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Wider die Mär vom normierten Barock

  • Jörg Wesche: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. (Studien zur deutschen Literatur 173) Tübingen: Max Niemeyer 2004. VII, 325 S. 2 Abb. Kartoniert. EUR 58,00.
    ISBN: 3-484-18173-7.
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Ausgangspunkt:
barocke Vielfalt und ›literarische Diversität‹

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Die deutsche Dichtung des 17. Jahrhunderts galt lange (und gilt manchen, die den unvermessenen Eisberg der Barockpoesie lieber in sicherem Abstand umschiffen, noch heute) als schematisch und normiert, als strikt reguliert im Korsett immer gleicher Anleitungsschriften. Die neuere Forschung hat diese Vorurteile erheblich erschüttert, indem sie mit einem historisch angemessenen weiten Literaturbegriff die Internationalität und Interdisziplinarität der Epoche beleuchtete, die Intertextualität der Frühen Neuzeit und ihre intermediale Orientierung in den Blick nahm.

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Die Studie von Jörg Wesche, eine Göttinger Dissertation, setzt bei der augenscheinlichen Vielfalt des Barock an und verfolgt ein doppeltes Ziel. Zum einen geht es – historisch – darum, anhand poetologischer Schriften und ausgewählter poetischer Genres die Variabilität der Barockliteratur zu erörtern. Und zum anderen möchte der Verfasser – systematisch – ein terminologisch neuartiges, trennscharfes und über die behandelte Epoche hinaus gültiges Erklärungsmodell für Phänomene ›literarischer Diversität‹ etablieren. Die Verbindung beider Interessen macht den Reiz und gelegentlich auch die Schwierigkeit der Untersuchung aus.

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Nach einer knappen und instruktiven Einleitung, welche die Dreigliederung des Buchs vorab skizziert, entwirft der Verfasser im ersten Hauptteil sein Modell literarischer Diversität. Im eröffnenden »Grundriss des Diversitätskonzepts« (S. 11–37) plädiert er – in (nicht zwingend erscheinender) Anlehnung an die Biodiversitätsforschung – dafür, ›Diversität‹ als Oberbegriff für verschiedene Formen und Typen literarischer Vielfalt zu verwenden und grundlegend »[o]rdnungskonformes Agieren in Spielräumen einerseits und Abweichung als Verletzung von Ordnung andererseits« zu unterscheiden (S. 36 f.). Exemplarisch verdeutlicht wird dies an zwei gut erforschten Gegenständen: an Martin Opitz’ Gattungsbestimmung der ›Poetischen Wälder‹ und an Grimmelshausens Baldanders-Gestalt aus der Continuatio des Simplicissimus Teutsch.

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Ein Integrationsmodell poetischer Spielräume

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Ebenso wie hier steht auch in der folgenden ausführlichen »Grundlegung zur Kategorie des poetischen Spielraums« (S. 37–90) nicht das historische Material im Mittelpunkt des Darstellungsinteresses, sondern die Entfaltung einer Systematik, die Harald Frickes Abweichungspoetik modifiziert und mit der historischen, in der Rhetorik verankerten Terminologie (bes. ›imitatio‹, ›novitas‹ und ›licentia poetica‹) korreliert. Da der Verfasser die überkommene Begrifflichkeit – etwa in einer bislang unbeachteten Broschüre De Licentia Poetica (1700) von Bernhard Walter Marperger – als nicht hinreichend präzise erachtet, favorisiert er ein »Integrationsmodell poetischer Spielräume« (S. 83 f.), das die auf unterschiedlichen Sprach-, Text- und Gattungsebenen ansetzenden Abweichungen und Normverletzungen in der Barockpoesie analytisch faßbar machen soll.

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Proben aufs Exempel und zugleich analytisch gewonnene Erweiterungen des Systems liefern die Überlegungen zur »gattungsinternen Diversität«, die den zweiten Hauptteil bestimmen (S. 91–157). Wesche konzediert den »exemplarisch-verifikationistischen Grundzug« (S. 93), der seinem Vorgehen eignet: Tatsächlich stützt er sich weitgehend auf vorliegende Gattungsanthologien und Forschungen zum Sonett und zum Epigramm des Barock, um auf der Basis des gegebenen Beispielmaterials und des ›ludistischen‹ Gattungsverständnisses von Erika Greber 1 seine Spielraumanalyse zu verfeinern. Dazu unterscheidet Wesche zwischen hoch und niedrig normierten Genres, zwischen verschiedenen Dimensionen des Textes, in denen poetische Spielräume zu beschreiben sind, und zwischen einer Reihe von Diversitätsmechanismen. Aus historischer Terminologie vertraute Spielweisen wie ›Permutation‹ und ›Kombinatorik‹ werden dabei ergänzt durch ein ganzes Bündel von Unterformen der Variation wie ›Substitution‹ und ›Extension‹, ›Repetition‹ und ›Konjunktion‹, ›Konstellation‹ und ›Superisation‹.

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Theorie und Praxis

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Stärker als in den ersten beiden Hauptteilen stützt sich der Verfasser im dritten Abschnitt seiner Studie, die »Spielräume der Poetik« untersucht (S. 159–298), auf selbst erschlossenes historisches Material. Im Zentrum steht dabei einerseits die Frage der »Reyengestaltung im schlesischen Trauerspiel«, an der die Interferenzen zwischen Praxis und Theorie, zwischen Poesie und Poetik in den Blick genommen werden (S. 175–218), und andererseits die »Machart barocker Dichtungslehren« (S. 218–268). Die Überlegungen zum Reyen lenken den Blick auf das produktive Wechselverhältnis zwischen einer alles andere als einheitlichen metrisch-formalen Gestaltung und einer in den zeitgenössischen Dichtungslehren klaffenden Normierungslücke. 2 In den Analysen der Barockpoetik, die auf breiter Basis vor allem der wenig untersuchten Anleitungsschriften aus der Zeit um 1700 operieren, werden an wesentlichen Kennzeichen (Zunahme dialogischer Argumentationsmuster sowie Prägung durch Exempel, die nicht selten in Spannung zu den tradierten Regeln stehen) die dynamischen Veränderungen und der Verlust restriktiver Eindeutigkeit beschrieben.

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Seine Ergebnisse faßt Wesche konzis zusammen, indem er »das poetische System der Barockzeit« in einem »Modell« bündelt und graphisch veranschaulicht (S. 288). Während er für die Zeit um 1630 die Diversität in poetologische Vorgaben eingefaßt sieht, die eine stabilisierende Normierung bewirken, erreiche die Diversifizierung des Systems um 1700 eine solche Dynamik, daß den Exempelpoetiken der Zeit lediglich noch eine orientierende Funktion zukomme.

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»Auf Grund des konzeptionellen Erkenntnisinteresses ließen sich viele Texte nur exemplarisch mit spielraumanalytischen Kategorien untersuchen« (S. 296) – diese zutreffende Rekapitulierung indiziert, daß Wesche selbst gewisse Vorbehalte gegenüber seinem Umgang mit dem historischen Material hat. In der Tat dürften sich doch die intensive analytische Durchdringung des Gegenstands und seine präzise kategoriale Bestimmung erst gegenseitig bedingen. Umgekehrt gesagt: wo der Verfasser in ›dichter Beschreibung‹ und eigenständiger Analyse am Text arbeitet (wie zunehmend gegen Ende seiner Arbeit), gelingen ihm fraglos tragfähigere Einsichten als dort, wo er rasch von Beispiel zu Beispiel springt und die punktuell herangezogenen Dichtungen ganz in den Dienst terminologischer Differenzierungen und Verästelungen stellt. 3

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Fazit

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Die Studie von Jörg Wesche, die kenntnisreich auf hohem theoretischen Niveau argumentiert, eine – trotz ihrer terminologischen Befrachtung – gut lesbare Sprache spricht und sorgfältig durchgearbeitet ist, 4 lenkt unseren Blick auf die als ›Diversität‹ zu beschreibende Mannigfaltigkeit und Vielfalt der Barockliteratur, um für deren Analyse ein reich differenziertes Instrumentarium zu empfehlen, das sich auch an anderen Epochen nutzbringend erproben lassen dürfte.



Anmerkungen

Erika Greber: Wortwebstühle oder: Die kombinatorische Textur des Sonetts. Thesen zu einer neuen Gattungskonzeption. In: Susi Kotzinger / Gabriele Rippl (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Konferenz des Konstanzer Graduiertenkollegs ›Theorie der Literatur‹ (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 7) Amsterdam / Atlanta: Rodopi 1994, S. 57–80.   zurück
Da der Verfasser sein Beispielmaterial ganz wesentlich aus den fünfaktigen, jeweils mit vier Reyen ausgestatteten Trauerspielen des Andreas Gryphius bezieht, bleibt die Frage unerörtert, ob die Reyen systematisch als ›Zwischenakte‹ oder als ›Nachspiele‹ zum jeweils vorangehenden Akt aufzufassen seien. Anlaß dazu hätten die Trauerspiele Lohensteins und seiner Nachfolger geboten, die oft auch am Ende des fünften Akts einen Reyen haben, und mit Wesche hätte man wohl auch hier eine poetologische Normierungslücke zu konstatieren. Denn während Harsdörffer festsetzt, »daß zwischen ieder Handlung ein Lied gesungen werden sol« (zit. nach Wesche, S. 201), drückt sich Birken in dieser Frage eigentümlich unklar aus, indem er die Reyen »Chöre oder ZwischenLieder« nennt, »welche nach allen [!] Handlungen zwischen [!] eingeschaltet« würden (S. 206); die widersprüchliche Bestimmung tradiert Omeis, wenn er von »Zwischen-Lieder[n]« handelt, »welche nach einem ieden [!] Actu eingeschaltet« werden sollten (S. 214).   zurück
Ungünstig bemerkbar macht sich in einzelnen Partien auch, daß sich Wesche recht stark auf aufbereitetes Material verläßt und auf Forschungsvorgaben stützt, darunter solche wie das ungenügende Barock-Lehrbuch von Dirk Niefanger (Stuttgart / Weimar 2000), das man besser nicht als kanonische Darstellung zitierte.   zurück
Hingewiesen sei auf wenige verbliebene Fehler: »bestimmtbar« (S. 25); »Päzisierung« (S. 80, Anm. 270), Zitat nicht abgeschlossen S. 132 (bei Anm. 149), fehlerhafte Trennungen S. 65 (»Abweichung-scharakter«), S. 163 f. (»Teila-spekte«), S. 182 (»Versa-spekte«), Gedichtzitate S. 127 f. irrtümlich auf Mittelachse formatiert. Ein Namenregister vermißt man ungern.   zurück