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Von Nürnberg in die weite Welt

Das Nachleben einer spätmittelalterlichen Reise nach Jerusalem im Buchdruck

  • Randall Herz: Studien zur Drucküberlieferung der »Reise ins Gelobte Land Hans Tuchers des Älteren«. Bestandsaufnahme und historische Auswertung der Inkunabeln unter Berücksichtigung der späteren Drucküberlieferung. (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 34) Nürnberg: Stadtarchiv Nürnberg 2005. XVIII, 326 S. einige Karten, 39 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 36,00.
    ISBN: 3-925002-34-0.
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Dem Reisebericht des Nürnberger Patriziers Hans Tucher, der im Jahr 1479 eine Pilgerfahrt ins Heilige Land unternahm, galt bereits die im Jahr 2002 erschienene Dissertation 1 von Randall Herz. Während Herz dort jedoch die Überlieferung im Hinblick auf die Entstehung und Verbreitung des Textes, auf seine Beziehungen zum Parallelbericht des Sebald Rieter d. J. zur gleichen Reise und auf seine Wirkungsgeschichte analysierte (2002, S. 189–290) und eine neue Edition vorlegte (2002, S. 327–667), konzentriert er sich nun auf die Untersuchung der gedruckten Ausgaben, insbesondere der des 15. Jahrhunderts, und ihre Rezeptionsgeschichte.

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Familienalbum
oder Kassenschlager?

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Den ungewöhnlichen Erfolg des Reiseberichts dokumentieren 27 erhaltene Handschriften aus dem Zeitraum 1480–1680, wobei diese breite handschriftliche Überlieferung vor allem durch die lokal- und familiengeschichtlichen Interessen Nürnberger Rezipienten aus dem engsten Umkreis des Verfassers bestimmt ist: fünf der Handschriften sind Arbeitsmanuskripte Tuchers, zwei Abschriften des Autographs, zwei weitere »anonyme Parallelüberlieferung« und bei immerhin 17 Handschriften handelt es sich um sekundäre Druckabschriften (2002, S. 193–195). Die Drucküberlieferung deckt in etwa den gleichen Zeitraum ab wie die handschriftliche Verbreitung, umfasst aber nur 16 eigenständige Textzeugen: In weniger als einem Jahrfünft, zwischen 1482 und 1486, erschienen in Augsburg, Nürnberg und Straßburg sechs Inkunabelausgaben, um 1489 folgte ein Nürnberger Einblattdruck.

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Im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts wurden dann Auszüge aus dem Reisebericht in einer Flugschrift gedruckt, von der vier Ausgaben aus Augsburg und Leipzig nachweisbar sind, und erst in der zweiten Jahrhunderthälfte kamen wieder vollständige Ausgaben auf den Markt, darunter in Sigmund Feyerabends Reyßbuch deß heyligen Lands von 1584 2 und seinen Nachdrucken, die nun meist in der Messestadt Frankfurt am Main erschienen und in regelmäßigen Abständen von circa 25 Jahren wiederaufgelegt wurden. Mit der Nürnberger Ausgabe des Reißbuch von 1659 endet die Druckgeschichte. Berücksichtigt man die Auflagenhöhe der Drucke, die Herz für die Inkunabeln auf etwa 200–300 schätzt (2005, S. 94), so wird deutlich, dass die überregionale Bekanntheit des Reiseberichts vor allem auf den Drucken gründete, von deren Rezeption auch die 17 Druckabschriften zeugen.

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Beschreibungen der Drucke

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Die sieben Inkunabelausgaben (1482–1489) und sechs Drucke des 16. Jahrhunderts sowie die von ihnen nachweisbaren Exemplare sind bereits in Herz’ Dissertation beschrieben (2002, S. 165–188). Die Studien zur Drucküberlieferung bieten nun erneut bibliographische Beschreibungen der Ausgaben, die denen der Dissertation entsprechen; hinzu kommen jedoch detaillierte Angaben zu jedem einzelnen noch nachweisbaren Druckexemplar. Wo die Dissertation nur knappe Angaben zu Standort und Signatur jedes Drucks und Literaturverweise bot, legt Herz nun eine Fülle von Informationen zur Besitzgeschichte, zur Ausstattung (Kolorit, Marginalien und andere Einträge, Zustand), zum Einband und beigebundenen Werken vor. Die Beschreibungen der Inkunabeln stellen den zweiten Teil der vorliegenden Arbeit dar (2005, S. 97–242), den dritten Teil (S. 243–276) bildet eine erheblich knappere Übersicht über die »spätere Drucküberlieferung des 16. und 17. Jahrhunderts«, wobei die im Untertitel angekündigte »Kollation« der Ausgaben allenfalls in den knappen Angaben zum Textbestand der Drucke (S. 245–249) zu erkennen ist, zu dem aber nähere Ausführungen fehlen.

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Leser, Vorbesitzer
und Verbreitungsgebiet

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Die Materialgrundlage für die Arbeit liefern also im Wesentlichen die 92 Exemplare, die von den sieben Ausgaben des 15. Jahrhunderts heute noch nachweisbar sind. Ihre individuellen Merkmale analysiert Herz im ersten Teil der Arbeit (S. 1–95) unter der etwas irreführenden Überschrift »Historischer Überblick und Wertungsversuch«. Geboten wird vielmehr einleitend eine zusammenfassende Charakterisierung der gedruckten Überlieferung (S. 2–11), dann allgemeinere Erkenntnisse zu »Lesern und Lesenotizen« (S. 11–45), zu den Vorbesitzern und zum »Verbreitungsgebiet der Inkunabelausgaben« (S. 45–59) und daran anschließend Einzelbeobachtungen zu einzelnen Bänden, die die Sammlungsgeschichte bis in das 20. Jahrhundert nachzeichnen.

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Aus der Vielzahl von Einzelbefunden, die in diesem Komplex zusammengetragen werden, möchte Herz Aufschlüsse über den Umgang der Rezipienten mit dem Text und Erkenntnisse zu deren spezifischen Interessen gewinnen. Diese bleiben durchaus im Rahmen des für die Gattung ›Pilgerbericht‹ Erwartbaren:

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Der Tuchersche Reisebericht wurde [...] von einem Leserkreis rezipiert, der die Reise ins Heilige Land nie unternommen [...] hat; er diente als Lektüre über das Heilige Land und die Levante, er wurde verschiedentlich als Andachtsliteratur, Reiseanleitung und landeskundliches Werk verstanden (S. 45).
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Dass keine präziseren Erkenntnisse gewonnen werden können, liegt wohl auch daran, dass Herz die Lesespuren nach der Abfolge des Textes beschreibt, aber die Notizen nicht nach formalen, sprachlichen oder inhaltlichen Kriterien klassifiziert und systematisch analysiert. Nur in den wenigen Fällen, in die Verfasser der Einträge identifizierbar sind (Hartmann Schedel, S. 33 ff., Endres VI. Tucher, S. 41 ff.), werden tragfähigere Erkenntnisse gewonnen. Wie problematisch Herz’ Schlüsse gelegentlich sein können, zeigt zum Beispiel die stillschweigende Annahme, dass Marginalien in lateinischer Sprache auf eine klösterliche Provenienz des Exemplars hindeuten (S. 16, 38, 43) 3 ; dass auch akademisch gebildete Leser nicht-geistlichen Standes (wie Studenten) die Namen der heiligen Stätten in lateinischer Sprache eingetragen haben könnten, wird nicht erwogen, obwohl an anderer Stelle vergleichsweise spärliche Lateinkenntnisse als Ausweis einer humanistischen Bildung angesehen werden (S. 32).

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Auf solidere, wenn auch ziemlich schmale Grundlage kann sich die Analyse der Vorbesitzer stützen. Allerdings weisen lediglich 24 der erhaltenen 92 Exemplare eine identifizierbare Provenienz vor 1530 auf; bei 13 weiteren sind Vorbesitzer aus der Zeit bis 1610 greifbar. Individualprovenienzen und institutioneller Vorbesitz halten sich dabei mit 11 respektive 13 Exemplaren in etwa die Waage. Auch hier sind keine Überraschungen zu verzeichnen: Nürnberger Privatsammler dominieren; unter den Institutionen finden sich (Benediktiner-)Klöster und die Universität Ingolstadt. Das Verbreitungsgebiet der Ausgaben, das anhand der lokalisierbaren Exemplarprovenienzen abzustecken ist, konzentriert sich – ebenfalls erwartungsgemäß – auf den süddeutschen Raum. Deutlich werden die unterschiedlichen Absatzmärkte der Druckoffizinen der Inkunabelzeit: Während Nürnberger Ausgaben vor allem in der Reichsstadt selbst und im fränkischen Raum Käufer fanden, gelangten Exemplare aus Augsburg bis in die Steiermark, Straßburger Drucke bis in die Schweiz.

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Recht disparate Aspekte der Besitzgeschichte behandeln einige kürzere Kapitel. Viele Nürnberger Sammler (S. 61–62) besaßen Tucher-Drucke und befassten sich mit der Druckgeschichte des Reiseberichts (S. 62–64). Die Inkunabeln in Klosterbesitz teilten in der Säkularisation das Schicksal der monastischen Bibliotheken und Sammlungen, die verlagert oder zerstreut wurden (S. 64–69). Besitzwechsel sind bis in die Gegenwart zu verzeichnen (S. 69–70).

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Überlieferungsgemeinschaften
und materielle Befunde

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Da die Tucher-Drucke aufgrund ihres geringen Umfangs häufig in Sammelbänden mit anderen Ausgaben vereinigt wurden, verspricht die Analyse der Mitüberlieferung (S. 70–87) Aufschluss über die Lese-Interessen der Vorbesitzer oder über Vertriebspraktiken der Drucker. 39 derartige Bände aus der Zeit vor 1530 kann Herz analysieren, wobei 17 davon heute aufgelöst sind und nur aus materiellen Befunden oder historischen Beschreibungen rekonstruiert werden konnten. Die enthaltenen Texte weisen dabei zumeist sprachliche und inhaltliche Gemeinsamkeiten auf: deutschsprachige Reiseliteratur dominiert, gelegentlich ergänzt um historische Werke (auch fiktionalen Charakters), religiöse oder didaktische Literatur. Damit ergibt sich ein ähnlicher Befund wie bei den Tucher-Handschriften (vgl. Herz [2002], S. 280–286) und bei anderen Pilgerreiseberichten. 4 Abschließend richtet Herz den Blick auf die Bucheinbände der Tucher-Inkunabeln (S. 87–91) und ihren (farbigen) Buchschmuck (S. 92–93), die gelegentlich ebenfalls Rückschlüsse auf Rezeptionsgebiete erlauben. Für »Preise, Auflagenhöhen, Erscheinungstermine« der Tucherinkunabeln (S. 94–95) fehlen verlässliche Quellen; aus dem Vergleich mit anderen Drucken bietet Herz hierfür Näherungswerte.

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Aufwand und Ertrag

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Insgesamt hinterlässt die materialreiche Arbeit einen eher zwiespältigen Eindruck. Da Tuchers Bericht »der erste zeitgenössische [Reisebericht ist], der im neuen Druckmedium publiziert wurde« (S. XII) – der aufgrund seiner herausragenden Illustrationen berühmtere Bericht des Mainzer Domherrn Bernhard von Breydenbach erschien erst vier Jahre später im Druck – ist eine derartig detaillierte Betrachtung der Inkunabelausgaben zweifellos gerechtfertigt. Herz’ Studie demonstriert allerdings eher die methodischen Möglichkeiten (und Grenzen) der Exemplaranalyse. Problematisch ist insbesondere, dass trotz des sorgfältigen, ja stellenweise allzu peniblen Zusammentragens von Informationen zu jedem einzelnen Druckexemplar die Materialbasis letztlich zu schmal bleibt, um eine statistische Auswertung zu ermöglichen. Damit bestimmen die (manchmal sicher aufgrund von Zufälligkeiten) erhalten gebliebenen und nicht immer repräsentativen Exemplare in zu starkem Maße den Gesamtbefund, zum Beispiel im Hinblick auf das Verbreitungsgebiet der Drucke. Die geringe Datenbasis verleitet zudem gelegentlich zu problematischen Verallgemeinerungen und Zirkelschlüssen im Hinblick auf den Bildungsstand und die gesellschaftliche Stellung der Rezipienten. Auf der anderen Seite bestätigen viele der Einzelergebnisse etablierte Annahmen über die Rezeptionsgeschichte von Pilgerberichten, sind also zwar als Verifikation auf gesicherter Quellengrundlage wertvoll, liefern aber keine grundsätzlich neuen oder überraschenden Erkenntnisse.

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Zwischen dem bei der Beschreibung der Quellen betriebenen Aufwand und dem wissenschaftlichen Ertrag ist also ein Missverhältnis zu konstatieren, zumal die Beschäftigung des Verfassers mit Tuchers Reisebericht nach Ausweis seiner Dissertation bereits auf das Jahr 1991 zurückgeht und schon die Monographie von 2002 einige der nun erneut untersuchten Aspekte thematisierte, wenn auch damals unter Fokussierung auf die Handschriften. Im nun vorgelegten Band hätte man sich eine stärkere Kontrastierung der Ergebnisse zur Rezeption der handschriftlichen und gedruckten Überlieferung gewünscht, anhand derer die funktionale Differenz der beiden Medien, aber auch Überlagerungen (wie im Bereich der Druckabschriften) ersichtlich werden könnten. Inwieweit sich der Text und der Umgang mit ihm im 16. und 17. Jahrhundert veränderte, bleibt ebenfalls unklar. Die spätere Drucküberlieferung wird zwar bibliographisch verzeichnet und knapp beschrieben, aber nicht eigentlich in die rezeptionsgeschichtliche Analyse im ersten Teil der Arbeit einbezogen – eine zwar angesichts der großen Zahl der erhaltenen Exemplare verständliche, aber dennoch bedauerliche Entscheidung, da nicht nachvollziehbar wird, welchen Qualitäten sich das Nachleben des Reiseberichts bis in das späte 17. Jahrhundert verdankt. Interessante Perspektiven hätte hier die Auseinandersetzung mit der Frage erbringen können, welche Zusammenhänge zwischen der Überlieferungsform des Textes (Separatdruck – Einblattdruck – Auszüge – Anthologie) und seiner Rezeption erkennbar sind. 5

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Ein Literaturverzeichnis und zwei Register erschließen den mit 39 Schwarz-Weiß-Abbildungen und einigen Karten ansprechend ausgestatteten Band. Bedauerlich ist jedoch, dass offensichtlich nur eine recht flüchtige Endredaktion erfolgte, denn der Text ist durch eine Vielzahl sprachlicher Unkorrektheiten und Druckfehler entstellt.

 
 

Anmerkungen

Randall Herz: Die ›Reise ins Gelobte Land‹ Hans Tuchers des Älteren (1479–1480). Untersuchungen zur Überlieferung und kritische Edition eines spätmittelalterlichen Reiseberichts. (Wissensliteratur im Mittelalter 38) Wiesbaden: 2002. Vgl. die Rezension der Verfasserin in IASLonline [19.05.2003]: URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/wagner2.html. Datum des Zugriffs: 04.12.2006.   zurück
Eine digitale Reproduktion des Reyßbuch ist verfügbar über die Webseite des Göttinger Digitalisierungszentrums: URL: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/en/index.html.   zurück
Auf dieser Vermutung basiert sogar die Provenienzangabe zum Gothaer Exemplar des Zeninger-Drucks, vgl. S. 125 Nr. 6.   zurück
So S. 85 mit Verweis auf Ernst Bremer: Spätmittelalterliche Reiseliteratur – ein Genre? Überlieferungssymbiosen und Gattungstypologie. In: Xenja von Ertzdorff / Dieter Neukirch (Hg.): Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. (Chloë 13) Amsterdam u.a. 1992, S. 329–355, hier S. 352 – im Literaturverzeichnis auf S. 279 ohne Angabe des Reihentitels und von Seitenzahlen zitiert.   zurück
So zum Beispiel aufgrund in Weiterführung der Studie von Anne Simon: Sigmund Feyerabend’s Das Reyßbuch deß heyligen Lands. A Study in Printing and Literary History. (Wissensliteratur im Mittelalter 32) Wiesbaden 1998.   zurück