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Zwischen produktiver Anverwandlung und skeptischem Argwohn

Eine Göttinger Vortragsreihe untersucht das Verhältnis von Literatur und Naturwissenschaft

  • Norbert Elsner / Werner Frick (Hg.): »Scientia poetica«. Literatur und Naturwissenschaft. Göttingen: Wallstein 2004. 408 S. 66, z.T. farb. Abb. Kartoniert. EUR (D) 19,00.
    ISBN: 3-89244-803-5.
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Kulturelle Grenzüberschreitungen
von Lukrez bis Michael Frayn

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Fast ist er schon zum gelehrten Allgemeingut geworden, der Einspruch gegen C. P. Snows Zwei-Kulturen-These. Dass sich geisteswissenschaftlich-literarische und naturwissenschaftlich-technische Intelligenz verständnislos oder gar ignorant gegenüber stünden, wird so kategorisch, wie dies der Physiker und Romanschriftsteller in seinem berühmten Vortrag von 1959 einst tat, heute niemand mehr behaupten wollen.

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Die Tatsache, dass Snows pessimistischer Warnruf mittlerweile nur noch zitiert wird, um ihm sogleich zu widersprechen, ist nicht zuletzt das Verdienst eines immer noch jungen, aber stetig expandierenden Forschungsfeldes, das sich seit einiger Zeit auch den Mainstream-Weihen höchster Drittmitteltauglichkeit erfreut. Die Rede ist von der Erkundung historischer sowie gegenwärtiger Schnittstellen zwischen ›poiesis‹ und ›scientia‹, der sich auch die vorliegende Aufsatzsammlung, hervorgegangen aus einer Göttinger Ringvorlesung im Wintersemester 2003 / 2004, verschrieben hat.

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Die Beiträge der namhaften, wenn auch ausnahmslos männlichen Autoren, stecken dabei ein denkbar weites thematisches Feld ab: Von der Antike bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, von De rerum natura, dem lateinischen Lehrgedicht des Lukrez aus der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr., bis zu Michael Frayns 1998 uraufgeführten Theaterstück Kopenhagen reicht der Untersuchungszeitraum, in dem gezeigt werden soll, wie nahe sich die beiden scheinbar so gegensätzlichen Wissenskulturen bisweilen kommen können.

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Reimenzyklopädien und physikalische Märchen:
Poetische Wissensvermittlung
in Antike, Mittelalter und Gegenwart

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Bereits der erste, von Ernst Peter Fischer verfasste Aufsatz liefert eine Fülle von Belegen für produktive Schnittstellen im Spannungsfeld von Kunst und Naturforschung. Fischer, der von einem komplementären Verhältnis von literarischer und szientifischer Welterkenntnis ausgeht, nennt unter anderem die Märchen Werner Heisenbergs, die der allgemeinverständlichen Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte dienten, er parallelisiert die zunehmende Abstraktion in Atomphysik und Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts und streift die literarische Rezeption der Quantentheorie bei Wolfgang Koeppen oder Bertolt Brecht.

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Die poetische Behandlung naturwissenschaftlicher Inhalte beginnt jedoch mit der Tradition des Lehrgedichts, die in der Antike ihren Anfang nahm und bis in die Zeit um 1800 – genannt sei Goethes Fragment gebliebene Metamorphose der Pflanzen als vielleicht letzter großer Repräsentant der Gattung – fortlebte. Es ist daher nur folgerichtig, wenn der vorliegende Sammelband der Lehrdichtung des Lukrez, sicherlich eine der bedeutendsten Vertreterinnen des Genres im Altertum, einen eigenen Beitrag widmet, der beschreibt, welch ungeheurer großes Panorama antiken Forschens und Wissens in De rerum natura unter sublimer poetischer Strukturierung vor den Augen des Lesers ausgebreitet wird.

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So beschäftigt sich Lukrez in seinem hexametrischen, sechs Bücher umfassenden Epos Über die Natur nicht allein

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»mit Physik im heutigen Sinne, sondern auch mit Kosmologie, Astronomie, Geographie, Meteorologie sowie mit Grundfragen der Anthropologie, der Psychologie und der Medizin. Der Blick des Dichters erfasst mit dem Atom das Kleinste, mit dem Weltall das Größte; die Analyse reicht von den Uranfängen der Welt bis in die Zukunft, vom primitiven Beginn der Menschheit bis zur höchsten Stufe der Zivilisation«. (S. 39)
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Gleich im Anschluss an diese Ausführungen wendet sich der Vortrag Klaus Grubmüllers der mittelalterlichen Lehrdichtung in ihren vielfältigen Erscheinungsformen zu. Mit dem Renner des belesenen Bamberger Schulmeisters Hugo von Trimberg oder dem Buch von den natürlichen Dingen Konrads von Megenberg weist der Verfasser zunächst auf die einschlägigen Beispiele für volkssprachliche, also an Laien gerichtete Werke hin, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse ihrer Zeit gleich einer »Reim-Enzyklopädie« (S. 53) mehr oder weniger umfangreich ausbreiteten.

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Als bislang vernachlässigtes Medium poetischer Wissensvermittlung beleuchtet Grubmüller allerdings auch die Sangspruchdichtung fahrender weltlicher Autoren im höfischen und städtischen Milieu. Sehr anschaulich wird dabei der rezeptive Charakter dieser im 13. und 14. Jahrhundert weit verbreiteten Form der Lehrdichtung herausgearbeitet. »Sie beschränkt sich auf die Verarbeitung und Weitergabe von Buchwissen über die Welt, in der Regel unter dem Aspekt der Heilssorge« (S. 70). Aus diesem Sachverhalt lassen sich nicht zuletzt die heute größtenteils abwegig, krude und primitiv anmutenden Inhalte der poetischen Laiengelehrsamkeit im Mittelalter erklären. Das augustinisch dominierte Lesen im Buch der Natur verzichtete auf empirische Verfahren der Welterkenntnis und vertraute stattdessen auf die Autorität der Überlieferung – für die mittelalterliche Naturwissenschaft galt mithin: Wahr ist, was geschrieben steht.

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Verzweiflung an der Erkenntnis, Kritik der Empirie
und Verachtung für den akademischen Betrieb –
die Literatur als Gegnerin der Naturwissenschaften

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Trotz aller fruchtbaren Querverbindungen, Gemeinsamkeiten und Schnittmengen sollte man jedoch die trennenden Elemente – Dietrich von Engelhardt spricht in diesem Kontext sogar von einer »ontologische[n] Differenz« (S. 228) – im Verhältnis von Literatur und Kunst auf der einen, Naturwissenschaft und Technik auf der anderen Seite nicht übersehen. In seinem Aufsatz über poetische Wissenschaftsskepsis in der Schwellenzeit um 1800 beobachtet Werner Frick dann auch ein »beachtliches Maß an Spannung und Rivalität« (S. 244) zwischen den zwei Kulturen. Mit Recht weist er darauf hin, dass gerade die Literatur »im Chor der wissens- und wissenschaftskritischen Stimmen eine besonders aktive Rolle gespielt hat und vielleicht immer noch spielt« (S. 243), und belegt dies anhand dreier essayistisch gehaltener Fallstudien über Texte von Goethe, Kleist und Büchner.

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Alle diese Autoren können zwar als ausgesprochene Doppelbegabungen auf den Feldern ›scientia‹ und ›poeisis‹ gelten; dennoch werfen sie in ihren Werken immer wieder höchst kritische Blicke auf verschiedene Disziplinen der Naturwissenschaft und ihre jeweiligen akademischen Repräsentanten.

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In diesem Sinne ist etwa die Schülerszene in Goethes Faust, »das durchtriebenste Stück ›Studienberatung‹ das die Weltliteratur aufzuweisen hat« (S. 245), eine glänzende Satire auf den Universitätsbetrieb mit all seinen Ritualen, Prätentionen, Denkvorschriften und Eitelkeiten. Gleichzeitig spiegelt das mephistophelische Interludium in komischer Form aber auch das Leiden Fausts an den arbeitsteiligen akademischen Fakultäten, die seinem Streben nach allumfassender, auf Totalität abzielender Erkenntnis diametral entgegenstehen.

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Ähnliches gilt für Heinrich von Kleist, der – nach anfänglicher, glühender Begeisterung für das Studium der Naturwissenschaften durch die so genannte Kant-Krise im Jahre 1801 in seinen epistemologischen Grundfesten erschüttert – von radikalen Erkenntniszweifeln, aber auch tiefer Verachtung für die spezialisierte Einseitigkeit akademischer Gelehrsamkeit durchdrungen ist.

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Als letztes Beispiel dichterischer Wissenschaftsskepsis diskutiert Frick schließlich die Figur des Doktors aus Georg Büchners Woyzeck, bei der es allerdings »nicht mehr um die faustische Verzweiflung des Nicht-Wissen-Könnens« (S. 269) geht. Vielmehr ist es Büchner, der selbst als Anhänger der zu seiner Zeit aufkommenden Experimentalphysiologie zu gelten hat, über Neuroanatomie habilitierte und eine aussichtsreiche akademische Karriere vor sich sah, mit seiner Dramengestalt um eine wissenschaftsethisch motivierte Kritik an unmoralisch-skrupellosen, ja menschenverachtenden Forschungsmethoden zu tun.

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Die erkenntnistheoretische Distanz zwischen Literatur und Naturwissenschaft betont, freilich aus einer gänzlichen anderen Perspektive, schließlich auch Helmut Koopmann. In einer geistreichen tour d’horizon behandelt er naturwissenschaftliche Spuren in der Erzählkunst der klassischen Moderne und macht dabei vor allem Thomas Manns Zauberberg, Texte von Alfred Döblin, Science-Fiction-Romane der 1920er und 30er Jahre sowie Werke von Robert Musil und Herrmann Broch zum Zentrum seiner Überlegungen.

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In besagten Texten erkennt Koopmann zwar Zeugnisse von unübersehbaren »Annäherungen an Wissenschaftlichkeit« (S. 358), die sich nicht selten in einem szientifischen, manchmal gar experimentalphysikalischen Gestus des Erzählens manifestieren, stellt aber gleichzeitig große Vorbehalte der einzelnen Autoren gegenüber der naturwissenschaftlichen Sicht des menschlichen Lebens fest.

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Dies gilt beispielsweise für den Mann ohne Eigenschaften, der – wie Koopmann konzediert – in seinem Insistieren auf die Valenz des Möglichen im Angesicht einer bloß hypothetischen Wirklichkeit an vergleichbare physikalische Einsichten der Zeit, etwa Relativitäts- oder Quantentheorie, erinnern mag. Der im Roman angedeutete utopische »andere Zustand« lässt sich mit dem Instrumentarium einer empirisch-positivistisch verfahrenden Naturwissenschaft jedoch nicht beschreiben, geschweige denn erfassen. Es erscheint daher nur konsequent, wenn Musil die Frage nach fruchtbaren Grenzüberschreitungen zwischen Science und Fiction in seinem Text explizit verneint.

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Nicht viel anders verhält es sich mit Hermann Broch. Einerseits lässt sein Werk eine intensive Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theoremen der Physik erkennen, andererseits bezweifelt der Autor in seinen ästhetischen Schriften, »dass naturwissenschaftliche Suche zu wahrer Erkenntnis führe, und betont, dass alle Weltbilder, auch das naturwissenschaftliche, Teilweltbilder seien, die sich allenfalls in einem von ihm so genannten polyhistorischen Roman vereinigen ließen« (S. 372). An die Stelle szientifischer Deutungsmuster setzt Bloch –und nicht nur er – infolgedessen dezidiert anti-empirische, ganz und gar metaphysische Verfahren zur Erkundung der conditio humana: Mythos und Traum.

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»So darf man denn sagen, dass die Romane der klassischen Moderne das Gebiet der Naturwissenschaften am Ende doch wieder verlassen haben« (S. 373), resümiert Koopmann und schließt mit der vielleicht etwas einseitigen These, dass die von ihm untersuchte Literatur der 20er und 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts die naturwissenschaftlichen Angebote zur Lösung des Geheimnisses des menschlichen Lebens nur oberflächlich rezipiert habe.

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Fazit

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Bei allem skeptischen Argwohn, mit dem die Naturwissenschaften spätestens seit ihrer großen Blütezeit im 19. Jahrhundert von der Literatur beäugt zu werden pflegen – in jüngster Zeit, insbesondere in der deutschsprachigen Lyrik der letzten Jahre (man denke nur an die Gedichte Hans Magnus Enzensbergers oder Durs Grünbeins) scheinen die kreativen Anverwandlungsprozesse zwischen den zwei Kulturen doch wieder zu überwiegen. Auch wenn diese neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Literatur keinen Eingang in die hier besprochene Vortragsreihe gefunden haben, ändert dies nichts am Handbuchcharakter der Aufsatzsammlung, in der viele der kanonischen Texte, wichtigen Stationen und entscheidenden Kristallisationspunkte im Verhältnis von Dichtung und Naturwissenschaften versammelt sind.

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Kritisch zu vermerken bleibt einzig, dass ein Großteil der Aufsätze über den bisherigen Forschungsstand nicht hinausgeht, sich in ausufernden Referaten von Autorbiographien und Werkinhalten verliert und nur vereinzelt neue Fragestellungen bzw. innovative Hypothesen entwickelt. So aber könnte der vorliegende Band auch für den literaturwissenschaftlich interessierten Laien attraktiv werden; der günstige Ladenpreis, die reiche Illustration des aufwändig gestalteten Werkes sowie die prätentionslose, von jeglichem Jargon freie Sprache der Vortragenden tun in dieser Hinsicht ein Übriges. Vielleicht gelingt es dem umfangreichen Kompendium auf diese Weise ja, dazu beizutragen, dass eine weitere scheinbar unüberbrückbare Kluft halbwegs passierbar gemacht werden kann: die zwischen Literaturwissenschaft und Öffentlichkeit.