zu achten. Damit ist im Sinne der von Kormann propagierten gendersensiblen Gattungstheorie die Gefahr vermieden, durch eine ausschließliche Analyse von Autorinnen zu geschlechtsspezifischen Deutungen der Befunde zu kommen und die Beobachtungen unbesehen als typisch für Frauen zu bewerten – was in der Frauenforschung, mangels Vergleichsmöglichkeiten, fast automatisch geschieht. So wurden in der feministischen Autobiographieforschung die beziehungsorientierten Selbstdarstellungsweisen von Autobiographinnen entweder essentialistisch als »weiblich« apostrophiert oder sozial auf die geschlechtsspezifische Marginalität und Unterdrückung von Frauen zurückgeführt – Beziehungen also mit Abhängigkeit gleichgesetzt –, während Männer in Leben und Texten allgemein als autonome Subjekte gefasst wurden. Auf der Ebene der Methode bringt Kormann dabei Geschlecht als Differenz ins Spiel – aber mit dem Ziel, unbegründeten geschlechtsspezifischen Verallgemeinerungen den Boden zu entziehen und beziehungsorientierte Selbstdarstellungen von einseitigen Zuschreibungen zu lösen.

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Kormann ordnet die untersuchten Texte von Frauen drei Bereichen zu: der religiösen protestantischen Autobiographik, der Klosterchronistik und dem familiären Schreiben. Jede dieser Textgruppen ergänzt sie jeweils um einen Text aus männlicher Feder zum Vergleich, wodurch nun umgekehrt die Gefahr des Typisierens dieser Selbstzeugnisse als »männlich« nahe liegt. Eine Folge dieses Vorgehens ist, dass die autobiographischen Texte der Frauen nicht nur in ihrer Beziehungs- und Kontextorientierung, sondern auch in ihrer Bandbreite unterschiedlicher Möglichkeiten sichtbar werden – ein entscheidender methodischer Vorteil, der in der Entscheidung für eine möglichst breite Textbasis begründet ist und hier zu geschlechter- wie gattungsgeschichtlichen Ergebnissen führt: Die Texte der Frauen lassen sich formal wie inhaltlich nicht auf nur einen Nenner bringen. Beziehungen bedeuten in ihren Texten ganz verschiedene Dinge, die von der Abhängigkeit der Nonne (Maria Anna Junius) oder Ehefrau (Anna Höfel) bis zur machtvollen Position einer Äbtissin (Clara Staiger, Maria Magdalena Haidenbucher) oder – wiederum – Ehefrau mit öffentlicher Sichtbarkeit (Johanna Eleonora Petersen, Maria Elisabeth Stampfer) reichen oder auch in diesem Spektrum von Macht und Ohnmacht, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit gar nicht eindeutig zu verorten sind (Anna Vetter). Die Vergleichstexte von Männern machen deutlich, dass auch sie sich beziehungsorientiert beschreiben. Hier zeigt sich die Beziehung als etwas über Textgruppen und Geschlechterdifferenzen hinweg Gemeinsames. Die Frage nach Beziehungen in autobiographischen Schriften wäre also nach dieser Untersuchung neu zu stellen: Es geht nicht mehr darum, ob eine Selbstdarstellung in Beziehungen erfolgt, sondern um die Frage, welche Beziehungen dies sind und wie sie die Texte im Einzelnen prägen. 4

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Ergebnisse der Studie

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Im dritten Teil werden die Ergebnisse der Studie resümiert. Besonders wichtig für die Gattungsgeschichte und -theorie erscheint der Befund, dass sich viele verschiedene Anlässe und Formvorbilder für autobiographisches Schreiben zeigten, denen theoretische Konzepte und Definitionen auch gerecht werden sollten. Neben der Kategorie Geschlecht, so ein weiteres zentrales Ergebnis, hinterließen auch andere Gruppenzugehörigkeiten ihre Spuren in den Texten, vor allem religiöse oder solche der sozialen Schicht. Ergebnisse lassen sich somit nicht einfach entlang der Geschlechterlinie konstruieren. Geschlecht und Person müssten dieser Studie zufolge also immer als mehrfachrelationale Kategorien analytisch eingesetzt werden. Im Blick auf die Art der Selbstbeschreibung erwies sich das Konzept der Heterologie als heuristisch fruchtbar, indem sie die typischen Formen frühneuzeitlichen autobiographischen Schreibens fassbar machte: Kaum finden sich Reflexionen, Darstellungen des eigenen Inneren oder überhaupt eine Begrenzung auf das Eigene der eigenen Person. Vielfach aber wird dargestellt, dass »die eigene Person bezogen wird auf eine Gruppe, zu der zugehörig man sich beschreibt, oder auf Dinge oder Ereignisse in der Welt, mit denen man sich verbunden sieht.« (S. 300)

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Offene Fragen

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Auch in dieser ungeheuer anregenden und hier nicht in allen Facetten referierbaren Studie bleiben noch einige Fragen und Probleme, die weiter zu denken wären. Dazu noch ein paar Überlegungen.

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Offen bleibt bei Kormanns Ansatz, wie nun das von ihren VerfasserInnen beschriebene Selbst gedacht wird und wo es genau zu situieren ist. Nicht autonom und auch nicht heteronom sei es, sondern es äußere sich in den Beschreibungen einer heterologen Subjektivität – aber was genau bedeutet das? Wie ist das Selbst (oder: sind verschiedene »Selbste«) in Bezug auf agency beschaffen? Welche Rolle spielen Innen und Außen, klare oder offene Grenzen um den Körper herum? Wo genau liegt die Identität – innen? auf der Haut? in der Kleidung? in der Beziehung mit Gott, Menschen, Dingen? Wo verläuft die Grenze zwischen Eigenem und Anderem? Wo liefern die Texte Kriterien, um das Eigene und die für die Heterologie konstituierende Grenze zum Anderen bestimmen zu können?

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Geht es in diesen Texten überhaupt um ein Selbst? Woran könnte man das an den heterolog strukturierten Texten erkennen? Gibt es Markierungen, die anzeigen, wo Anna Vetter, wenn sie von Gott spricht, sich selbst meint oder wo sie doch einfach von Gott redet? Hier zeigt sich, dass Kormann von traditionellen Kategorien ausgeht: Gleich ob in ihren Texten von Interaktionen, von Beziehungen oder von klar umrissenen Entitäten die Rede ist, sie bezieht in der Kategorie der Heterologie alles auf Entitäten – das Selbst, Gott, die Menschen und Dinge der Welt. Das Selbst rückt sie ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit und lässt es zugleich durch andere Entitäten beschreibbar sein. Hier bleiben theoretisches Konzept wie auch Textanalysen unscharf, diese Fragen werden nicht gestellt. Zugleich werden aber Begriffe wie Beziehung, relational, Beziehungsorientierung verwendet, ohne dass die Frage der Terminologie und was genau damit gemeint ist, noch einmal unter diesem Aspekt diskutiert würde.

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Oder zeigen solche Texte nicht mehr als eine Subjektivität, die auf alles Mögliche als Gegenstände gerichtet sein kann – auf die eigene Person, auf Gott, auf andere Menschen, auf Dinge etc. –, wobei völlig offen bliebe, was in diesen Texten überhaupt über ein »Selbst« gesagt wäre? Welche referentiellen Bezugspunkte hat das heterologe Reden beziehungsweise Schreiben über die eigene Person, wenn eine naiv-positivistische Annahme der getreuen Abbildung mit Recht nicht zugrunde gelegt wird? Lässt sich von Personkonzepten realer, sozial und historisch situierbarer Personen reden? Oder besteht diese Subjektivität allein im Reden / Schreiben, das heterologe Bezüge herstellt, ohne dass Rückschlüsse auf das Selbstverständnis realer Personen möglich wären? Kann der Text nur als besondere Wirklichkeitsebene gesehen werden, geprägt von nichtschriftlichen Wirklichkeitsbereichen und wiederum auf diese einwirkend (vgl. zu Textualität und Referentialität S. 96–101, 116 u.ö.), so dass von hier aus mannigfache Überlegungen zu Topik und Gattungen anzuschließen sind? Sollte Referentialität nur zu diskutieren sein in Bezug auf den gattungstheoretischen Ausgangspunkt beim autobiographischen Pakt, also in Bezug auf die Kommunikationssituation? Auch hier kommt Referentialität nur als gattungstheoretische Kategorie und in textimmanenter Analyse, aber nicht in einer historischen Analyse der Kommunikationssituationen zum Tragen. Ist es bei einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung berechtigt, so zu fragen?

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Wenn, wie Kormann sagt, Anna Vetter sich selbst beschreibt, indem sie etwas über Gott und die religiöse Landschaft in ihrem Umfeld sagt, dann kann man das nur dadurch wissen, dass für Anna Vetter eine Beziehung zwischen diesen Größen besteht und dass die AdressatInnen von dieser Beziehung, die aus der Sicht der schreibenden Person existiert, Kenntnis haben. Sonst würde heterologe Selbstbeschreibung nicht funktionieren. Wenn aber eine wie auch immer geartete Beziehung dafür bestehen muss, dann sollte erstens dieser Tatsache auch in der Einführung einer gattungstheoretischen Kategorie »Beziehung« Rechnung getragen werden (die nicht notwendig als »soziale Beziehung« – zu anderen Menschen – vereindeutigt werden muss), und zweitens müssten die konkreten Beziehungen, die für einen autobiographischen Text relevant werden, analysiert werden, ebenso wie die Indizien im Text, die eine solche Beziehung anzeigen und eventuell auch näher qualifizieren. Hier lässt die Untersuchung einiges offen, nicht zuletzt auch, was soziale Beziehungen und Machtverhältnisse betrifft: Zwar werden die Texte der einfachen Nonne und der Äbtissinnen nebeneinander analysiert, aber nirgends wird reflektiert, wie die Positionen und Machtverhältnisse der Autorinnen auch ihre Texte prägten. Die Gattungsgeschichte und -theorie braucht auch einen im weitesten Sinne sozialgeschichtlichen Anteil, damit nicht zuletzt die Auswirkungen der Geschlechterordnungen auf autobiographische Texte in ihrem vollen Ausmaß sichtbar werden können.

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Fazit

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Als Fazit bleibt: Im Unterschied zu den Annahmen der neoklassischen Autobiographietheorie ist Eva Kormanns gattungstheoretischer Zugang verallgemeinerbar und nicht nur für die kleine Zahl von Texten zutreffend, auf deren Basis er entwickelt wurde. Nicht bloß auf ein stets männlich gedachtes, autonomes Subjekt zu schauen, sondern die Vielfalt der Formen von Selbstbeschreibung einzubeziehen – auch das, was Eva Kormann Heterologie nennt – und dabei die Kategorie Geschlecht zu reflektieren, schließlich und vor allem die theoretischen Konzepte passend für das Material zu entwickeln: Dies ist wahrlich kein frühneuzeitspezifischer Zugang zu den Textsorten der Autobiographik. Insofern setzt dieses Buch neue Standards für die Frühneuzeit- und Geschlechterforschung, aber keineswegs nur für diese.



Anmerkungen

Vgl. Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich (Hg.): Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung 10) Göttingen: Wallstein 2005, v. a. die Einleitung S. 7–27; ferner Dwight F. Reynolds (Hg.) / gemeinsam verfasst von: Kristen E. Brustad / Michael Cooperson / Jamal J. Elias / Nuha N. N. Khoury / Joseph E. Lowry / Nasser Rabbat / Dwight F. Reynolds / Devin J. Stewart / Shawkat M. Toorawa: Interpreting the Self. Autobiography in the Arabic Literary Tradition. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 2001.   zurück
Das Heterologie-Konzept wird von Kormann in seinen Ich-, sozial- und Gott-orientierten Bezogenheiten diskutiert. Es müsste aber zumindest noch um Körper-, Natur-, Kosmos- und LeserIn-orientierte Bezogenheiten ergänzt werden. Vgl. die wichtigen Anregungen von Thomas M. Safley: »So lang mir Got das Leben verlihen.« Personkonzepte aus Selbstzeugnissen der schwäbischen Kaufleuteschaft in der Frühen Neuzeit. In: Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich (Hg.) (Anm. 1), S. 108–127, hier S. 127, und Andreas Bähr (mündliche Mitteilung).   zurück
Vgl. Sidonie Smith / Julia Watson: Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives. Minneapolis, London: University of Minnesota Press 2001, die in einem Anhang ihres wichtigen Buches 52 autobiographische Gattungen aufführen (S. 183–207).   zurück
Nachzutragen ist das Erscheinen einiger für Kormann noch nicht zugänglicher Arbeiten: Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 45) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005; Martin Scheutz / Harald Tersch (Hg.): Trauer und Gedächtnis. Zwei österreichische Frauentagebücher des konfessionellen Zeitalters (1597–1611, 1647–1653) (Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Historische Kommission. 1. Abteilung: Scriptores, Bd. 14) Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2003; Eva Strauß: »Ich Anna ...« – Anna Vetter: Visionärin oder Wahnsinnige? In: Nadja Bennewitz / Gaby Franger (Hg.): Geschichte der Frauen in Mittelfranken. Alltag, Personen und Orte. Cadolzburg: Ars Vivendi 2003, S. 128–135.   zurück