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Ein Buch über Bücher

  • David McKitterick: Print, Manuscript, and the Search for Order, 1450-1830. New York: Cambridge University Press 2003. 311 S. Gebunden. GBP 45,00.
    ISBN: 0-521-82690-X.
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Das Buch als
materielles Objekt

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Ein Buch über Bücher muß – bevor man sich seinem Inhalt zuwendet – als materielles Objekt gewürdigt werden, ganz im Sinne jenes Wissenschaftszweiges, der im angloamerikanischen Raum als ›New Bibliography‹ oder als ›Historical‹ beziehungsweise ›Analytical Bibliography‹ bezeichnet wird. Für mich erscheint der dezent und gediegen ausgestattete Band typisch britisch. Nicht nur die Anordnung von Abbildungsverzeichnis und Verzeichnis der gekürzt zitierten Literatur zu Beginn und des Inhaltsverzeichnisses am Ende vermitteln diesen Eindruck.

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Der ›Bibliographer‹ –
Ein britisches Phänomen

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Ein Schlüsselwort ist jenes des ›bibliographer‹. David McKitterick wäre mit der Übersetzung ›Bibliograph‹ zu Recht nicht zufrieden, denn er meint damit weniger einen Bibliotheksangestellten, der Literatur zu vorgegebenen Themen zusammensucht (›general reference service‹), sondern einen Vertreter eines Wissenschaftszweiges, den es bei uns in der traditionellen Verankerung gar nicht gibt. Natürlich beschäftigen sich auch im deutschsprachigen Raum Wissenschafter mit der Erforschung von Inkunabeln und alten Drucken. Ein ›passionate bibliographer‹ – und als solchen kann man McKitterick nach der Lektüre seines Buches zweifellos charakterisieren – verbindet jedoch strenge Wissenschaft mit connoisseurhafter Wissensfülle und der Liebe zum Buch als physischem Objekt, das man in Händen hält.

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Uneinheitlichkeit
als Realität des frühen Drucks

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Die zentrale These des ersten Teiles (S. 1–21) ist, daß das gedruckte Buch keineswegs einheitlich ist. McKitterick beschreibt, warum im Entstehungsprozeß der Satz immer wieder verändert wurde. Der Eindruck der Zeitgenossen – wie der Mehrzahl der heutigen Beobachter – , der Druck sei »the most permanent form of record« (S. 26), stimmt mit der Realität der erhaltenen Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts nicht überein.

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Ausführlich wird die Veränderung beschrieben, die das Buch durch die Anwendung des Druckes mit beweglichen Lettern erfuhr. Daß dies eben nicht ein revolutionärer Umbruch war, gipfelt in Sätzen wie: »The late medieval book differs more from its early medieval predecessors than it does from the printed book of our own day« (S. 11); 1 oder: »In practice, each new technology does not replace the previous one. Rather, it augments it, and offers alternatives« (S. 20).

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Druck und Handschrift

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David McKitterick nennt ausgewählte Beispiele, wie Bibliothekare zwischen Handschriften und Drucken unterschieden, beziehungsweise belegt, daß es in der Vergangenheit eben nicht vordringlich schien, die Bibliotheksbestände nach diesen uns gut vertrauten Gesichtspunkten zu unterscheiden (S. 11 ff.). Es war daher auch selbstverständlich, Sammelbände zu bilden, die inhaltlich Zusammengehöriges in Druck und Handschrift vereinigten. Diese Objekte freilich haben nur in Ausnahmefällen den Systematisierungszwang moderner Bibliothekare überlebt (S. 51).

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Handschriftliches im Druck
oder die selbstverständliche Aufgabe des Käufers,
das Produkt zu vervollständigen

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Der zweite Abschnitt (S. 22–52) befaßt sich mit dem Ineinandergreifen von Handschriftlichem und Druck. Mit der Hand ergänzte Foliierungen, Rubriken und Initialen, auch das Fehlen von Zitaten in anderen (z. B. griechischen) Schrifttypen oder der Notationen waren im 15. Jahrhundert selbstverständlich: »For many books, the pen was as essential to early printers as was printers’ ink« (S. 37). Erstaunlich ist die Beobachtung, daß derartige an sich notwendige Ergänzungen in der Regel dem Käufer überlassen und nicht vom Drucker oder Verleger durchgeführt wurden (S. 41). Erst im 16. Jahrhundert verschwanden handschriftliche Ergänzungen weitestgehend.

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Illustrationen

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Der dritte Abschnitt (S. 53–96) befaßt sich mit Illustrationen. Hier wird der britische Standpunkt, den wir bisher so bewundert haben, ein wenig problematisch: Obwohl McKitterick hier vor allem deutsche und österreichische Beispiele nennt, sind zum Beispiel die Prunkwerke Kaiser Maximilians – reich illustrierte Drucke, zu denen es vielfach interessante Vorstufen gibt, die Handschrift und Druckgraphik vermischen – weitgehend ausgespart.

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Die untersuchten Beispiele bilden trotzdem ein bemerkenswertes Panoptikum: Druckgraphik, die schon primär dafür geschaffen wurde, in Handschriften eingeklebt zu werden, die Rezeption früher Druckgraphik durch Miniatoren, das deckende Bemalen von Stichen, um sie wie Miniaturen aussehen zu lassen, gemalter und gedruckter Randdekor in Inkunabeln, all dies und manches Weitere werden jeweils an charakteristischen Beispielen vorgeführt.

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Nichts als Fehler –
ein liebevoller Bericht

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Der vierte Abschnitt, »A house of errors« (S. 97–138), kehrt zu der Frage der Gleichförmigkeit innerhalb einer Auflage zurück. Methoden, Fehler während des Druckprozesses zu korrigieren oder durch Errata-Hinweise zu verbessern, werden vorgestellt. Für den Autor ist die Feststellung »It is unlikely that any two copies of this book [der Schedelschen Weltchronik von 1493] will be found to be identical« (S. 109) 2 so etwas wie der Gründungssatz seiner Auffassung vom gedruckten Buch, nicht bloß der Inkunabelzeit, sondern einer wesentlich längeren Periode.

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Ein Lob wird dem Berufsstand des Korrektors gesungen, der heute leider fast ausgestorben ist. Auch diesen gab es – wie McKitterick betont – natürlich schon zur Zeit des handgeschriebenen Buches, die Verläßlichkeit seiner Arbeit war jedoch entscheidend für die Qualität, die ein Verleger bieten konnte (vgl. S. 115, 122 ff.).

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Wenn die Fahnen wehen

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Der nächste Abschnitt (S. 139–165) setzt sich ebenfalls mit Unvollkommenheiten auseinander, die den Druck – nebenbei bis heute – begleiten. Zwar ist es unvorstellbar, daß heute noch ein Bogen, von dem zu wenige Exemplare gedruckt wurden, handschriftlich ergänzt würde (S. 143), aber daß der Druckausschuß dann doch noch verwendet wird, um ein zusätzliches Geschäft zu machen (S. 144), wird auch im 21. Jahrhundert noch vorkommen.

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An vielen Stellen gibt David McKitterick Hinweise zur auch heute noch nervtötenden wie unerläßlichen Tätigkeit des Fahnenlesens. Der Wunsch nach einem Essay über diese Jahrhunderte überdauernde Konzentrationsübung wird lebendig; wer wäre berufener als David McKitterick, uns auf umfassende und gleichzeitig detailverliebte Weise Auskunft zu geben, wie und unter welchen Umständen der Autor in den Druckvorgang durch das Korrigieren der Fahnen eingriff. Neben dem Autor haben aber auch weniger geliebte Institutionen wie die Zensur den Druckprozeß beeinflußt (S. 151 ff.).

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Bücher über Bücher
und technische Neuerungen
(Das 18. Jh. und die Zeit um 1800)

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»The Art of Printing«, das 6. Kapitel (S. 166–186), beschäftigt sich vor allem mit Literatur des 18. Jahrhunderts über den Buchdruck und über Neuerungen auf technischem Gebiet, die dieses Jahrhundert prägten. Schließlich folgt ein Abschnitt über die Entwicklung hin zum modernen Buch: Die Mechanisierung der Papiererzeugung, die Rotationspresse und die Stereotypie als Möglichkeit, den Schriftsatz zu bewahren, werden als technologische Errungenschaften der Jahre um 1800 vorgestellt und mit Entwicklungen hin zu einer vereinheitlichten Orthographie, die zur selben Zeit bedeutende Fortschritte machte, verbunden. Als Kernsatz könnte diesen abschließenden Abschnitten zugeordnet werden: »As in the 1450s and 1460s, so in the 1780s to 1820s, the purpose of technological and managerial change was simultaneously innovative and conservative« (S. 216).

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Schlußbemerkung

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Ich weiß nicht, wann der Blick von David McKitterick zuerst auf das Ende der ersten Textzeile seines Buches fiel, und ich weiß nicht, wie er reagierte. Die Trennung »Bibliog-raphy« entspricht sicher nicht dem, was er von einem perfekten Satz erwartet, aber nach der Lektüre des Buches erscheint mir dieser Fehler gleichsam symptomatisch. Die Liebe des Autors zur Individualität des jeweilig gedruckten Exemplars hätte ihn vielleicht veranlaßt, die Druckmaschine anzuhalten, die Druckform des ersten Bogens auszuwechseln und so zwei unterschiedliche Versionen seines Buches zu schaffen: die ältere mit Trennfehler und jene, in der der Fehler korrigiert wurde.

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Das Buch von David McKitterick entführt uns in eine Welt, die von der Liebe zum Buch geprägt ist, eine Welt, die er nicht nur kenntnisreich, sondern auch nach allen Regeln der Wissenschaft behandelt. 3



Anmerkungen

M. Parkes: The influence of the concepts of ordinatio and compilatio on the development of the book, in: J. J. G. Alexander / M. T. Gibson (Hg.): Medieval learning and literature (Festschrift Richard William Hunt) Oxford 1976, S. 115–141, hier S. 135.   zurück
Ein weiterer analoger Fall ist auf S. 121 f. beschrieben.   zurück
Eine weitere Online-Rezension dieses Buches von Joyce Boro findet sich unter: URL: http://www.erudit.org/revue/ron/2004/v/n34–35/009443ar.html.   zurück