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Anti-theologische Philosophiegeschichtsschreibung und
die Erfahrung des Verlustes

  • Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. (Frühe Neuzeit 99) Tübingen: Max Niemeyer 2004. XI, 429 Seiten S. Leinen. EUR (D) 88,00.
    ISBN: 3-484-36599-4.
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Ausgangspunkt der Studie

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Studien zur Frühen Neuzeit, die sich mit den Schattenseiten der Rationalisierung und Systematisierung des philosophischen Denkens, also mit der intellektuellen Verlustseite beschäftigen, sind selten. Es herrscht noch weithin der Glaube an den Fortschritt vor. Nicht so in vorliegender Dissertation, die im Umfeld der Forschungen von Wilhelm Schmidt-Biggemann entstand. Lehmann-Brauns konstatiert im 17. und frühen 18. Jahrhundert eine Schwächung spekulativer, mystischer und religiöser Implikationen philosophischen Wissens und stellt sich die Frage, wie die moderne – sprich: anti-theologische – Philosophiegeschichtsschreibung möglich wurde.

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Vom der philosophia perennis
zur historia critica philosophiae

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Thematisiert wird ein schwer zu fassender Umbruch im Denken am Ende des 17. Jahrhunderts, der dazu führte, die Vergangenheit der Philosophie als eigenständig und untheologisch anzusehen. In der Folge des Umbruchs war die heidnische Philosophie der Antike nicht länger als Abglanz paradiesischen Wissens oder als Antizipation von christlichen Offenbarungsgehalten zu lesen. Mit dieser Abwertung einer gängigen Geltung der Antike wurde diese gewissermaßen ent-aktualisiert, und es »stellte sich auch die Frage nach ihrem Ursprung neu« (S. 2). Das ist nicht nur ein Problem für Philosophiehistoriker. Lehmann-Brauns geht es um die veränderten Methoden der Philosophiegeschichtsschreibung in der Epoche zwischen Georg Horn (1654) und Johann Jakob Brucker (1744), darüber hinaus aber vor allem um die Neukonzeption einer philosophischen Geschichte, etwa bei Georg Christoph Heumann (1715). Die neue Theologie-Abstinenz ist für Lehmann-Brauns eine ideengeschichtliche Zäsur, die er wie folgt beschreibt: Verschiedene Differenzierungsanstrengungen bewirkten, daß »Geschichte nicht länger als heilsgeschichtlich eingerahmte[r] Translationsprozeß von den perfekten Anfängen aller Kultur, Wissenschaft und Zivilisation bis zu deren eschatologischer Wiederherstellung zu begreifen« (S. 5) war.

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Der Übergang von der überzeitlichen und damit immer aktuellen Geltung einer philosophia perennis zu einer Historisierung vergangenen Denkens in der historia critica philosophiae wird in dieser Studie als ein Datum begriffen, dessen Effekte man beschreiben und dessen Ursachen man erfragen kann. Lehmann-Brauns sieht eine bewußte Arbeit an der Distanzierung am Werk, eine Verabschiedung oder »Absetzung«, die sich an ausgesuchten Autoren analysieren läßt. Dabei bleibt weitgehend offen, was verabschiedet wird und ob nicht das einsetzende historische Begreifen selber den Schnitt darstellt. Ist tatsächlich ein Verlust damit eingetreten, daß die Vergangenheit der Philosophie keine theologisch gestützte Aktualität mehr besitzt, sondern historisch behandelt wird? Könnte man nicht die Historisierung auch als modifizierte Aktualisierung verstehen?

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Lehmann-Brauns verzichtet darauf, die Rationalität der »modernen« Philosophiegeschichtsschreibung einheitlich auszuweisen. Diese Vorsicht und Zurückhaltung ist dem Ziel der Studie geschuldet, die Leser gewissermaßen unbefangen vor die Frage zu stellen, was am Ende des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts (in Deutschland) eigentlich thematisch war, als man die Philosophiegeschichte zu problematisieren begann. Wir werden in eine Diskussion eingeführt, deren Gründe und Wirkungen immanent herauspräpariert werden. Die intensive Geschichte einer Debatte und einer Problematisierung kommt hier ohne extensive Konstruktion einer verbindenden Großerzählung aus.

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Die Rolle des
Jacob Thomasius

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Jacob Thomasius war damals der Mann, dem Leibniz zutraute, eine völlig neue Philosophiegeschichte zu schreiben. Auch wenn daraus nichts wurde, genügte solches Vertrauen des Universalgenies aus Hannover, dem Leipziger Philosophieprofessor einen gewissen Platz in den Annalen der Philosophiegeschichte zu sichern, wie man dies bei den Historikern der Philosophiegeschichte Lucien Braun und Giovanni Santinello nachlesen kann. 1 Lehmann-Brauns nun findet das bewegende Moment bei Jacob Thomasius in einer von dessen kleineren Schriften aus dem Jahr 1665 (Schediasma historicum). Dort eröffnet die Behauptung einer fundamentalen Inkommensurabilität von christlicher Religion und heidnischem Denken der antiken Philosophie (erstmals) einen intellektuellen Freiraum und eine historische Selbständigkeit. Griechisches Denken gilt fortan nicht mehr als Vorbedeutung christlicher Theologie, sondern wird als früher Versuch menschlicher Vernunftautonomie gewertet.

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Thomasius arbeitet diesen Befund negativ heraus, das heißt er klagt die antiken Denker Griechenlands indirekt der Unfrömmigkeit an. Lehmann-Brauns nennt es ein »antiapologetisches« Verfahren, das bei Thomasius die christliche Vereinnahmung vorchristlichen Denkens verabschiedet: »Thomasius’ Skizze der abendländischen Philosophiegeschichte basierte auf der Grundannahme einer geschichtlich wirksamen, unaufhebbaren Dichotomie zwischen paganer Philosophie und christlicher Offenbarung.« (S. 35) Philosophiegeschichte erbringt für Thomasius den Nachweis, daß die biblische Wahrheit durch philosophisches Denken nicht eingeholt werden kann. Jacob Thomasius war ein guter Kenner des Aristoteles; dessen christliche Vereinnahmung erschien ihm unmöglich. Aber auch der Platonismus verfällt seinem Verdikt, denn dieser erscheint als Häresie.

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Die bei Jakob Thomasius aufgezeigten Mittel der Differenzierung untersucht Lehmann-Brauns in der Folge bei anderen Autoren. So findet er die Identifizierung von Platonismus und Pantheismus, Schwärmerei und anderen spirituellen Formen christlicher Religiosität auch bei dem Greifswalder Professor Ehregott Daniel Colberg, dessen Schwärmerkritik unter dem Titel Platonisch-hermenetisches Christentum (1690) gedruckt wurde. Platonismus war für Colberg Philosophie und durfte nicht das christliche Denken bestimmen, weshalb für das theologische Interesse einer Reinhaltung des lutherisch-protestantischen Christentums die historische Rekonstruktion des Platonismus ein bloßes Mittel zum Zweck darstellte. Die kritische Beschäftigung Colbergs mit der Kabbala und der Magie (S. 166–181) war entsprechend beeinträchtigt.

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Auch der Danziger Prediger Friedrich Christian Bücher war mit seinem Plato mysticus (1699) dem orthodoxen Protestantismus verpflichtet, während die Pietisten Balthasar Köpke (dessen Sapientia Dei erschien 1700) und Johann Wilhelm Zierold (Autor einer mehrbändigen Kirchengeschichte ab 1700) ein Konzept antiker heidnischer Weisheit propagierten, das mit der jüdisch-christlichen Religion kompatibel war. Die christliche Offenbarungsreligion wurde als universal angesehen. In diesen Zusammenhang paßt auch die Rehabilitierung der Mystik in der Unparteiischen Kirchen- und Ketzergeschichte (1700) Gottfried Arnolds.

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»Entzauberung« bei Christian Thomasius
und Christoph August Heumann

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Wenn Lehmann-Brauns in seinen abschließenden zwei Kapiteln auf Christian Thomasius und Christoph August Heumann eingeht, macht er einen Sprung aus der theologisch-philosophischen Gemengelage heraus in die Klarheit und Abgewogenheit eines eklektisch-unparteiischen Urteils. Die Interessen sind verschoben: Für Christian Thomasius wie für Heumann war nicht die Einmischung der Philosophie in die Religion verderblich, sondern umgekehrt die christliche Aneignung der Philosophie. Vom Philosophiehistoriker wird nun einzig verlangt, daß er Philosoph sei:

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Damit der eklektische Philosophiehistoriker mit freiem Urteilsvermögen, von allen Fixierungen der Autorität befreit und mit dem methodischen Instrumentarium der philologischen Kritik ausgestattet, an die Revision der Philosophiegeschichte gehen konnte, durften konfessionstheologische Bewertungskriterien der Philosophiegeschichte nicht länger maßgeblich sein. (S. 367)
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Der Prozeß einer »historisch-kritischen Entzauberung« setzt ein und bewirkt den »Bruch mit umfangreichen Traditionsbeständen« (S. 397).

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Fazit

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Lehmann-Brauns rekonstruiert mit seiner Studie die für uns selbstverständlich gewordene Evidenz konfessions- und theologiefreier Philosophie. Er rekonstruiert sie historisch und geht dabei unter die Oberfläche der erforschten Philosophiegeschichte, wenn er mit Colberg und Bücher bislang unbekannte Denker diskutiert. Dabei sind interessante Themen zu entdecken, etwa die Ägyptenhypothese Colbergs (S. 229 ff.) oder die dagegen gesetzten Ausführungen in der Kirchengeschichte Zierolds (S. 253 ff.).

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Als Fazit artikuliert die vorliegende Studie eine unbestimmte Trauer über den Verlust theologisch motivierter Philosophiehorizonte. Mit bemerkenswerter Sicherheit wird von »der Durchsetzung eines autonomen Vernunftideals in Philosophie und Wissenschaft« (S. 19) gesprochen, als ob diese Durchsetzung vollkommen, radikal und unwiderrufliches Faktum sei. Sicher gibt es eine »stilisierende Selbstabgrenzung moderner Philosophie von einer langen Tradition spekulativen Denkens« – ob damit aber auch »ein selbst gewähltes Frageverbot der Philosophie« und ein »beträchtlicher Kompetenzverlust« (S. 19) verbunden sind, belegt der Autor nicht. Was er im Einzelnen vorträgt, ist – im Buch selbst oft genug betont – die konzentrierte Betrachtung einer intensiv geführten Diskussion über den Stellenwert des Platonismus und des Christentums im philosophischen Denken. Die Beschäftigung mit dieser Schnittstelle modernen Denkens ist spannend genug rekonstruiert, dem Buch interessierte Leser zu sichern.



Anmerkungen

Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Darmstadt 1990, S. 99; Giovanni Santinello (Hg.): Storia delle storie generali della filosofia. 1981–2004, vgl. besonders Bd. 2: Dall'età cartesiana a Brucker. Brescia 1979 passim.   zurück